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Alltagskultur des Balkans
Erbe des Osmanischen Reiches

Nirgendwo sonst in Europa leben Menschen verschiedener Ethnien und Religionen so eng zusammen wie auf dem Balkan. Trotz aller Konflikte und Unterschiede gibt es eine gemeinsame Alltagskultur. Das Osmanische Reich, das infolge des 1. Weltkriegs zerfiel, hat auf dem Balkan ein Erbe hinterlassen, das bis heute nachwirkt.

Von Peter Leusch | 11.10.2018
    Süleyman I., (1494 –-1566) regierte das Osmanische Reich von 1520 bis zu seinem Tod 1566. Das Bild (1561) zeigt Süleyman I. mit seiner Armee in Nachitschewan 1554.
    Das Osmanische Reich bestand etwa 600 Jahre und hat das Leben auf dem Balkan stark geprägt (imago stock&people/WHA United Archives)
    In kaum einer Ecke Europas leben Menschen so vieler verschiedener Ethnien und Religionen lange Zeit friedlich zusammen wie auf dem Balkan. Diese Tradition, aber auch die Kriege am Ende 20. Jahrhunderts lassen sich mit der langen Herrschaft der Osmanen in Verbindung bringen. Niemand anders hat diese wechselvolle Geschichte des Balkans so nachdrücklich geschildert wie der Nobelpreisträger Ivo Andric 1945 in seinem Romanepos Die Brücke über die Drina, erläutert die serbische Kulturwissenschaftlerin Aleksandra Salamurovic von der Universität Jena.
    "Die Brücke befindet sich nach wie vor seit ihrer Errichtung Ende des 16. Jahrhunderts bis heute in der Stadt Visegrad in Bosnien und Herzegowina an der Grenze zu Serbien. Die Brücke wurde schon damals errichtet, um die Handelswege zwischen der Hauptstadt Istanbul und dem Westen zu ermöglichen und zu erleichtern. Andric erzählt 400 Jahre Geschichte der Brücke dieser Stadt und dieses Austausches zwischen Muslimen und letztendlich auch Serben, Kroaten, Juden, die in der Stadt gelebt haben, bis zur Ankunft der Österreicher."
    Schauplatz waren die Brücke über die Drina und der Balkan in der 600jährigen Geschichte des Osmanischen Reiches. Sie waren allerdings eher Randplätze im riesigen Osmanischen Reich.
    Das Osmanische Reich - viele Ethnien und Religionen
    Auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung im 17. Jahrhundert erstreckte sich die Herrschaft der Osmanen von Nordafrika über Kleinasien und die arabische Halbinsel bin in den Irak hinein, und im Südosten Europas hatte man den gesamten Balkan unterworfen. Professor Albrecht Fuess, Islamwissenschaftler an der Universität Marburg, hebt hervor, dass viele verschiedene Ethnien und Religionen in diesem Großreich versammelt waren: Türken, Griechen, Armenier und Araber, Muslime, griechische-orthodoxe Christen und Juden. Albrecht Fuess ist an einem neuen universitätsübergreifenden Forschungsprogramm beteiligt, das unter dem Titel Transottomanica die vielfältigen Austauschprozesse zwischen dem Osmanischen Reich, Osteuropa und Persien untersucht.
    "Was wir beim Osmanischen Reich sehen, ist ein transethnischer Staat, ein transnationaler Staat mit sehr vielen verschiedenen Kulturen und Religionen, und in dem der Sultan so eine Art von ordnender Hand ist, der dafür zu sorgen hat, dass es allen Ethnien, allen Religionen und allen Gesellschaftsschichten gutgeht."
    Toleranter Islam, keine Zwangsbekehrungen
    Das Osmanische Reich praktizierte einen Islam, der wesentlich toleranter war als zur gleichen Zeit das Christentum in Andalusien, wo Juden und Muslime am Ende des 15. Jahrhunderts vertrieben wurden, falls sie sich weigerten zu konvertieren. Im Osmanischen Reich wurde zwar ein Übertritt zum Islam begrüßt, aber es gab keine Zwangskonversionen. Im Gegenteil: Der Sultan hatte die aus Spanien vertriebenen Juden nach Istanbul eingeladen, erklärt Joachim von Puttkamer, Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Jena.
    "In der Tat ist das Osmanische Reich anders als mitteleuropäische Länder nicht von der Vorstellung ausgegangen, dass die Untertanen alle dieselbe Religion haben müssten wie die Herrscher. Dass Muslime privilegiert waren, sowohl was die Besteuerung, als auch was den Militärdienst angeht - soweit man das als Privileg bezeichnen möchte - und auch was die Verwaltungslaufbahn angeht und den Zugang zu Machtpositionen, das ist natürlich völlig klar."
    Minderheiten wie zum Beispiel die Juden genossen den Schutz des Sultans, sie konnten ebenso wie die Christen ihre Religion frei ausüben, sofern sie den steuerlichen Sonderverpflichtungen nachkamen. Das multiethnische und multireligiöse Zusammenleben, das weitgehend friedlich verlief, ist ein Charakteristikum des Osmanischen Reiches, zumal auf dem Balkan, wo katholische Kroaten, griechisch-orthodoxe Serben, Juden und Muslime in Bosnien und Albanien mit- und nebeneinander leben. Die Osmanen besaßen die politisch-militärische Oberhoheit, aber ansonsten überließen sie die Lokalverwaltung weitgehend den einzelnen Religionsgemeinschaften.
    Religionsgemeinschaften regeln sich selbst
    "Das ist das viel beschworene autonome Millet System, einer Minderheitenautonomie für Katholiken, für Orthodoxe, die mit Abstand die größte christliche Gruppierung gewesen sind, aber auch für Juden. Für viele zivile Dinge - das fängt bei Heiraten und Geburtsregistern an, aber auch Streitschlichtung und Lokalverwaltung - spielt das alles eine starke Rolle, dass das den kirchlichen Institutionen und Würdenträgern überlassen blieb." (Joachim von Puttkamer)
    Der Sultan im fernen Istanbul überließ auch die Steuererhebung den Mächtigen vor Ort, die dabei relativ eigenmächtig verfahren konnten. Hier wird die Kehrseite des Systems sichtbar, hier liegen die historischen Wurzeln von Klientelismus und Korruption in Südosteuropa.
    "Wir wissen alle, dass Klientelismus und Korruption auch in anderen Teilen der Welt vorkommen. Nichtsdestotrotz ist gerade in südosteuropäischen Ländern diese Erscheinung nicht selten."
    Die Wurzeln von Korruption und Vetternwirtschaft
    Wolfgang Dahmen, emeritierter Professor für rumänische Literatur- und Sprachwissenschaft.
    "Gerade in Rumänien gibt es im Augenblick eine Diskussion darüber, dass die Staatsanwältin, die die Korruptionsbehörde leitet, von der Regierung ihres Amtes enthoben worden ist gegen den Willen des rumänischen Staatspräsidenten."
    Wolfgang Dahmen war der Sprecher eines interdisziplinären Graduiertenkollegs an der Universität Jena, das in den vergangenen 10 Jahren die historisch-kulturellen Strukturen in Südosteuropa erforscht hat. Eine wichtige Frage lautete dabei, welches Erbe das Osmanische Reich auf dem Balkan hinterlassen hat. Gehören auch Probleme wie Vetternwirtschaft und Korruption zu seinen Nachwirkungen? - Klientelismus werde durch bestimmte historische Voraussetzungen begünstigt, die mit dem Staatsverständnis im Osmanischen Reich zusammenhingen, erläutert Joachim von Puttkamer.
    "Vielleicht sollte man sich das grundsätzlich so vorstellen, dass das Osmanische Reich an Entwicklungen in Mitteleuropa - da denke ich an die Habsburger Monarchie und an Preußen - vor allem der Staatsbildung, nicht in dem Maße teilhat, wo die Monarchen einen unabhängigen, eigenen bürokratischen Apparat aufbauen, der auf lokaler Ebene die Interessen des Fürsten, was Steuereinnahmen angeht, auch gegen die lokalen Eliten durchsetzen kann."
    Der ferne Sultan und die Mächtigen vor Ort
    Während im West- und Mitteleuropa der Neuzeit die Fürsten immer stärker durchregieren, mittels eines gutorganisierten Beamtenapparates ihren Staat bis in den letzten Winkel hinein formen und kontrollieren, muss sich der Sultan in seinem Riesenreich damit begnügen, dass die fernen Provinzen seine Oberherrschaft anerkennen und Abgaben errichten.
    "Unser Steuersystem ist hochkomplex heutzutage in Mitteleuropa, weil es für jeden Einzelnen zu bestimmen versucht, was eigentlich verkraftbar ist. Und das ist ein Prozess, der sich vom 16. bis ins 20. Jahrhundert aufbaut. Die einfachste Form - und so hat es das Osmanische Reich noch bis ins 19. Jahrhundert hinein auch gemacht - ist eine Quote festzulegen, die ein bestimmtes Gebiet aufzubringen hat. Und wie der Steuereintreiber das macht, das musste er dann selber sehen." (Joachim von Puttkamer)
    So konnten die Mächtigen vor Ort sehr autonom agieren: manchmal zum Nutzen der lokalen Gemeinschaft, noch öfter aber, um sich selber die Taschen vollzumachen, Familienangehörigen und Freunden einträgliche Posten zuzuschanzen. Das findet man, so Wolfgang Dahmen, auch heute noch:
    "Es gibt solche Beispiele, wo dann eben die Verwandten zum Vorsitzenden der Erdölraffinerie gemacht werden und Ähnliches. Man schiebt sich dann schon die Pöstchen zu."
    "Und nicht nur Pöstchen, sondern auch Staatsaufträge verschaffen, also dass man versucht, sich den Staat zu eigen zu machen."(Joachim von Puttkamer)
    Nationalismus zerstört die Vielvölkerstaaten
    Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, so Joachim von Puttkamer, definieren und organisieren sich in ganz Europa immer mehr Staaten über den Begriff der Nation. Der Nationalismus ist jene Zersetzungskraft, die die transethnischen Staatsgebilde, die Vielvölkerstaaten am Ende des 1. Weltkrieges implodieren lässt: Das Habsburger Reich 1918 und 1922 das Osmanische Reich.
    "Die Türkei, die 1922 gegründet worden ist, ist zunächst einmal von einer sehr starken Vorstellung geprägt, ein Nationalstaat der Türken sein zu wollen, in Abgrenzung zum Osmanischen Reich. Eine der Dissertationen, die wir gefördert haben, ist den slawischen Minderheiten in der Türkei, die es offiziell dort gar nicht gibt, nachgegangen und hat in Feldstudien eine Menge von Befunden erhoben, was südslawische Gruppen auf dem Gebiet der heutigen Türkei angeht."
    Und die starke Minderheit der Kurden, die jahrzehntlang als Bergtürken bezeichnet wurden und ihre Sprache nicht in der Öffentlichkeit benutzen durften. So bewegt sich die Türkei – auch nach dem Bevölkerungsaustausch mit Griechenland und dem Völkermord an den Armeniern Anfang des 20. Jahrhunderts - in dem Widerspruch zwischen einer beanspruchten nationalstaatlichen Identität und einer tatsächlichen ethnischen Vielfalt, die nach wie vor auf das Osmanische Reich verweist. Auf der kulturellen Ebene allerdings ist ein radikaler Bruch mit den Osmanen erfolgt, als die moderne Türkei von der arabischen zur lateinischen Schrift gewechselt ist. – Albrecht Fuess:
    "Insofern die heutige Türkei durch die Sprachreform das Osmanische praktisch selbst seiner Kultur und seiner Vergangenheit in einer gewissen Art und Weise beraubt hat. Die Leute sind nicht in der Lage, ihre Texte aus dem 19. Jahrhundert zu lesen. Deswegen ist es relativ schwer für heutige Türken, sich zu Erben der Osmanen zu erklären."
    Erdogan als neuer Sultan?
    Auf der politischen Ebene wird dieses Erbe neuerdings wieder reklamiert, wenn Erdogan als starker Mann, ja als neuer Sultan von seinen Anhängern gefeiert oder von seinen Gegnern geschmäht wird. Ist der Titel neuer Sultan nur ein medialer Schnellschuss oder in bestimmter Hinsicht triftig? Professor Stefan Rohdewald, Osteuropa-Historiker an der Universität Gießen, zugleich Sprecher des Forschungsprogramms Transottomanica, erklärt, dass die Vorstellung vom starken Mann als politischem Führer gar kein osmanisches Erbe sei. Im Gegenteil:
    "Die Vorstellung des starken Mannes kann man auch als westlich anschauen, wenn man sich Napoleon anschaut als den starken Mann per se, Napoleon III. - die Republik in Frankreich war durchaus anfällig für solche Figuren. Deutschland, Bismarck, das ist das 19. Jahrhundert, man hat dann Militärs in Deutschland, Ludendorff, Hindenburg, die man vergleichen kann mit Militärs in der jungtürkischen Revolution 1908, Kemal Pascha, das sind starke Männer, die sich absichtlich als westlich darstellen, es ging ihnen darum, Nationalismus als westliches Modell einzuführen in der Türkei."
    Und was ist in geschichtswissenschaftlicher Sicht davon zu halten, wenn Erdogan als neuer Sultan apostrophiert wird? Dr. Florian Riedler, Osteuropa-Historiker an der Universität Gießen, hat diesen Vergleich kritisch analysiert.
    "Wenn Sie nach Istanbul fahren, können Sie Erdogan auf Hauswänden zusammen mit Mehmed Fatih, Mehmed dem Eroberer, abgebildet sehen. Ich als Historiker würde aber sagen, diese Selbststilisierung als Sultan hatte wenig mit dem historischen Amt des Sultans zu tun, wie wir es im Osmanischen Reich kennen, es ist eine Vermengung von Charakterzügen von starken Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, vor allem auch Generälen. Es ist kein Zufall, dass man gerade Mehmed II. als Referenzfigur aussucht, also wirklich den Eroberer-Sultan, um den seit den Neunzigern wirklich ein Kult betrieben wird, wenn Sie an Filme und populäre Fernsehserien denken."
    Aus wissenschaftlicher Sicht legt Erdogan also eine falsche Spur, er stellt sich in eine Erbfolge mit den Osmanen, die erschlichen ist. Gleichwohl geriert sich Erdogan als Schutzherr der Muslime auf dem Balkan, insbesondere der Bosniaken. Und die Türkei lässt Gelder fließen, zum Beispiel beim Bau einer neuen Moschee in Albanien. Aber auch Saudiarabien versucht durch aufwendige Moscheebauten Einfluss auf dem Balkan zu gewinnen.
    Politische Vision: Schutz unter dem Dach der EU
    In Bosnien, das ja mit Kroaten, Serben und muslimischen Bosniaken eine Art Minijugoslawien mitsamt den alten Problemen darstellt, richten die Menschen ihre Hoffnungen jedoch an eine andere Adresse. Albrecht Fuess:
    "Gerade bei den bosnischen Muslimen, wo ich bei meinem letzten Besuch vor zwei Jahren feststellte, dass sie sagten, das Einzige, was Bosnien retten würde momentan, wäre eben, dass Serbien sehr schnell in die EU aufgenommen würde und Bosnien danach auch sofort, weil sie sonst befürchten würden, dass solche Eskalationen wieder aufbrechen könnten: Wir wollen zur EU hinzu gehören, wir sind Europäer, wir sind europäische Muslime und hoffen, dass die Versprechungen, die die EU in den letzten Jahren und Jahrzehnten aufgebaut hat, nämlich eine multikulturelle, offene und tolerante Gesellschaft zu sein, wirklich einmal einhält."
    Könnte die EU ein neues multireligiöses Dach sein, unter dem die Minderheiten Schutz finden wie einst beim Sultan, nun aber in einem freien und demokratischen Staatenverbund? Könnte die EU damit den positiven Aspekt des Osmanischen Vielvölkerreiches beerben? Wolfgang Dahmen ist skeptisch.
    "Dass durch die gemeinsame Zugehörigkeit zu einem Verbund wie der EU dann wieder eine größere Toleranz gegenüber Minderheiten entstehen könnte, würde ich für eine schöne Vision halten."
    Bett heißt überall Krevet: gemeinsame Alltagskultur
    Aber es gibt auch ein wirkliches Gegengewicht zu den auseinander strebenden Nationalismen auf dem Balkan. Das ist das geteilte osmanische Erbe eines jahrhundertelangen Zusammenlebens, was sich in vielen Bereichen des Alltags sprachlich niedergeschlagen geschlagen hat. Die Kulturwissenschaftlerin Aleksandra Salamurovic nennt viele Beispiele:
    "Man benutzt im Serbokroatischen zwei Begriffe für Suppe: einmal supa - aus dem Deutschen die Entlehnung; und einmal turba. Turba ist ein Turzismus, würde man mit Eintopf übersetzen können. Dann zum Beispiel kafe für Kaffee, krevet fürs Bett, kutija für Schachtel, komchia für Nachbar, - das sind meistens Substantive, die zu den zehn frequentesten Wörtern in der gegenwärtigen serbischen Sprache gehören."
    Und im Rumänischen?
    "Das sind fast dieselben Wörter, und diese Wörter zeigen, wie die osmanische Kultur sich flächendeckend über Südosteuropa ausgebreitet hat." (Wolfgang Dahmen)
    Die gemeinsamen Wörter spiegeln eine gemeinsame Alltagskultur, ein geteiltes osmanisches Erbe in der Lebenswelt. Denn die Sprache bezeugt, wie nah und intensiv die Menschen über die ethnischen und religiösen Grenzen hinweg bis heute zusammengelebt haben. Anders wäre ein solcher Sprachtransfer gar nicht möglich gewesen.