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Alessandro Baricco: "Die Barbaren. Über die Mutation der Kultur"
Hollywood-Weine sind doch nicht das Ende der Menschheit

Die Welt des Denkens und der Literatur hat sich durch das Internet grundlegend verändert. Für einige stehen die Barbaren schon vor der Tür; die Kultur ist am Ende. Der italienische Autor Alessandro Baricco argumentiert jedoch, dass jeder Epochenwandel auch sein Gutes habe.

Von Ulrich Rüdenauer | 14.09.2018
    Alessandro Baricco: "Die Barbaren. Über die Mutation der Kultur"
    Nicht jeder Epochenwandel bedeutet das Ende der Kultur (Buchcover: Hoffmann und Campe / imago / Nanette Hoogslag)
    Es hat eine gewisse Ironie, dass sich Alessandro Baricco in seinem neuen Buch mit der Invasion der modernen Barbaren und der Mutation der Kultur beschäftigt. Seinen kommerziell erfolgreichen Romanen wurde nämlich häufig der Vorwurf gemacht, an der Oberfläche entlang zu flanieren und sprachlich ein bisschen gefällig zu sein. Also durchaus den kulturellen Umbruch zu befördern, den er nun diagnostiziert. Aber kann man überhaupt von einem "neuen Buch" sprechen? "Die Barbaren", so der Titel und die Zentralmetapher, setzt sich aus einer groß aufgemachten Artikelserie für die italienische Tageszeitung "La Repubblica" zusammen, und die ist bereits vor zwölf Jahren erschienen. Zwölf Jahre! Das sind, wenn es um die Veränderung unserer Kultur geht, ungefähr 120 Digitalzeitalter-Jahre. Umso erstaunlicher, dass diese mit leichter Hand geschriebene Feuilleton-Serie ein paar Thesen und Ideen enthält, die durchaus über den Tag hinaus bedenkenswert sind.
    Verlust der bildungsbürgerlichen Herrlichkeit
    Der mediale Tausendsassa Baricco, er ist Romanautor, Essayist, Musikkritiker, Literaturerklärer, Fernsehmoderator, Drehbuchautor, analysiert in seinem Essay einen Wandel, der längst begonnen hat und dessen Folgen noch unabsehbar sind. Er versucht zu fassen, was viele in einem klassischen geistigen Umfeld aufgewachsene Menschen als Apokalypse begreifen: Dass die Orte der Kultur von "Räuberbanden" überrannt werden und nicht mehr viel von der einstigen bildungsbürgerlichen Herrlichkeit übrig bleibt.
    "Gewöhnlich kämpft man um die Kontrolle strategischer Punkte auf der Landkarte. Hier aber scheinen die Angreifer etwas viel Radikaleres, Grundlegenderes zu tun: Sie verändern die Landkarte. Vielleicht haben sie sie sogar schon verändert. So muss es in den seligen Zeiten gewesen sein, als zum Beispiel die Aufklärung entstand, oder in den Tagen, in denen die ganze Welt plötzlich die Romantik in sich entdeckte. Das waren keine Truppenverschiebungen und auch keine Söhne, die ihre Väter umbrachten. Es waren Mutanten, die eine Landschaft durch eine andere ersetzten und dort ihre Lebenswelt gründeten."
    "Hollywood-Weine" – der Anfang vom Ende
    Zunächst beschreibt Baricco einige der kulturellen Felder, auf denen die Barbaren – also die Anderen, die Fremden – gewütet und die sie geplündert haben: Wein, Fußball und Buchbranche. Der Mikrokosmos des Weins scheint sehr geeignet zu sein, den Wandel zu illustrieren: Über einen langen Zeitraum hinweg hatte sich vor allem in Frankreich und Italien eine önologische Könner- und Kennerschaft herausgebildet. Der Reichtum, die Tiefe und Komplexität des Weins führten zu einer Verfeinerung des Geschmacks und des Beschreibungsinstrumentariums. Dann kamen die Amerikaner und haben ihre, so der Begriff Bariccos "Hollywood-Weine" auf den Markt geworfen. Bildung und Tradition spielten fortan keine Rolle mehr. Es ging stattdessen um Verflachung und Massentauglichkeit, und die Bewertung eines Weins wurde in Form von Schulnoten vorgenommen. Einen Verlust der Seele, nennt Baricco diese Entwicklung. Das also sind die Methoden, an denen die Barbaren sichtbar werden:
    "intensive Kommerzialisierung, moderne Sprache, Anpassung ans amerikanische Vorbild, Entscheidung für Spektakularität, technologische Neuerung, Kampf zwischen der alten und der neuen Macht."
    Google ist die Hauptstadt der Barbaren
    Das intellektuelle Zentrum des Umbruchs macht er in Google aus, jener Suchmaschine, die unsere seit Aufklärung und Romantik erlernte Form der Aneignung von Wissen, Kunst und Welt überhaupt radikal umkehrt. Google sei das Feldlager, die Hauptstadt der Barbaren, hier komme man dem Prinzip der neuen Ordnung nahe: Bei Google gehe es um Verlinkung, um eine Sprache, die von den meisten Menschen verstanden werde. Wichtig sei das, was am häufigsten erwähnt wird und am weiträumigsten vernetzt ist. Wahrheit werde gegen eine Kommunikationsquote eingetauscht. Wissen, so die Parole der Barbarei, muss in Bewegung sein, man soll leicht zwischen den Orten hin- und hersurfen können. Erfahrung findet sich nur mehr an der Oberfläche, ohne Widerhaken. Wo einmal Vertiefung, Anstrengung, Vervollkommnung als Ideal vorgegeben waren, stehen nun Sequenzen und Verkettungen. Vielleicht, so räumt Baricco ein, bewahre gerade dieses oberflächliche Surfen und die stetige Bewegung vor Absolutheit und Ideologie. Ein tiefes Misstrauen gegenüber all dem, was tief verwurzelt ist und sich deshalb dem Mythos annähere, finde in der neuen Weltwahrnehmung Ausdruck.
    "Für die Barbaren ist eine Idee kein fest umrissener Gegenstand mehr, sondern eine Bahn, eine Abfolge von Übergängen, eine Zusammenstellung aus unterschiedlichen Materialien. Es ist, als hätte der SINN, der jahrhundertelang an ein Ideal von Dauer, Festigkeit und Vollendung gebunden war, sich eine andere Wohnstatt gesucht und sich dabei in eine Form aufgelöst, die eher Bewegung, Reise, in die Länge gezogene Struktur ist. Zu fragen, was ein Ding sei, bedeutet, zu fragen, welchen Weg es außerhalb von sich selbst zurückgelegt hat."
    Weshalb für die Barbaren Bücher beispielsweise nur dann noch von Belang sind, wenn sie auf etwas außerhalb Liegendes verweisen, auf Bilder, Filme, Musik. Auf andere Zusammenhänge und andere Sprachen. Wie die Menschen am Übergang zur Romantik, stünden nun auch wir an einer Epochenscheide.
    Ertrinken oder mitschwimmen?
    Baricco bemüht die Tierwelt, um diesen Wandel metaphorisch zu fassen: Aus Säugetieren werden Fische, die sich ganz anders durch die Welt bewegen und auf andere Weise atmen. Wir alle, so Baricco, steckten inmitten dieser Metamorphose, wir sind Amphibien, halb noch an Land, halb schon im Wasser. Mutanten, die ausnahmslos, mehr oder weniger, zwischen Vergangenheit und Zukunft stehen.
    Das Verblüffende an Bariccos Buch ist nach all den kulturkritisch aufgeladenen Gegenwartsbeobachtungen, dass er diese Mutation gar nicht ablehnt oder fürchtet, sondern als etwas für kulturelle Evolution Charakteristisches betrachtet: Als etwa Beethovens "Neunte Sinfonie" ihre Uraufführung feierte, hätten die Zeitgenossen das mit Unverständnis und Dünkel rezipiert. Heutzutage werde ganz ähnlich auf das Neue reagiert.
    Schon Beethoven polarisierte die Gemüter
    Auch Beethoven, so der Musikhistoriker Baricco, wurde vorgeworfen, ein aufreizendes Spektakel zu inszenieren, er war mit einem Bein eben schon in einer anderen, gerade erst entstehenden Zeit. Baricco möchte auf der Seite des Fortschritts stehen. Umkehren ließe sich die Entwicklung ohnehin nicht. Umso wichtiger sei es, die zukünftigen Wahrnehmungs- und Umgangsformen mitzugestalten. Noch scheint es also denkbar, lieb gewonnene Überbleibsel der alten in die neue Kultur hinüberzuretten.
    "Jeder von uns ist dort, wo alle sind, am einzigen Ort, den es gibt, mitten im Strom der Mutation, wo wir das, was wir kennen, Kultur nennen, und das, was noch keinen Namen hat, Barbarei. Im Unterschied zu anderen denke ich, dass es ein wunderbarer Ort ist."
    Man kann sich fragen, ob es wirklich ein wunderbarer Ort ist. Und ob der Wandel formbar ist angesichts der Konzerne, die ihn betreiben. Ob man tatsächlich bereits mit Kiemen atmen kann, während man noch auf dem Land zu Hause ist, sprich eine historische Erfahrung in sich trägt, eher in der Tiefe wurzelt und nicht elegant und leicht von Oberflächenreiz zu Oberflächenreiz gleitet wie es die nachfolgenden Generationen bereits tun. Die Pointe von Bariccos Buch ist deshalb durchaus überraschend: Nach der trüben Diagnose der verschiedenen Felder, auf denen die Barbaren toben, hätte man kaum eine so affirmative Haltung erwartet. Ist das Pragmatismus? Die Einsicht, dass der Lauf der Dinge sich nicht aufhalten lässt? Oder die Erkenntnis, dass ein Kulturwandel immer die Anmutung einer zerstörerischen Unkultur hat, letztlich aber nur etwas Neues darstellt, einen Aufbruch? Die Zwischenzeit also als glücklicher, höchst dynamischer Zustand: Jedenfalls ist Bariccos auf den Spuren Walter Benjamins wandelnde Gegenwartsanalyse nicht ohne Widersprüche und Reibungspunkte. Darin aber höchst inspirierend.
    Alessandro Baricco: "Die Barbaren. Über die Mutation der Kultur". Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Hoffmann und Campe, Hamburg. 224 Seiten, 20 Euro.