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Alltagskultur
Als das Private politisch war

In den 70er- und frühen 80er-Jahren hat die linksalternative Szene die Gesellschaft grundlegend umgekrempelt. Jetzt hat sich der Historiker Sven Reichardt an eine Kulturgeschichte dieses Milieus herangewagt. Sie liefert überraschende Einblicke auch in die heutige Gesellschaft.

Von Doris Arp | 31.07.2014
    Langhaarige Jugendliche in den 70er-Jahren
    Hippies und andere Teile der linksalternativen Szene der 70er-Jahre haben die Gesellschaft nachhaltig verändert. (dpa / picture alliance / Koch)
    "Die Straße sieht bereits aus wie ein Schlachtfeld. Zwischen der Polizei und den Demonstrierenden kam es bereits zu mehreren Handgreiflichkeiten." (Wolf Biermann singt:)" Drei Kugeln auf Rudi Dutschke, ein blutiges Attentat, wir haben genau gesehen, wer da geschossen hat."
    Schüsse, die die bundesrepublikanische Wirklichkeit verändert haben - ohne Zweifel. Es folgten rund 15 wilde Jahre, in denen das Leben hierzulande gehörig umgekrempelt wurde. Akteure mit sehr unterschiedlichem Gewicht waren die Studentenbewegung mit ihrer Außerparlamentarischen Opposition, die linksradikalen K-Gruppen der 70er-Jahre, die Rote Armee Fraktion, deren Terror im sogenannten heißen Herbst 1977 gipfelte und die Alternativen, die Hippies der 70er- und frühen 80er-Jahre.
    Die linksalternative Szene damals, war sie nur eine laue Welle nach der Sturmflut der radikalen Aktivisten, ein Zerfallsprodukt der Studentenbewegung? Oder waren diese langhaarigen Gestalten in den übergroßen Opa-Hemden und lila Latzhosen die eigentlichen Motoren für eine tiefgreifende Liberalisierung und Demokratisierung der Bundesrepublik Deutschland? Auf über 1.000 Seiten gibt der Historiker Sven Reichhardt darauf eine Antwort.
    Ein Blick mit neugieriger Distanz
    "Meine Studie bezieht sich auf die Kultur und vor allem auf die Alltagspraxis in diesem linksalternativen Milieu von der WG über die Körpertechniken bis hin zum Drogenkonsum, darüber ist fast nichts geforscht worden."
    "Authentizität und Gemeinschaft" lautet der Titel dieser materialreichen Kulturgeschichte. Der in Konstanz lehrende Zeithistoriker schreibt über die alternative Szene der 70er Jahre "in einem Stil der Hermeneutik der Distanz. Also es geht weder um das Verurteilen, noch um das Heroisieren, sondern eher um eine nüchterne Bestandsaufnahme."
    Sven Reichardt war selbst nicht dabei. Er ist ein paar Jahre zu jung und stammt auch nicht aus dem bildungsbürgerlichen Milieu, aus dem die linksalternative Szene damals wesentlich hervorging. Das schafft neugierige Distanz, die er mit wissenschaftlicher Gründlichkeit ausfüllt.
    In der Kneipe Beziehungsprobleme ausdiskutiert
    Entstanden ist eine spannende Kulturreise in die 70er- und frühen 80er-Jahre, die nicht nur neue Quellen erschließt, sondern auch einen neuen Blick erlaubt. Wir schauen in die Küchen der Wohngemeinschaften, in die linken Buch- und Bäckerläden, die alternativen Cafés und Kfz-Werkstätten, lesen die Kleinanzeigen im Frankfurter "Pflasterstrand" oder der Berliner "Zitty" und hören zu, wie in der Szenekneipe auf dem Barhocker die Beziehungsprobleme "ausdiskutiert" wurden. Mit viel Statistik angereichert zeigt die Studie, dass die Lebenspraxis der Szene die Gesellschaft stärker verändert hat als jede noch so ausgefeilte Theorie der K-Gruppen.
    "Es sind sehr viele Aktivisten im Vergleich zu den K-Gruppen oder in der RAF oder selbst in der Studentenbewegung. Es sind eine Million Menschen, die sich dort beteiligen und vier Millionen, die Sympathie aussprechen für dieses linksalternative Milieu in den 70er-Jahren."
    Ende der 70er Jahre stand das Alternativmilieu in seiner Blütezeit. Allein die neuen sozialen Bewegungen wie Atomkraftgegner, Friedensaktivisten und Mitglieder der Ökologiebewegung zählten rund 1,8 Millionen Beteiligte - das entsprach 1979 der Mitgliederzahl sämtlicher Parteien. 43 Prozent der Bevölkerung war grundsätzlich bereit, in einer Bürgerinitiative mitzuarbeiten, aber nur 15 Prozent wollten sich in Parteien engagieren.
    Eine größere Breitenwirkung als die Studentenbewegung
    "Das sind Breitenwirkungen, die die Studentenbewegung nicht erzielen konnten und sie haben die Bundesrepublik deshalb auch stärker geprägt als die Studentenbewegung oder die RAF."
    Die Alternativen schickten einen breiten "Wärmestrom", wie der Philosoph Ernst Bloch das Prinzip Hoffnung nannte, durch die Gesellschaft der 70er-Jahre. Eine Gesellschaft, die sich sowieso schon im Umbruch befand, erklärt Sven Reichardt die alternative Szene im Kontext des Wandels.
    "Also den Umbruch von der Industriemoderne hin zur Dienstleistungsgesellschaft, hin zur Wissensgesellschaft, eine Gesellschaft im Wertewandel und in diesen Prozessen die Durchsetzung des Linksalternativen Milieus einzuordnen."
    "Wir flaggen unsere Traumschiffe mit den buntesten Fahnen und segeln in den Süden davon - zum Strand von Tunix. Die Maulkörbe schmecken uns nicht mehr und auch nicht mehr die plastikverschnürte Wurst."
    So begann der Aufruf zum großen Tunix-Kongress in Berlin im Januar 1978. Rund 30.000 junge Menschen träumten dort gemeinsam von einem "irgendwie" anderen Leben. In Landkommunen, Wohngemeinschaften und alternativen Kollektivbetrieben mit neuen Beziehungsformen wurden die Träume mehr oder weniger auch praktisch. Ohne es selbst so genau zu wissen, wurde die alternative Szene so zum Motor für den allgemeinen Wandel hin zur Dienstleistungsgesellschaft. Allerdings mit der Idee einer anderen Ökonomie.
    Die meisten Betriebe scheiterten an den Ansprüchen
    "Dass man Kollektiveigentum an Produktionsmitteln hat, dass es keine Trennung von Hand- und Kopfarbeit gibt, dass also sowas wie ein ganzheitliches Arbeiten möglich sein soll, basisdemokratische Verkehrsformen, private und betriebliche Verhältnisse werden nicht mehr getrennt, es gibt Entscheidungsverfahren im Konsens, also mit Zustimmung aller Mitglieder dieses Betriebes. Also das sind Formen, dem Kapitalismus genossenschaftliche Prinzipien entgegen zu stellen."
    "TAZ"-Gründung: "Unser Alltag ist zu wichtig, um ihn dem Schmierenjournalismus der Boulevardpresse zu überlassen."
    Das Private ist politisch, lautet die Überschrift zahlreicher neuer Stadteilzeitungen mit basisdemokratischen Redaktionen. Allein in Berlin gibt es 1982 114 alternative Blätter. Die "TAZ" ist eine der wenigen, die überlebt hat. Die Journalistin Ute Scheub war 22 Jahre alt, als sie 1978 die "TAZ" mitgegründet hat, damals in den Räumen des sogenannten "Informationsdienstes für unterdrückte Nachrichten" in Frankfurt.
    "Also wilde Gestalten mit langen Haaren, sehr viel rauchend und sehr viel Wert legend auf Lust und Spontaneität und Kreativität. Es gab halt in über 20 Städten über 200 Leute, die unbedingt 'ne neue Tageszeitung gründen wollten."
    Gleicher Lohn für alle, alles gehört allen und jeder darf mitreden, das waren genossenschaftliche Grundprinzipien jeder alternativen Ökonomie. Weil Geld und Macht wegfielen, blieb nur die Selbstmotivation, um erfolgreich zu sein. Die meisten Betriebe scheiterten irgendwann an diesen Ansprüchen.
    Pluralisierung der Gesellschaftsformen
    "Das ist etwas, was in den 90er Jahren mit der New Economy wieder auftaucht. Diese Idee der flachen Hierarchien, kollektive Selbstorganisation, in kleinen Teams, autonomes Selbstmanagement, das sind alles Dinge, wo die Alternativökonomie der 70er-Jahre etwas vorwegnimmt, was sich dann in den 90er-Jahren durchzusetzen beginnt."
    Es taucht eine Menge wieder auf oder fließt besser gesagt in den allgemeinen Wandel der Bundesrepublik mit ein.
    "Am stärksten sind die Folgen in der Umwelt- und Energiepolitik, auch das Bildungssystem ist offener geworden, weniger hierarchisch, auch das Parteienspektrum ist weiter geworden. Es gibt ne ganze Reihe von basisdemokratischen Politik- und Verkehrsformen unserer Gesellschaft, die glaube ich ohne diese 70er-Jahre nicht möglich geworden wären. Auch wenn Sie die Familienpolitik angucken, dass die Ehe nicht mehr das alleine Modell des Zusammenlebens ist, also eine Pluralisierung der Umgangsformen ist eine Erbschaft der 70er-Jahre."
    In den Talkshows gibt es den Verfall der Sorge um sich sehen zu sehen
    Im Kapitel über "Beziehungskisten" und "offener Sexualität" belegt Reichardt nüchtern, wie Pädophile sich als vermeintliche Opfer der Repression an die schwule Emanzipationsbewegung anhängen konnten. Hier zeigt sich einmal mehr, welche Klarheit seine "Hermeneutik der Distanz" schaffen kann. Im Fazit dieser Kulturgeschichte der 70er-Jahre betont Reichardt den engen Bezug von Freiheit und Zwang der alternativen Szene. Zur "Sorge um sich selbst" gehörte stets der Zwang zur kollektiven Selbstoffenbarung und Gemeinschaft. Das Private war eben politisch - anders als heute.
    "Wenn Sie so wollen, können sie heute in Talkshows den Verfall der Sorge um sich sehen. Da wird jemand ausgestellt, der eigentlich nur noch sich thematisiert, ohne dass da eine politische Message mit verbunden ist, das ist der Verfall und die Entpolitisierung dieser Form von Selbstverwirklichung. Damals ist das natürlich gerichtet gewesen gegen eine Industriegesellschaft, gegen die Entfremdung in dieser Gesellschaft und gegen die Ausbeutung in der kapitalistischen Ökonomie, so wurde es jedenfalls interpretiert. Manchmal sind eben nur noch Verfallsformen dieser Selbstverwirklichung in der Kultur jedenfalls übrig geblieben."