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Alle nehmen es stumm hin

In seinem Buch "Die neue Umverteilung" fragt der Historiker Hans-Ulrich Wehler danach, wie sich die Einkommensverhältnisse in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren entwickelt haben. Er diagnostiziert eine Kluft zwischen den reicher gewordenen Reichen und der restlichen Bevölkerung.

Von Conrad Lay | 25.03.2013
    Steigen die Managergehälter weiter in schwindelerregende Höhen? Kann man noch von Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland sprechen? Welche Formen hat die soziale Ungleichheit angenommen? Hans-Ulrich Wehler hat sich mit solchen Fragen schon seit langer Zeit beschäftigt.

    Bereits in seinem Hauptwerk, der fünfbändigen "Deutschen Gesellschaftsgeschichte", ging er ausführlich auf die Sozialstruktur und die soziale Ungleichheit ein. Im Band 5, der die Jahre von 1949 bis 1990 umfasst, stellte er für die ersten 40 Jahre der Bundesrepublik eine hohe "strukturelle Stabilität" fest, ja geradezu ein "starres Ordnungsgefüge".

    In seinem neuen Buch sieht er für die Zeit nach 1990 eine Zäsur, die zu einer "neuen Umverteilung" geführt habe. Der Bielefelder Historiker beginnt sein Buch mit einer sozialwissenschaftlichen Positionsbestimmung: Er sieht sich in der Tradition Max Webers und benutzt dessen Klassenbegriff. Scharf setzt er sich damit von den Thesen der Individualisierung und Pluralisierung des Soziologen Ulrich Beck ab, wonach wir in einer Gesellschaft "jenseits von Ständen und Klassen" lebten. Hans-Ulrich Wehler:

    "Das war eine Modeerscheinung, auch sehr bald im Feuilleton und in der Sprache der politischen Klasse in den späten 80er- und 90er-Jahren. Jetzt ist sozusagen die Härte der sozialen Unterschiede sehr viel deutlicher zutage getreten. Und da bekehren sich auch diejenigen Sozialwissenschaftler, die lange mit Individualisierung und so weiter gespielt haben, wieder zu der älteren Fachsprache."

    Um trotz dieses konventionellen Ansatzes auf der wissenschaftlichen Höhe der Zeit zu bleiben, differenziert Hans-Ulrich Wehler das Klassen- und Schichtenmodell Webers. Er stützt sich dabei auf die Methoden von Pierre Bourdieux, also auf die Merkmale eines "klassenspezifischen Habitus" sowie "feiner Unterschiede":

    "Mit diesen Distinktionsklassen kommt man relativ weit, auch in der Bundesrepublik. Und das Konzept des Habitus, was Bourdieux gebraucht, andere haben es vor ihm auch schon gebraucht, Hegel, Marx, Weber, aber er hat es expliziert. Das hilft einem, die Prägung von Kindesbeinen an aufwärts, durch die Familie, durch die Sprachkompetenz, die einem verliehen wird, durch das Netzwerk, das einem hilft im Vorwärtskommen, da bildet sich ein bestimmter Habitus. Das ist hilfreich, wenn man zum Beispiel erklären will, warum inzwischen 80 Prozent in den Unternehmensvorständen aus Unternehmerfamilien kommen."

    Nicht die Kosten der Wiedervereinigung, auch nicht die Finanzkrise, sondern die Verschärfung der sozialen Ungleichheit sieht Wehler als entscheidenden Einschnitt der deutschen Gesellschaftsgeschichte seit 1990. Seitdem verstehe es die Oberklasse, "ihr Einkommen in einem obszönen Ausmaß zu steigern". Um das Jahr 2000 besaßen die reichsten fünf Prozent der Bevölkerung bereits rund die Hälfte des gesamten Vermögens, die ärmsten 50 Prozent kamen gerade mal auf zwei Prozent. In den vergangenen fünf Jahren verdoppelte sich das private Nettovermögen, die Zuwächse waren allerdings sehr ungleich verteilt.

    "Und wohin ist es gewandert? Im Wesentlichen zu den obersten zehn Prozent. Und die Einkommensschere darunter hat sich weiter geöffnet, kein Wunder, denn wir sind das einzige europäische Land, das in dieser Zeit eine Stagnation der Realeinkommen erlebt hat."

    Während in den ersten vier Jahrzehnten das bundesdeutsche Sozialprodukt ohne eklatante Verletzung von Gerechtigkeitsnormen verteilt worden sei, stellt der Sozialhistoriker inzwischen "die grundsätzliche Frage nach den Legitimationsgrundlagen der deutschen Marktgesellschaft und Demokratie":

    "Was mich aber so sehr irritiert, ist, dass eine Stagnation der Realeinkommen die Gewerkschaften nicht auf die Barrikaden ruft. Dass die Gewerkschaften in den Aufsichtsräten, nicht in den Vorständen, aber in den Aufsichtsräten, wo sie die Hälfte stellen, keine Vertreter haben, die sagen: Jetzt reicht es uns mal bei den Dax-Vorständen, die 1989 500.000 DM verdient haben und dabei ist keiner verhungert. Und jetzt sind sie bei sechs Millionen Euro, das wären also zwölf Millionen DM. Im Verhältnis zu den Arbeitnehmern war das in den 80er-Jahren mal ein Verhältnis im Einkommen von 20 zu eins, jetzt ist es ein Verhältnis von 200 zu eins."

    In den USA beträgt das Verhältnis 300 zu eins. Doch offenbar ist nur die Honorierung, nicht aber die Leistungsfähigkeit der Topverdiener um das über Zehnfache gestiegen, sonst hätte es nicht zu einer schweren Finanzkrise kommen können. Analog zu dem Konzentrationsprozess am oberen Ende der sozialen Skala sieht Wehler die untersten Schichten mehr und mehr abgehängt. Er verweist darauf, dass aufgrund der Bildungsreform vergangener Jahrzehnte zwischenzeitlich die Quote der Arbeiterkinder, die studierten, gestiegen, dann aber wieder gefallen sei. Offenbar wurden die Folgen der Bildungsreform überschätzt.

    "Das Entscheidende ist die Stummheit, mit der wir diese Entwicklung hinnehmen, anstatt mal darüber ohne Vorbehalte offen zu diskutieren und zu überlegen, welche Möglichkeiten der Veränderung haben wir. Da wäre ich sehr gespannt, wenn in dieser Diskussion endlich mal produktive Vorschläge nach oben kämen."

    Deutlich wachsen sieht Wehler die "ethnisch-kulturelle Ungleichheit". Dies ist übrigens ein Aspekt, den er in seiner "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" nur am Rande thematisiert hatte. Der Historiker kritisiert "die fatale Fehlentscheidung der Unternehmen, um jeden Preis auf den Import billiger Arbeitskräfte zu setzen". Die türkischen Frührentner und Arbeitslosen verkörperten ein gewaltiges Zuschussproblem und nicht etwa einen Gewinn für die deutsche Volkswirtschaft.

    Wehler schlägt vor, einen sogenannten "Türkenpfennig" einzuführen, diesmal allerdings nicht - wie vor 500 Jahren - zur Abwehr der Türken, sondern zu ihrer sozialen Integration. Da der Autor jedoch zugleich fordert, die Türkei solle von der EU nicht aufgenommen werden, weiß man nicht so recht, ob damit nicht doch eine Abwehrhaltung verbunden ist.

    Jedenfalls hatte sich sein Argument, eine EU-Aufnahme würde "die Schleusen für eine millionenfache Zuwanderung öffnen", schon bei der Öffnung des Arbeitsmarktes nach Osteuropa als falsch erwiesen, wie das Beispiel Polen sehr deutlich zeigt.

    Insgesamt ist Wehlers Appell, die soziale Hierarchie abzumildern und es nicht bei dem Auseinanderklaffen der Einkommensschere zu belassen, ernst zu nehmen. Seine empirisch eindeutige und fundierte Bilanz der sozialen Ungleichheit ist es wert, im anstehenden Bundestagswahlkampf aufgegriffen zu werden.

    Hans-Ulrich Wehler: "Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland"
    C.H. Beck Verlag, 192 Seiten, 14,95 Euro, ISBN: 978-3-40664-386-6