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Alkoholsucht am Arbeitsplatz
Mehr als bloß ein Schluck

Laut Experten sind etwa fünf Prozent der deutschen Arbeitnehmer alkoholkrank. Doch die Scham über das Thema zu sprechen ist groß. Dabei sind Arbeitgeber zum Helfen verpflichtet und angestellte Suchtkranke besser beraten, offen damit umzugehen – nur so schützen sie ihren Job.

Von Catalina Schröder | 17.06.2019
Der Schatten einer Rotweinflasche und eines Rotweinglases auf einer Wand.
Die volkswirtschaftlichen Kosten durch Alkoholismus am Arbeitsplatz werden auf rund 40 Milliarden Euro geschätzt (imago / McPhoto)
"Es gab zum Beispiel schlimme Tage, da wusste ich: Da werde ich zwei bis drei Flaschen trinken. Dann bin ich aber nicht auf Arbeit gegangen, sondern hab mich krankschreiben lassen. Und an Tagen, an denen ich getrunken habe und auf Arbeit gegangen bin, war es schon eine Flasche Weißwein morgens, bevor ich los bin. Und dann bin ich auf Arbeit, und um den Pegel zu halten, habe ich mittags dann zwei Piccolo-Flaschen Sekt getrunken."
Vlada Mättig ist 33 Jahre alt und passt überhaupt nicht in das Bild, das viele Menschen von Alkoholikern oder ehemaligen Alkoholikern im Kopf haben. Mättig wirkt extrem gepflegt: lange schwarze Bluse zur schwarzen Hose, Haare beinahe jungenhaft kurz. In der U-Bahn würde Vlada Mättig zu den wenigen Menschen gehören, die wegen ihres freundlichen Lachens auffallen – aber nicht, weil der Alkohol erkennbare Spuren bei ihr hinterlassen hätte. Dabei ist Mättig erst seit etwas mehr als anderthalb Jahren trockene Alkoholikerin. Acht bis zehn Jahre lang war sie alkoholabhängig. Ganz genau kann sie das selbst nicht mehr sagen:
"Also, das war ein schleichender Prozess. Das geht ja nicht von heute auf morgen, und man sagt sich: ok, ab jetzt bin ich abhängig. Mir wurde in der Familie die Strategie des Gebrauchs von Alkohol als, in Anführungsstrichen, Heilmittel auch ein bisschen vorgelebt. Es wurde auch, ja, nicht superviel in meiner Familie getrunken, aber schon häufig.
Ich glaube, ich hatte immer das Gefühl, dass ich nicht richtig bin, hatte auch mit Selbstzweifeln zu kämpfen, hab auch nicht in meinem beruflichen Werdegang und während meines Studiums auch nie das Gefühl gehabt, dass ich etwas mache, was mir wirklich liegt oder Freude bereitet, und ich glaube, ich habe dann über das Feiern, über das Trinken - dann auch später alleine trinken - einfach versucht, diese Unzufriedenheit zu ertränken. Und es wurde dann immer mehr und immer mehr.
Und der Moment, an dem ich wusste, dass ich definitiv abhängig bin, war, als ich morgens aufgestanden bin und morgens schon was brauchte. Also dass dieser Suchtdruck so groß war, und dass ich dann tatsächlich nicht mal mehr ein Glas halten konnte, ohne dass es zittert."
Vlada Mättig ist seit anderthalb Jahren trockene Alkoholikerin
Vlada Mättig ist seit anderthalb Jahren trockene Alkoholikerin (PRIVAT)
So ging es ihr während der letzten anderthalb Jahre ihrer Sucht. Vlada Mättig arbeitete in dieser Zeit zuerst als Assistentin in einer Wirtschaftskanzlei und organisierte später Fotoshootings in einer Modelagentur. Anfangs trank sie hauptsächlich Weißwein, später dann auch Wodka oder Whisky. Ihre Kollegen merkten davon nichts, erzählt Mättig.
"Ich habe nochmal Rücksprache gehalten - und es ist nicht aufgefallen. Ich habe mir zum Beispiel in den Mittagspausen etwas zu essen geholt, und habe dann noch zwei Pikkoloflaschen Sekt gehabt und bin dann auf Toilette gegangen oder war im Gang wieder zurück zur Agentur, und habe da die Flaschen geext, und habe mich dann wieder hingesetzt und weitergearbeitet. Ja, ich war alkoholisiert auf Arbeit, aber ich habe mich noch normal verhalten."
Etwa fünf Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland sind nach Schätzungen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen alkoholabhängig. Diese Zahl ist seit Jahren konstant. Wissenschaftler der Universität Hamburg berechnen alle vier Jahre anhand von Krankenkassendaten, welche Kosten dadurch für die Allgemeinheit entstehen: Für Unfälle, die durch Alkohol passieren, für die Behandlung von Suchtkranken, und für die die Fehltage und Produktivitätsausfälle, die Alkoholkranke in ihrem Job verursachen.
Von 2011 bis 2015 stiegen diese Kosten von 26,7 Milliarden Euro auf 39,9 Milliarden Euro. Die Zahl der suchtkranken Arbeitnehmer ist zwar in etwa konstant geblieben; die deutlich höhere Summe kommt aber dadurch zustande, dass die Kosten für Behandlungen und die Arbeitslöhne in diesem Zeitraum gestiegen sind.
Viele Alkoholkranke bleiben wie Vlada Mättig jahrelang unerkannt. Mättig achtete beispielsweise immer darauf, genügend Abstand zu ihren Kollegen zu halten, damit niemand ihre Fahne roch. Wäre sie damit aufgefallen, hätte ihr Arbeitgeber sofort handeln müssen.
"Sie müssen was tun. Der Arbeitgeber muss sofort dafür sorgen, dass derjenige den Arbeitsplatz verlässt, aus versicherungsrechtlichen Gründen. Es kann ja immer irgendwas passieren. Dazu muss ich nicht nur auf dem Bau arbeiten, sondern auch im Büro", erklärt Wiebke Wagner, die Leiterin des Suchttherapie-Zentrums Hamburg.
Arbeitgeber müssen alkoholisierte Mitarbeiter nach Hause schicken
Wird ein Angestellter während der Arbeitszeit mit einer Fahne erwischt, muss er das Betriebsgelände sofort verlassen. Das Unternehmen kann ihn jedoch nicht einfach sich selbst überlassen.
"Man darf denjenigen nicht alleine nach Hause schicken. Man muss gucken: Wie kriegt man jemanden weg? Es gibt viele Unternehmen, die haben ein Abkommen mit einem Taxiunternehmen. Die wissen: derjenige muss nach Hause gebracht werden, und er muss bis zur Haustür gebracht werden."
Möglichst schon am nächsten Tag sollte der Vorgesetzte mit dem betroffenen Mitarbeiter über den Vorfall sprechen.
"In der Regel haben viele Große, hier in Hamburg zumindest – ich denke bundesweit – eine Dienstvereinbarung zur Sucht. Dann gibt es einen Stufenplan, dann gibt es erstmal ein Gespräch, wo man denjenigen damit konfrontiert und sagt: Das darf nicht nochmal passieren. Wenn es nochmal passiert, beginnt ein Stufenplan. Dann kann auch angewiesen werden: Du musst dir Hilfe holen, geh zumindest in eine Beratungsstelle. Und diese Stufen gehen immer weiter, bis es dann auch Abmahnungen gibt."
Fällt ein Mitarbeiter immer wieder mit einer Fahne auf und verweigert er die Hilfe, die sein Arbeitgeber anbietet, kann das Unternehmen ihm kündigen. Anders ist die Situation, wenn derjenige seine Sucht eingesteht:
"Wir hier als Beratungsstelle empfehlen den Betroffenen: Sagen Sie, Sie sind suchtkrank. Weil dann greift das Hilfesystem. Wenn du sagst, du hast kein Problem mit einer Suchterkrankung, dann gibt’s wegen fehlender Leistung eine Abmahnung, noch eine Abmahnung. Dann kann ich ganz schnell kündigen. Wenn ich sage: Ich bin suchtkrank, dann habe ich den Schutz von Krankheit. Das muss man dann den Leuten manchmal auch empfehlen, wenn sie immer Angst haben: oh, verliere ich meinen Arbeitsplatz? Nee, in diesem Fall gibt’s da Sicherung."
Wer sein Alkoholproblem zugibt und etwas dagegen unternimmt, dem darf also nicht gekündigt werden. Vor 51 Jahren, am 18. Juni 1968, erkannte das Bundessozialgericht Alkoholsucht als Krankheit an und legte fest, dass Krankenkassen und Rentenversicherungsträger Entzugstherapien bezahlen müssen. Damals war es in vielen Unternehmen aller Branchen gang und gäbe, dass man gemeinsam trank – während der Arbeitszeit und häufig schon ab dem späten Vormittag.
Alkohol während der Arbeitszeit heute weitgehend verpönt
Um Suchtprävention und Aufklärung kümmerten sich die ersten deutschen Betriebe ab den 70er Jahren. Herübergeschwappt war die Debatte um Alkoholmissbrauch aus den USA. Dort waren Prävention und Entzug schon länger ein Thema, weil es nach der Prohibition in den 20er und 30er Jahren ein großes Alkoholproblem in der Mittelschicht gab.
Ab Mitte der 70er bis Mitte der 90er Jahre liefen in vielen deutschen Unternehmen Aufklärungskampagnen. Auch im Straßenverkehr wurden die Alkoholkontrollen strenger. Wer betrunken vom Büro nach Hause fuhr, musste um seinen Führerschein bangen. Beides führte dazu, dass in Betrieben deutlich weniger getrunken wurde. Abgesehen vom Glas Sekt zum Einstand oder dem Feierabendbier ist Alkohol während der Arbeitszeit heute weitgehend verpönt.

Große Unternehmen haben heute häufig eigene Suchtberater oder Betriebsärzte, die Alkoholkranke an Beratungsstellen oder Kliniken vermitteln. Suchtberater Detlev Burkart erlebt oft, dass kleinen Betrieben das Wissen darüber fehlt, wie man einen mutmaßlich alkoholkranken Mitarbeiter auf seine Sucht anspricht. Für eine kleine Firma kann es auch existenzbedrohend sein, wenn ein Angestellter wegen einer Entzugstherapie für längere Zeit ausfällt.
"Nun nehmen wir mal an: ein kleiner Handwerker-Betrieb, zehn Mann. Nun fällt da einer aus und so eine Behandlung dauert gut mal ein Dreivierteljahr – das geht gar nicht. Wie soll der Betrieb da weiterlaufen? Also die haben da große Probleme. Da hat sich vor vielen Jahren hier in Schleswig-Holstein der Handwerker-Suchtfonds gegründet. Da können die kleinen Betriebe Mitglied werden, und dann kriegen die eine Beratung, wenn die selber merken, dass da was los ist, und es wird dann auch organisiert, dass eine Ersatzarbeitskraft kommt, wenn denn tatsächlich einer in die Behandlung muss. Damit der Betrieb nicht bankrottgeht."
Bis sich ein Mitarbeiter in Behandlung begibt, dauert es aber häufig mehrere Jahre. Denn in vielen Fällen merken Kollegen und Vorgesetzte zwar, dass etwas nicht stimmt, rätseln dann aber lange, was los ist. Vlada Mättig weiß heute, dass es auch ihren Kollegen so ging.
"Es ist aufgefallen, dass es mir nicht gut geht.Es ist aufgefallen, dass ich unsicher bin und traurig bin, aber es ist nicht aufgefallen, dass ich Alkoholprobleme habe."
Fünf Männer sitzen in Dortmund an einer Theke und trinken Bier. Von rechts reicht eine Hand ein frisch gezapftes Bier.
Alltag in einer Dortmunder Kneipe 1977 - nach Feierabend erstmal an die Theke (dpa / picture alliance / Klaus Rose)
Ein falsches Bild von Alkoholikern
Suchttherapeutin Wiebke Wagner beschreibt, welche Anzeichen auf ein Alkoholproblem hinweisen können:
"Also es gibt Auffälligkeiten im Arbeitsverhalten. So der Klassiker ist dieser Montag, der berühmte Montag, an dem jemand nicht da ist. Es gibt aber auch viele, die plötzlich immer verschwunden sind. Wo man sich fragt: Wo ist denn Kollege sowieso? Keiner findet den. Und dann ist er plötzlich wieder da und sagt: wieso, ich war doch die ganze Zeit hier. Bestimmte Kollegen müssen immer ganz pünktlich nach Hause. Wenn man sagt – da ist eine Suchterkrankung hinter, müssen die nachtanken. Die trinken nicht auf der Arbeit, aber sie schaffen es dann nicht zu warten, also noch eine Stunde länger oder eine halbe Stunde länger bleiben, das geht oft nicht: ‚Ich muss jetzt Alkohol haben, jetzt kann ich nicht mehr.‘ Und das sind oft Auffälligkeiten, wo man natürlich nicht gleich denkt, da ist eine Suchterkrankung dahinter, sondern das kann ja ein kleines Kind oder sonst was für eine Verpflichtung sein."
Dass Alkoholismus häufig lange nicht auffällt, liegt Wagners Ansicht nach auch daran, dass viele ein falsches Bild von Alkoholikern im Kopf haben:
"Der Alkoholiker ist der an der Bahnhofshaltestelle, der da steht mit seinem Dosenbier, oder der Obdachlose. Aber es ist eben nicht der Chef oder der Lehrer, und es ist auch nicht der Pastor oder die Sozialarbeiterin, die ja jeden Tag zur Arbeit kommen, die ihren Job machen, die ihre Familie haben, die ihr Haus haben und regelmäßig in den Urlaub fahren."

Vlada Mättig rät dazu, im Gespräch mit einem potentiell Suchtkranken genau auf Tonfall und Wortwahl zu achten:
"Ich glaube es ist so wichtig, nicht die Angst zu haben, dass man irgendwie einen Fehler macht, indem man es anspricht. Es ist ja auch so: Der Ton macht die Musik, und ich glaube, wenn man auf jemanden zugeht und sagt, ich mache mir Sorgen, also eher Du-Botschaften vermeidet und sagt: ich habe das Gefühl, dir geht’s nicht gut. Eher so die Hand reicht. Ich glaube auch wenn die andere Person erstmal nicht darauf reagiert oder negativ darauf reagiert – es wird etwas hängenbleiben."
Suchttherapeutin Wiebke Wagner hört immer wieder, dass viele sich nicht trauen, einen vermeintlich Suchtkranken anzusprechen, weil sie der Ansicht sind: Wie viel Alkohol jemand trinkt, ist doch Privatsache.
Symbolfoto zum Thema " Alkohol am Arbeitsplatz ": Ein Mann holt heimlich hinter Aktenordnern eine Flasche Gin hervor.
Laut Experten sind fünf Prozent der deutschen Arbeitnehmer Alkoholiker (picture alliance / Ulrich Baumgarten)
Suchtkranke ansprechen
Aus ihrer Arbeit mit Suchtkranken weiß sie aber, dass sie sich insgeheim oft wünschen, dass jemand ihre Hilflosigkeit bemerkt, ohne sie gleich explizit auf eine mögliche Sucht anzusprechen. Erst kürzlich hat ein Klient sie gefragt:
"‚Warum hat denn nie einer was gesagt? Das hätte mir gefallen, dass auch welche was merken.‘ Das ist auch etwas, was kränkt, dass keinem etwas auffällt. Weil eigentlich ist jemand ja in Not, der zu viel trinkt. Das macht man ja nicht, weil es so toll schmeckt."
Reiner Alkohol wird in Deutschland heute deutlich weniger getrunken als noch in den 80er Jahren: Damals waren es pro Person 15,1 Liter im Jahr. Heute sind es noch 9,6. Trotzdem entspricht das immer noch einer ganzen Badewanne voller alkoholischer Getränke, nämlich insgesamt 135,5 Liter Bier, Wein, Sekt und Spirituosen. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland damit laut OECD im oberen Drittel und gehört zu den sogenannten Hochkonsumentenländern.
Riskant ist Alkoholkonsum übrigens viel schneller, als die meisten glauben: Männer sollten laut Weltgesundheitsorganisation an maximal fünf Tagen pro Woche nicht mehr als 24 Gramm reinen Alkohol zu sich nehmen.
"Das entspricht etwa einem halben Liter Bier oder einem Glas Wein, einem Glas Sekt oder drei kleinen Schnäpsen", erklärt Suchttherapeutin Wiebke Wagner. Frauen können Alkohol unter anderem wegen eines fehlenden Leberenzyms schlechter abbauen und dürfen nur die Hälfte trinken: also maximal 12 Gramm reinen Alkohol am Tag.
Trotz großer Aufklärungskampagnen in den vergangenen Jahrzehnten scheint es für viele Firmen bis heute ein Tabu zu sein, über Alkoholmissbrauch im eigenen Betrieb zu sprechen. Als der Deutschlandfunk mehrere Unternehmen bittet, ihr entsprechendes Hilfsangebot zu schildern, meldet sich nur die Commerzbank zurück. Martin Junge, Leiter des Gesundheitsmanagements der Commerzbank, schreibt:
"Das Wichtigste ist, dass weder Führungskraft noch Kollegen wegschauen. Es ist Aufgabe der Führungskraft, mit dem betroffenen Team-Mitglied zu sprechen. Dieses Gespräch sollte unbedingt in einer vertrauensvollen Atmosphäre stattfinden. Der Mitarbeiter muss sich dabei auch bewusst werden, dass ein weiteres Fehlverhalten Konsequenzen hat."
Darüber hinaus gibt es in der Commerzbank sogenannte betriebliche Suchtkrankenhelfer:
"Das sind Kolleginnen und Kollegen, die aus eigener Erfahrung wissen, wie schwierig es ist, eine Sucht hinter sich zu lassen. Heute haben sie es geschafft und können anderen helfen."
Menschen feiern in Büro, indem sie mit Sekt aus Plastikbechern anstoßen.
Ob Ausstand, Beförderung oder Geburtstag - im Büro gibt es häufig Anlässe, bei denen die Korken knallen (imago images / Westend61)
"Oh, endlich sagt’s mal jemand"
Bei Vlada Mättig war es schließlich ihr Vater, der aussprach, was einige ihrer Freunde und ihre Familie schon vermutet hatten. Denn gegen Ende ihrer Sucht hatte Mättig tagsüber häufig auch im Beisein von Freunden oder Familie getrunken.
"Und das war so der Moment, wo ich dachte: Oh, endlich sagt’s mal jemand. Das war dann der Moment, an dem ich sagen konnte: Das stimmt, ich hab ein Problem und ich weiß nicht, wie ich es lösen soll. Und es macht mir Angst."
Vlada Mättig ging zusammen mit ihrem Vater zum Arzt. Der half ihr dabei, einen Platz in einer Entzugsklinik zu finden. Nach einer dreiwöchigen körperlichen Entgiftung machte Mättig eine Langzeittherapie. Ihr Arbeitgeber – die Modelagentur - bekam davon nichts mit, da Mättig ihren Job kurz zuvor aufgegeben hatte. Sie sollte eine neue Aufgabe übernehmen, mit der sie nicht einverstanden war. Im März 2018 wurde sie nach fast sieben Monaten Therapie aus der Klinik entlassen.
Heute, als trockene Alkoholikerin, ist Mättig der Ansicht, dass Alkohol in Unternehmen oft viel zu selbstverständlich dazugehört.
"In der Kanzlei beispielsweise hatten wir oft Verabschiedungen von irgendjemandem oder Geburtstage, und da war das Glas Sekt präsent oder auch das Feierabendbier. Das würde es mir jetzt schwer machen, und jetzt finde ich es eigentlich auch ein Stück weit absurd, dass überhaupt Alkohol auf Arbeit eine Rolle spielt. Es fällt ja mehr auf, nichts zu trinken als zu trinken."
Über eine Dienstvereinbarung kann jedes Unternehmen Alkoholkonsum auf seinem Gelände untersagen. Ein generelles Alkoholverbot am Arbeitsplatz gibt es in Deutschland aber nicht – auch wenn Suchtberatungsstellen und einzelne Ärzte dies immer mal wieder fordern. Die ehemalige Suchtbeauftragte der deutschen Bundesregierung, Mechthild Dyckmans, erklärte dazu vor einigen Jahren auf einer Pressekonferenz, dass Alkohol in unserer Gesellschaft nun mal dazu gehöre und "aus unserem gesellschaftlichen Leben nicht mehr wegzudenken" sei.
Die Bundesdrogenbeauftragte Marlene Mortler am 30.06.2015 bei der Vorstellung der Ergebnisse zum Alkoholkomsum in Deutschland für 2014.
Die Bundesdrogenbeauftragte Marlene Mortler. (picture alliance / dpa / Stephanie Pilick)
Die aktuelle Drogenbeauftragte Marlene Mortler spricht auch eher in Allgemeinplätzen; etwa zum Start der "Aktionswoche Alkohol" im Mai wurde sie zitiert mit den Worten:
"Arbeiten und Alkohol – das passt nicht zusammen! Auch die Arbeitgeber sind hier gefragt: Schauen Sie genau hin, fragen Sie nach, kümmern Sie sich um Ihre Mitarbeiter!"
Konkreter wollte Mortler nicht werden. Sie wechselt bald als Abgeordnete ins Europaparlament und gibt ihr Amt als Drogenbeauftragte ab.
Dass es hierzulande kein flächendeckendes Alkoholverbot am Arbeitsplatz gibt, dürfte auch an der Macht der deutschen Alkohollobby liegen: Werbung für alkoholische Getränke läuft sogar zur besten Sendezeit.
Suchtberaterin Wiebke Wagner kann keine Berufsgruppe – und auch sonst keine Statusgruppe – nennen, die ihr als besonders abhängig auffällt, mit einer Ausnahme: Sie beobachtet in letzter Zeit, dass vermehrt Angestellte aus Pflegeberufen in die Beratung kommen:
"Da hatten wir in letzter Zeit schon eine Zunahme, weil die Menschen sagen: Mensch, ich bin Altenpfleger geworden oder ich bin Krankenpfleger geworden, weil ich mich um die Menschen kümmern wollte, da komme ich überhaupt nicht mehr zu. Das ist nur noch Fließbandarbeit, und wir sind immer zu wenig und müssen alles gleichzeitig machen, und das, was das früher ausgezeichnet hat, dass ich nochmal mit einem Patienten am Bett sprechen kann, das fällt alles weg. Und das hat schon auch zu einer Zunahme von Sucht auch gerade in helfenden Berufen geführt."
Vlada Mättig sagt, dass sie seit ihrem Entzug und der anschließenden Therapie keinen Schluck Alkohol mehr getrunken hat, obwohl sie immer wieder Situationen erlebt, in denen sie leicht rückfällig werden könnte:
"Ich hatte letztens die Situation, da wurde mir mehrmals etwas angeboten, und dann sag ich ganz klar: Ich bin abhängig. Ich bin trockene Alkoholikerin und ich werde nichts trinken. Und dann schläft erstmal das Gesicht des anderen ein - und das finde ich aber auch tatsächlich manchmal interessant, weil das dann so der Moment ist, wo die Leute denken: Oh, jetzt bin ich aber…, das tut mir leid, das hätte ich nicht gedacht. Dann macht’s das aber auch so komplett klar, dann muss ich mich nicht mehr erklären."
Anm. d. Red.: In einer früheren Version war im Teaser zu lesen, dass jeder fünfte deutsche Arbeitnehmer Schätzungen zufolge alkoholkrank sei. Es sind allerdings fünf Prozent. Diesen Fehler haben wir korrigiert.