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"Alles könnte darüber aus den Fugen geraten"

Soforthilfe leisten ist für Ute Braun von der Hilfsorganisation Welthungerhilfe, ehemalige Koordinatorin auf Haiti, das Gebot der Stunde. Angesichts der bereits jetzt desaströsen Lebensbedingungen fürchte sie, dass die Menschen durch das Erdbeben alles verlören.

Ute Braun im Gespräch mit Sandra Schulz | 13.01.2010
    Sandra Schulz: Von einem Jahrhunderterdbeben in Haiti ist in den Nachrichtenagenturen schon die Rede, nach Angaben des US-Instituts für Geophysik das schwerste Beben seit mindestens 100 Jahren, und es hat das ärmste Land Lateinamerikas getroffen. In der Nacht erreichten uns die ersten Eilmeldungen. Noch immer ist die Lage nicht klar. Hunderte Todesopfer befürchten Hilfsorganisationen, vereinzelt ist auch von Tausenden die Rede. Die Bundesregierung hat eine Million Euro Soforthilfe zugesagt.

    Über die Lage in Haiti und die weiteren Konsequenzen wollen wir auch in den kommenden Minuten sprechen. Ute Braun von der Hilfsorganisation Deutsche Welthungerhilfe war Koordinatorin auf Haiti von 2004 bis 2007 und ist mir jetzt in Bonn zugeschaltet. Guten Tag.

    Ute Braun: Schönen guten Tag.

    Schulz: Frau Braun, nach Ihren Informationen, wie ist die Lage?

    Braun: Nach unseren Informationen ist die Lage wirklich desaströs, wie Sie ja auch schon in Ihrem Beitrag sagten. Die Kommunikation ist sehr, sehr schwierig. Es ist überhaupt noch nicht absehbar, welche Schäden, welche Opfer dieses Erdbeben überhaupt gefordert hat und noch fordern wird. Wir sind natürlich in ständigem Kontakt über Satellitentelefon mit unserem Büro in Haiti und Sie können sich vorstellen, dass auch hier in der Welthungerhilfe in Bonn im Moment, ich sage mal, kein Stein auf dem anderen bleibt. Eine Krisensitzung jagt die andere, weil wir natürlich auch so schnell wie möglich jetzt reagieren wollen.

    Schulz: Wie läuft Ihre Hilfe konkret an?

    Braun: Das ist eben Ziel, so schnell wie möglich, auch wenn die Lage noch unübersichtlich ist, aber schon vor Ort zu sein und dann eben auch schnell handeln zu können. So werden bereits heute Abend zwei Mitglieder des Nothilfeteams nach Haiti aufbrechen. Dann ist völlig klar, an Soforthilfe wird gebraucht: Nahrungsmittel, Wasser, Medikamente, Kochgeschirr, sozusagen das übliche Repertoire in dieser Katastrophe. Sie können sich auch vorstellen, dass bei einem Ausmaß dieser Katastrophe die lokalen Märkte sehr schnell abgekauft sein werden. Von daher fangen wir auch schon an zu gucken, wo kriegen wir jetzt die notwendigen Hilfsgüter her. Im Grunde machen wir im Moment alles ein bisschen auf einmal, um wirklich schnell und effektiv dort Soforthilfe leisten zu können.

    Schulz: Haiti ist das ärmste Land Lateinamerikas. Was heißt das Erdbeben für so ein armes Land?

    Braun: Das mag ich mir auch aus meiner Haiti-Kenntnis fast gar nicht bildlich vorstellen, weil die Lebensbedingungen der Menschen dort sind schon desaströs, wie in Ihrem Beitrag ja auch vorkam. 80 Prozent der Menschen leben von zwei Dollar oder weniger als zwei Dollar am Tag. Das wenige, was diese Menschen haben, das ist jetzt sicherlich auch noch weg.

    Was ich aber gerne auch noch mal sagen würde, was uns im Grunde auch schockiert an dieser Nachricht, an diesem Erdbeben gerade in und um Port-au-Prince, das hat ja auch Symbolcharakter. Es ist nicht nur, ich sage jetzt mal, irgendeine Katastrophe mal wieder in Haiti, sondern es betraf den Präsidentenpalast, es betraf die Kathedrale.

    Das sind Bauwerke mit Symbolcharakter in Haiti. Wie sagte unser Regionalkoordinator: Alles könnte darüber aus den Fugen geraten. Es geht an die Identität der Haitianer, und das ist vielleicht langfristig noch sehr viel gravierender, als jetzt die Notlage, der man ja mit Soforthilfe eben auch begegnen kann. Von daher ist es wichtig, dass die internationale Gemeinschaft da jetzt wirklich vehement mit Hilfe und auch nachhaltiger Hilfe reingeht und dieses Land und seine Menschen unterstützt.

    Schulz: Sie haben es gerade schon angedeutet: Es kommt jetzt zusammen der Kampf gegen den Hunger, mit dem das Land ohnehin zu kämpfen hat, und der Kampf gegen die Folgen des Erdbebens. Mit welchen Konsequenzen rechnen Sie da, oder wie kann man das noch konkreter machen, was Sie gerade sagen, dass die Lage dort aus den Fugen gerät?

    Braun: Das ist total schwierig zu sagen, aber Haiti zeichnet sich ja seit Jahren durch eine mal mehr, mal weniger politische, wirtschaftliche Instabilität aus. Und was jetzt dafür dieses Erdbeben bedeutet, darüber möchte ich eigentlich gar nicht spekulieren. Vielleicht kann man positiv sagen, ich habe die Haitianer auch als absolut überlebensfähige Menschen kennen gelernt. Was die in Notsituationen immer noch für Ressourcen auch mobilisieren können, um doch noch wieder es zu drehen und konstruktiv daran mitzuwirken, dass die Notlage überwunden werden kann. Ich möchte ehrlich gesagt ein bisschen daran glauben, dass da jetzt auch wieder fast Unmögliches möglich wird und es eben nicht aus den Fugen gerät.

    Schulz: Eine Million Euro Soforthilfe hat die Bundesregierung angekündigt. Aus Ihrer Erfahrung heraus, ist das eine Größenordnung, mit der sich arbeiten lässt?

    Braun: Ich fürchte mal, das wird zu wenig sein. Wir richten uns hier in der Welthungerhilfe auch wirklich auf eine Notsituation großer Dimension ein. Deswegen haben wir jetzt auch, ohne dass wir schon genau wissen, das, das, das, das wird gebraucht, erst mal 100.000 Euro Soforthilfe bereitgestellt. Das wird aber garantiert noch aufgestockt werden und wir werden auch weitere Nothilfeprojekte und dann Wiederaufbauprojekte angehen, durchführen, wenn dann sozusagen klar ist, wo liegt der Kernpunkt des Schadens und wie können wir am effektivsten helfen.

    Schulz: Ute Braun von der Hilfsorganisation Welthungerhilfe, heute in den "Informationen am Mittag" im Deutschlandfunk. Danke schön!