Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Altkanzler-Biograf Schöllgen
Gerhard Schröder schaut zufrieden auf sein Leben zurück

Warum hat Gerhard Schröder für Gregor Schöllgen seine Archive geöffnet? Der Ex-Kanzler schaue zufrieden auf sein Leben zurück, sagte sein Biograf im DLF. Dass sich die SPD von ihm distanziere, sei ein Fehler. Und dass ausgerechnet Angela Merkel nun das Buch präsentiere, habe einen einfachen Grund.

Gregor Schöllgen im Gespräch mit Peter Kapern | 22.09.2015
    Gerhard Schröder und der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil
    Gerhard Schröder und der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (picture alliance/dpa/Holger Hollemann)
    Peter Kapern: Ja, das war ein aufregender Fernsehabend damals, am 18. September 2005. Die Deutschen hatten gerade einen neuen Bundestag gewählt. Das Ergebnis war bemerkenswert. Gerhard Schröder - so viel war um viertel nach acht an diesem Abend schon klar - würde aus dem Kanzleramt ausziehen müssen und wahrscheinlich Angela Merkel Platz machen müssen. Aber ganz sicher war das noch nicht, bis Schröder dann in der Elefantenrunde von ARD und ZDF um viertel nach acht, na sagen wir mal, die Contenance verlor.
    O-Ton Gerhard Schröder: "Glauben Sie im Ernst, dass meine Partei auf ein Gesprächsangebot von Frau Merkel bei dieser Sachlage einginge, in dem sie sagt, sie möchte Bundeskanzlerin werden? Ich meine, wir müssen die Kirche doch auch mal im Dorf lassen."
    Kapern: Gerhard Schröder und seine Verbalattacke auf die damalige Oppositionsführerin Angela Merkel. Damals reagierte Merkel richtig cool und sagte gar nichts. Sie genoss es einfach, dabei zuzusehen, wie sich ihr künftiger Amtsvorgänger um Kopf und Kragen redete. Das Verhältnis der beiden zueinander hat darunter aber nicht wirklich nachhaltig gelitten, was sich zum Beispiel daran erkennen lässt, dass beide, Merkel und Schröder, heute gemeinsam die erste umfassende Biografie des Altkanzlers in Berlin vorstellen. Der Autor ist Professor Gregor Schöllgen, Historiker an der Universität in Erlangen. Für die Lebensbeschreibung Schröders konnte er erstmals auf Akten und Unterlagen zugreifen, die bislang niemals biografisch ausgewertet worden sind. Welche das waren, das habe ich ihn vor der Sendung gefragt.
    Gregor Schöllgen: Ich habe zunächst und vor allem die Akten des Büros Schröders eingesehen, wenn man so sagen will sein amtlich privates Archiv, das alle Bundeskanzler haben. Das durfte ich einsehen. Ich durfte eine Reihe von amtlichen Akten einsehen, wie beispielsweise begrenzt, aber immerhin die Akten des Bundeskanzleramtes. Ich habe auch - das sind ja letztlich amtliche Akten - dank einer Genehmigung Gerhard Schröders Stasi-Akte einsehen können und viele Dokumente, die sich auf die frühe Phase, auf die Kindheit Gerhard Schröders, auf seine Eltern und seine Großeltern beziehen.
    Kapern: Warum hat Gerhard Schröder Ihnen seine Archive geöffnet, soweit es dabei um seine Archive ging?
    Schöllgen: Zum einen wahrscheinlich auch deshalb, weil er gar nicht wusste, was alles in diesen Archiven schlummert. Er hatte nicht mal eine umfängliche Vorstellung davon, wo sein Archiv ist. Das ist sicher einer der Gründe, warum er mir ohne jede Bedingung, ohne jede Einschränkung den Zugang gestattet hat. Zum zweiten ist er, ganz wichtig, mit sich im Reinen. Er schaut jetzt mit Anfang 70 insgesamt zufrieden auf sein Leben zurück, und da war er schließlich auch neugierig, was ich so alles finden würde.
    Kapern: Über Gerhard Schröder ist ja eine Anekdote bekannt: Die Anekdote, in der er am Zaun des Bonner Kanzleramts von außen gerüttelt haben soll und gerufen haben soll, "Ich will hier rein". Nun beginnt Ihr Buch mit einem Zitat von Schröder, und das lautet, ich wollte da raus.
    Schöllgen: Ja.
    Kapern: Das ist der Beginn des Kapitels über jemanden, der, wie man heute so sagt, der sozialen Unterschicht entstammt und sich durchbeißt ganz nach oben. Ist das das große Lebensmotiv von Schröder, ich will unten raus und nach oben?
    Schöllgen: Das ist sicher ein ganz entscheidendes Grundmotiv, ohne das man das gesamte Leben dieses Gerhard Schröders in seinen verschiedenen Fassetten überhaupt nicht verstehen kann. Er wollte aus einem Milieu raus, das ihm vor allem zu dem Zeitpunkt keine allgemeine Bildung verschaffen konnte. Wenn man den Bundeskanzler oder auch schon den Ministerpräsidenten Niedersachsens verstehen will mit seinem ständigen Appell an soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit, dann muss man das wissen. Dann muss man diese frühen Aussagen kennen, um das zu verstehen.
    "Der Biss des Aufsteigers"
    Kapern: Dieser Weg aus schwierigsten familiären Verhältnissen in einem Land, dem ja eigentlich von den empirischen Sozialforschern immer wieder attestiert wird, sozial besonders undurchlässig zu sein, warum hat er diesen Weg geschafft? Welche Eigenschaften hat er mitgebracht?
    Schöllgen: Das ist zum einen natürlich der Biss des Aufsteigers. Bei einigen, die es in solche Karrieren geschafft haben, kann man das beobachten. Zum anderen muss man bedenken, dass Gerhard Schröder Jahrgang 1944 ist, und dieser Zweite Weltkrieg hatte auch in den Reihen der deutschen Gesellschaft große Schneisen geschlagen. Ein großer Teil der männlichen arbeitsfähigen Bevölkerung, wie man das nannte, stand ja nicht mehr zur Verfügung, war ums Leben gekommen, war verwundet, war in Gefangenschaft etc. Und da öffneten sich plötzlich auch für Menschen wie Gerhard Schröder mit diesem sozialen Hintergrund gewisse Perspektiven, die es ohne diesen Zustand bestimmt nicht gegeben hätte. Gleichwohl: Entscheidend ist, diese Chance erstens zu sehen und sie zweitens ohne Wenn und Aber zu ergreifen, und das ist seine große persönliche Leistung.
    Kapern: Gilt diese Qualität auch als ausschlaggebend für einen weiteren großen Lebenskampf, den er geführt hat, nämlich den Konkurrenzkampf mit den anderen Enkeln Willy Brandts? War das da auch entscheidend, dass er sich da durchgesetzt hat?
    Schöllgen: Sicher. Das ist einer der Gründe gewesen, warum er sich da durchgesetzt hat - nicht der einzige -, aber ohne diesen Biss, dieses um jeden Preis an die Spitze zu kommen, kann man das nicht verstehen, wobei man nicht übersehen darf, dass einige dieser Enkel in gewisser Weise, auch Oskar Lafontaine, insoweit aus vergleichbaren Verhältnissen kamen, als auch sein Vater wie der Gerhard Schröders im Krieg gefallen war, so dass man da gewisse Parallelen erkennen kann. Aber insgesamt kann man sagen, dass kein anderer der Kandidaten, kein anderer der Enkel Willy Brandts aus auch nur annähernd vergleichbaren Verhältnissen kommt.
    Kapern: Was genau kam noch hinzu? Sie sagten, noch andere Charaktereigenschaften Schröders seien ausschlaggebend gewesen dafür, dass er sich durchgesetzt hat in diesem Konkurrenzkampf der Enkel.
    Schöllgen: Es kam sicher hinzu eine außerordentlich schnelle Auffassungsgabe, ein sehr ausgeprägter Instinkt. Er war sehr gut in der Lage, Situationen sehr schnell zu erkennen, Chancen zu wittern und sie zu ergreifen. Die Taktik, das Offensivspiel, das ist seine große Stärke. Das konzeptionelle abwägende Denken, das Probieren und so weiter, das war nie seine Stärke. Das hat sich dann später im Amt des Bundeskanzlers auch gezeigt. Das fehlte ihm.
    Kapern: Nun schreiben Sie über Oskar Lafontaine einen sehr interessanten Satz. Der lautet: "Lafontaine ist beratungsresistent, dialogunfähig, anmaßend und selbstgerecht. Schröder ist all das nicht." Nun hat der "Spiegel" gerade noch über Gerhard Schröder das Urteil gefällt, sein Auftreten sei großkotzig. Das deckt sich doch einigermaßen mit den Qualitäten, die Sie da Lafontaine anhaften.
    Schöllgen: Ja das ist natürlich immer eine Frage der Perspektive. Gerhard Schröder kann so was ja auch spielen. Er kann das Machohafte, das ja eines seiner Merkmale ist, auch spielen. Er kann das einsetzen. Das ist die eine Seite. Das darf man nie bei ihm vergessen, dass er diese Klaviatur perfekt beherrscht. Andererseits bricht dann gelegentlich auch, das ist wohl wahr, das Milieu durch, aus dem er kommt, und da war dieser Umgangston, da war dieses Auftreten auch deswegen naheliegend, vielleicht sogar selbstverständlich, weil man ohne einen solchen Auftritt nicht wirklich weiterkam.
    Kapern: Blicken wir mal kurz auf einen Abschnitt aus dem politischen Leben Gerhard Schröders, möglicherweise auch den wichtigsten, nämlich die Phase der rot-grünen Koalition. Die ist ja schon vielfach beschrieben worden von den Akteuren selbst. Schröder und Fischer haben Bücher geschrieben, der Historiker Edgar Wolfrum. Was fügen Sie diesem Bild an Neuem hinzu?
    Schöllgen: An Neuem ist vor allem, dass erstmals eine ganze Reihe von Zeitzeugen, und zwar nicht nur aus dem rot-grünen Lager, sondern auch aus dem Lager beispielsweise des politischen Gegners über Gerhard Schröder und seine Koalition gesprochen haben. Neu ist, wie schon erwähnt, dass ich erstmals überhaupt bestimmte Dinge sehen konnte, Dokumente sehen konnte, jetzt also Situationen erklären kann, beschreibend erklären kann, die man bislang nicht beschreiben und erklären konnte, jedenfalls nicht vollständig. Ich erinnere nur, um ein Beispiel zu nennen, an die Gespräche zwischen dem Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem amerikanischen Präsidenten George W. Bush. Das ist erstmals, ein Beispiel jetzt, in diesem Buch beschrieben und so gesehen neu.
    "Wenn ein Job futsch ist, nimmt man halt den nächsten"
    Kapern: Ex-Bundeskanzler, Herr Schöllgen, die halten Reden, die schreiben Bücher, die engagieren sich für gute Sachen und die lassen sich auf Parteitagen feiern, üblicherweise jedenfalls. Gerhard Schröder macht Geschäfte und pflegt Freundschaften zu Politikern mit, sagen wir mal, zweifelhaftem Ruhm, um es vorsichtig zu sagen.
    Schöllgen: Ja.
    Kapern: Findet sich die Erklärung dafür auch in seiner Biografie?
    Schöllgen: Es findet sich ein Teil der Erklärung natürlich auch in dieser Biografie. Das versteht sich von selbst. Seine Schwester hat mal gesagt, seine ältere Schwester, die ich auch sprechen konnte, die gemeinsame Mutter habe erklärt, wenn ein Job futsch ist, nimmt man halt den nächsten. Dann geht man also im Falle Gerhard Schröders ins Geschäftsleben. Im Übrigen darf man nicht vergessen, dass auch seine unmittelbaren Vorgänger, rückwärts gerechnet, Helmut Kohl, Helmut Schmidt und Willy Brandt, ja ordentlich im Geschäft waren. Sie alle haben mit ihren Lebenserinnerungen ordentliche Umsätze gemacht. Das darf man nicht vergessen. So gesehen waren auch die in diesem Bereich durchaus tätig.
    Kapern: Aber nicht mit einer solchen Nähe zu so, sagen wir mal, doch etwas zweifelhaften Freunden.
    Schöllgen: Das ist richtig. Das ist ein Merkmal, in gewisser Weise jedenfalls ein Merkmal Gerhard Schröders, obwohl wir bitte nicht vergessen wollen, dass Helmut Kohl mit seiner Spendenaffäre sich in ganz ähnlichen, im Grunde zweifelhafteren, rechtlich gesehen zweifelhafteren Gefilden bewegt hat als Gerhard Schröder. Gerhard Schröder hat rechtlich gesehen nichts Falsches, nichts Angreifbares getan. Ob es klug gewesen ist, sich dauerhaft, ich will nicht sagen, an Putin zu binden, aber doch Putin freundschaftlich verbunden zu bleiben, sei mal dahingestellt, aber er betrachtet ihn eben im Wesentlichen als seinen persönlichen Freund. Das hat ihn auch nicht gehindert, da wo er es für nötig hielt Kritik zu üben.
    Kapern: Wie fügt sich in Ihrem Urteil Gerhard Schröder in die Ahnengalerie der deutschen Kanzler? Ist er der Mann, der seine Partei geopfert hat, die ja immer noch im 25-Prozent-Tal festhält, um dem Land zu helfen?
    Schöllgen: Dass die Partei heute im 25-Prozent-Tal hängt, liegt ja nicht an Schröder. Er hat die letzte Wahl mit knapp 35 Prozent gewonnen. Das darf man ja nicht vergessen, trotz oder wegen Agenda. Ich glaube nicht, dass Gerhard Schröder im Augenblick einen Fehler macht, sondern den großen Fehler macht seine eigene Partei, indem sie sich partout von ihm distanzieren will. Das ist ein Fehler. Nein, dieser Gerhard Schröder gehört ohne jeden Zweifel in die Galerie der bedeutenden deutschen Bundeskanzler, weil er zum einen außenpolitisch die Konsequenz aus der vollständigen Souveränität gezogen hat und beispielsweise Nein zum amerikanischen Irak-Krieg gesagt hat, und weil er zum anderen das Land innenpolitisch so auf Vordermann gebracht hat, dass es diese Rolle außenpolitisch wahrnehmen kann.
    Kapern: Nun haben wir eben, Herr Schöllgen, den bemerkenswerten Ausfall von Gerhard Schröder gehört aus der Elefantenrunde nach der Wahl 2005 gegen Angela Merkel, und ausgerechnet Angela Merkel stellt heute mit Gerhard Schröder gemeinsam und Ihnen dieses Buch in Berlin vor. Warum das? Warum setzen die sich da an einen Tisch? Was kann man daraus lesen?
    Schöllgen: Daraus kann man lesen, dass unbeschadet solcher Ausfälle - das war ein Ausfall in dieser Nacht, der sich im Übrigen, das darf man nicht vergessen, nicht primär gegen die Herausforderin richtete, die war ja ziemlich angeschlagen, sondern gegen die Journalisten, und stellvertretend für alle anderen hat er diese beiden Chefredakteure attackiert -, man kann daraus lesen, dass es von Anfang an, seit den 90er-Jahren, seit sich die beiden politisch begegnet sind oder miteinander zu tun hatten, der Grundrespekt ein Merkmal ihres politischen Verhältnisses ist. Das ist sehr bemerkenswert. Daran hat sich auch nach der oder durch diese sogenannte Elefantenrunde nichts geändert. Wäre dieser Grundrespekt nicht vorhanden, dann in der Tat würden die beiden wohl kaum anlässlich des Erscheinens von meinem Buch sich gemeinsam der Presse stellen.
    Kapern: … sagt der Historiker Gregor Schöllgen, der eine tausendseitige Biografie Gerhard Schröders geschrieben hat.