"Wagner hat die Deutungshoheit über seine Werke längst verloren", meint Alex Ross – wenn er sie denn überhaupt jemals hatte. Denn schon zu Lebzeiten haben Philosophen, Künstlerinnen und Künstler von Wagner Besitz ergriffen und in völlig verschiedene Welten überführt. Genau das mache für ihn Ross die besondere Spannung aus: die Diskrepanz zwischen Wagners Vorstellungen und der späteren Rezeption und Interpretation.
Wagnerism – Wagnerismus heißt das Buch im Original, und trifft somit den Kern des Buches besser als die deutsche Übersetzung. Denn es geht nicht nur um die Welt nach Wagner, sondern zunächst natürlich auch um seinen Einfluß auf Zeitgenossen.
Wagnerism – Wagnerismus heißt das Buch im Original, und trifft somit den Kern des Buches besser als die deutsche Übersetzung. Denn es geht nicht nur um die Welt nach Wagner, sondern zunächst natürlich auch um seinen Einfluß auf Zeitgenossen.
Wagners pragmatischer Umgang mit Lob
Ausführlich geht Ross auf Bekanntes ein – Nietzsches Bewunderung und spätere Ablehnung von Wagner – aber viel interessanter wird es, wie jenseits von Deutschland Ideen und Werke aufgenommen wurden. In Frankreich etwa, einem wahren Nest von "Wagneristes" - mit Charles Baudelaire an der Spitze.
"Für Nietzsche ist Wagner der Inbegriff einer dekadenten Kultur, die es zu überwinden galt. Für Baudelaire ist Dekadenz ein Ort des Widerstands, eine geheime Kraftquelle. Wagner war modern, er war dekadent und er war gefährlich."
Die Ablehnung der Pariser, die den jungen Komponisten so sehr geschmerzt wie erbost hatte, war umgeschlagen, zumindest in den Künstlerkreisen. Und dass man ihn und seine Anhänger als "musikalische Terroristen" bezeichnete, machte die Sache für den revolutionslustigen Wagner nur noch besser.
"Für Nietzsche ist Wagner der Inbegriff einer dekadenten Kultur, die es zu überwinden galt. Für Baudelaire ist Dekadenz ein Ort des Widerstands, eine geheime Kraftquelle. Wagner war modern, er war dekadent und er war gefährlich."
Die Ablehnung der Pariser, die den jungen Komponisten so sehr geschmerzt wie erbost hatte, war umgeschlagen, zumindest in den Künstlerkreisen. Und dass man ihn und seine Anhänger als "musikalische Terroristen" bezeichnete, machte die Sache für den revolutionslustigen Wagner nur noch besser.
Wagners Musik "ein ästhetisches Kriegsgebiet"
Auch wenn die Interpretation des Tannhäuser durch Baudelaire der eigentlichen Intention des Komponisten entgegenläuft: Baudelaire beschrieb in einem Essay etwa das Treiben im als "das Überschäumen einer energischen Natur, eine zügellose, ungeheure Liebe, auf die Höhe einer satanischen Religion erhoben". Alex Ross:
"Wagner, der ja eigentlich die Erlösung durch heilig-geweihte Liebe propagierte, reagiert auf den Essay Baudelaires allerdings begeistert – für Alex Ross ein Zeichen dafür, wie pragmatisch er im Umgang mit Lob agierte. Er wusste, dass seine Unsterblichkeit, der Ruf seines Werkes durch diese vielfältigen Interpretationen nur gedeihen kann."
Und das Feld der Interpretationsmöglichkeiten ist unendlich: Nationalisten und Republikaner, Revolutionäre und Monarchen, Avantgardisten oder Traditionalisten: Wagner war und ist für alle da.
"Wagner wurde zum kulturellen und politischen Unterbewusstsein der Moderne – ein ästhetisches Kriegsgebiet, in dem die westliche Welt mit ihren krassen Widersprüchen kämpfte, mit ihrer Sehnsucht nach Schöpfung und Zerstörung, mit ihrem Hang zu Schönheit und Gewalt."
Alex Ross belegt dies mit einer Fülle, gelegentlich Überfülle an Beispielen. Dieses Buch gleicht stellenweise einer Enzyklopädie und nicht jeder Exkurs durch das Werk weniger bekannter Künstlerinnen und Künstler ist gleichermaßen lohnenswert.
Herausragend wird es immer dann, wenn anhand eines Werkes der konkrete Einfluß Wagners sichtbar gemacht wird, wie etwa an "Ulysses" von James Joyce. Alex Ross:
"Man erkennt die Figur des Odysseus, man erkennt die Legende vom "wandernden Juden" hinter der Figur von Leopold Bloom, und natürlich sehen wir hier die Auswirkungen von Wagners Antisemitismus und wie spätere Künstler darauf reagierten. Joyce interpretiert diese Legende in "Ulysses" auf viel positivere Weise. Ich denke, der "Fliegende Holländer" ist auch ein Hinweis auf viele Punkte im ‚Ulysses‘."
Es ist also eine Verdoppelung von altem Mythos und Moderne. Das hat Joyce zweifellos von Wagner, man kann sehen, wie er Wagners Schrift liest und neben einigen dieser Ideen an den Rändern Häkchen setzt, aber er verkehrt sie in etwas anderes."
"Wagner wurde zum kulturellen und politischen Unterbewusstsein der Moderne – ein ästhetisches Kriegsgebiet, in dem die westliche Welt mit ihren krassen Widersprüchen kämpfte, mit ihrer Sehnsucht nach Schöpfung und Zerstörung, mit ihrem Hang zu Schönheit und Gewalt."
Alex Ross belegt dies mit einer Fülle, gelegentlich Überfülle an Beispielen. Dieses Buch gleicht stellenweise einer Enzyklopädie und nicht jeder Exkurs durch das Werk weniger bekannter Künstlerinnen und Künstler ist gleichermaßen lohnenswert.
Herausragend wird es immer dann, wenn anhand eines Werkes der konkrete Einfluß Wagners sichtbar gemacht wird, wie etwa an "Ulysses" von James Joyce. Alex Ross:
"Man erkennt die Figur des Odysseus, man erkennt die Legende vom "wandernden Juden" hinter der Figur von Leopold Bloom, und natürlich sehen wir hier die Auswirkungen von Wagners Antisemitismus und wie spätere Künstler darauf reagierten. Joyce interpretiert diese Legende in "Ulysses" auf viel positivere Weise. Ich denke, der "Fliegende Holländer" ist auch ein Hinweis auf viele Punkte im ‚Ulysses‘."
Es ist also eine Verdoppelung von altem Mythos und Moderne. Das hat Joyce zweifellos von Wagner, man kann sehen, wie er Wagners Schrift liest und neben einigen dieser Ideen an den Rändern Häkchen setzt, aber er verkehrt sie in etwas anderes."
Wagners Musik kann jedem gehören
Viele Künstler bewunderten Wagners Musik, auch wenn sie seine Ideen ablehnten, ablehnen mussten: Der Zionist Theodor Herzl etwa, oder der schwarze Schriftsteller W.E.B du Bois – beides glühende Wagnerianer. Herzls einzige Erholung während er an seinem Buch "Der Judenstaat" schrieb, war ausgerechnet Wagner, am liebsten Tannhäuser; während Du Bois in "The Souls oh Black Folks" Lohengrin als Soundtrack einer utopischen Welt ohne Rassenunterschiede wählt.
Diese Zwiespälte legt Ross eindrucksvoll frei, und das Gute ist: Er hält keine Lösung parat. Wagners Werk kann jedem gehören, ganz unabhängig von Wagners eigener Identität und seinen rassistischen Vorurteilen.
Natürlich spart Ross auch das düstere Kapitel der Wagnerverehrung durch Hitler nicht aus – interessant an dieser Stelle allerdings: Auch die Bolschewiki nutzten Wagner für ihre Zwecke, bei Lenins Begräbnis zum Beispiel wurde der Trauermarsch aus "Siegfried" gespielt.
"Die Welt nach Wagner" ist ein Buch über den Einfluß eines Musikers auf Nicht-Musiker: Von den englischen Präraffaeliten über Kandinsky bis hin zu Anselm Kiefer; von Charlie Chaplin bis Stanley Kubrick, von Nietzsche bis zu heutigen White Supremacists.
Jedes Kapitel für sich bietet eine Überfülle an Informationen, aber je weiter das Buch fortschreitet, desto mehr fühlt man sich erschlagen. Nicht zuletzt, weil Ross zu Sprunghaftigkeit neigt: Man merkt die Absicht, verschiedene Fäden zusammenzuführen, und wird verwirrt.
Diese Zwiespälte legt Ross eindrucksvoll frei, und das Gute ist: Er hält keine Lösung parat. Wagners Werk kann jedem gehören, ganz unabhängig von Wagners eigener Identität und seinen rassistischen Vorurteilen.
Natürlich spart Ross auch das düstere Kapitel der Wagnerverehrung durch Hitler nicht aus – interessant an dieser Stelle allerdings: Auch die Bolschewiki nutzten Wagner für ihre Zwecke, bei Lenins Begräbnis zum Beispiel wurde der Trauermarsch aus "Siegfried" gespielt.
"Die Welt nach Wagner" ist ein Buch über den Einfluß eines Musikers auf Nicht-Musiker: Von den englischen Präraffaeliten über Kandinsky bis hin zu Anselm Kiefer; von Charlie Chaplin bis Stanley Kubrick, von Nietzsche bis zu heutigen White Supremacists.
Jedes Kapitel für sich bietet eine Überfülle an Informationen, aber je weiter das Buch fortschreitet, desto mehr fühlt man sich erschlagen. Nicht zuletzt, weil Ross zu Sprunghaftigkeit neigt: Man merkt die Absicht, verschiedene Fäden zusammenzuführen, und wird verwirrt.
Aber vielleicht ist das bei einem Stoff wie diesem nicht anders möglich: Denn kein anderer Künstler übte durch sein musikalisches und schriftliches Werk eine – wie auch immer geartete - Faszination aus wie Richard Wagner. Wie tiefgreifend sein Einfluß auf Literaten, Maler, Filmemacher war und ist, zeigt Alex Ross eindrucksvoll auf. Und auch, dass wir noch längst nicht mit ihm fertig sind.
"Das Faszinierende an Wagner ist: Er tritt nie in den Hintergrund. Er wirkt immer präsent, in gewisser Weise wie eine lebende Figur. Er bleibt widersprüchlich, und es gibt eine Art unkontrollierte Energie, die immer wieder an die Oberfläche kommt und immer wieder radikal neu interpretiert wird. Wagner ist eine Figur, die sich weigert, in der Geschichte zu verschwinden - sie bleibt uns als Frage bis heute erhalten."
"Das Faszinierende an Wagner ist: Er tritt nie in den Hintergrund. Er wirkt immer präsent, in gewisser Weise wie eine lebende Figur. Er bleibt widersprüchlich, und es gibt eine Art unkontrollierte Energie, die immer wieder an die Oberfläche kommt und immer wieder radikal neu interpretiert wird. Wagner ist eine Figur, die sich weigert, in der Geschichte zu verschwinden - sie bleibt uns als Frage bis heute erhalten."
Alex Ross: "Die Welt nach Wagner. Ein deutscher Künstler und sein Einfluss auf die Moderne"
Übersetzt von Gloria Buschor und Günter Kotzor
Rohwohlt Verlag
912 Seiten, 40 Euro
Übersetzt von Gloria Buschor und Günter Kotzor
Rohwohlt Verlag
912 Seiten, 40 Euro