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Amir Eshel: "Dichterisch denken"
Zwischen Kunst und Moral

Wissensgesellschaft auf der einen Seite, Fake News auf der anderen: In seinem neuen Buch sucht der Literaturwissenschaftler Amir Eshel einen Ausweg aus diesem Dilemma - mit einem engagierten Plädoyer für Kunst und Politik, am Beispiel der Werke von Paul Celan, Gerhard Richter und Dani Karavan.

Von Volkmar Mühleis | 11.08.2020
Buchcover: „Dichterisch denken“ und Hintergrund: Dani Karavan Denkmal
Amir Eshel im Dialog mit zeitgenössischer Denkmalkunst (Suhrkamp Verlag)
"Dichterisch denken" von Amir Eshel ist das Buch einer Vergewisserung. Einer Vergewisserung aus US-amerikanischer Perspektive. Der Literaturwissenschaftler beklagt zum einen den herrschenden Utilitarismus im amerikanischen Bildungswesen, das blanke Kosten-Nutzen-Denken bis in die Lehrinhalte hinein; zum anderen das politische Gebaren einer Machtelite – prominent in der Figur des heutigen Präsidenten –, die demokratische Teilhabe zielgerichtet aushöhlt, in Anfeindungen von Presse und Bürgerrechtsbewegungen zum Beispiel. Beides wirkt sich auch auf Europa aus, über PISA-Richtlinien, Social Media und anderes. Das Buch von Eshel ist also hochaktuell, und in der amerikanischen Originalausgabe wurde das im Titel bereits deutlich: "Poetic Thinking Today". Dichterisches Denken wird somit als Alternative zum Kalkül von Nutzen und Macht gedacht, ausgehend von Hannah Arendts Frage, ob es ein Denken jenseits der logischen Zwänge gäbe. Amir Eshel bejaht diese Frage, mit drei Beispielen aus der Literatur, der Malerei und der Bildhauerei: den Gedichten von Paul Celan und Dan Pagis, einem Gemäldezyklus von Gerhard Richter und den Skulpturen von Dani Karavan. Als ein Buch der Vergewisserung hat er es im Stil persönlich und essayistisch gehalten, ohne dabei anekdotisch oder ausschweifend zu werden. Das engagierte Anliegen wird von einer sachlichen Strenge getragen. Denn so fokussiert der Blick auf drei Beispiele erscheint, so komplex ist doch die Gemengelage, ethische Relevanz und künstlerische Wirksamkeit gemeinsam zu sehen. Mit Celan etwa begreift Eshel die Künste in einem ethischen Horizont:
"Die Dichtung ist ein wahrhaftiges Reservoir aller menschlichen Erfahrung und niemals nur ein Ausdruck dichterischer Virtuosität, immer mehr als ein Quell ästhetischen Vergnügens. Als poiesis ist dem Gedicht alles eingeschrieben, was zu seiner Entstehung geführt hat: vom Leben des Dichters und der historischen Kulisse bis zu sämtlichen historischen Schichten der verwendeten Sprache."
Schlüsselmomente künstlerischer Entscheidung
Nur in der detaillierten Analyse kann eine solche Annahme anschaulich werden. Eshel gelingt es, frei von wissenschaftlichem Jargon, neuralgische Punkte seiner Beispiele offenzulegen. Bei Celan etwa im Vergleich zum israelischen Dichter Pagis, der wie er aus der deutschsprachigen Bukowina stammte, jedoch im Unterschied zu Celan vom Deutschen zum Hebräischen überging. Sprache als eigenes Erbe – wie bei Celan – oder als neu erworbenes Erbe – wie im Falle einer Fremdsprache, bei Pagis – führt bisweilen zu einem anderen dichterischen Umgang damit: Während Celan einen Satz in fünf Zeilen bricht – und das vermeintlich Selbstverständliche so öffnet –, bricht Pagis Redewendungen nicht auf, sondern kontrastiert sie, spielt mit ihnen. Über die eigene Dichtkunst hinaus zeigen sich auf diese Art Weisen des bewussten Umgangs, des dichterischen Denkens, wie es sich im aufmerksamen Lesen erschließt. Oder im Betrachten. Der Autor reiste nach Deutschland und Israel, um einzelne Werke von Gerhard Richter und Dani Karavan zu sehen und mit ihnen darüber zu sprechen. Gerade im Kapitel zu Richter werden Schlüsselmomente künstlerischer Entscheidungsfindung deutlich, am Scheitern einzelner Vorhaben. So suchte der Maler seit den sechziger Jahren danach, die Shoah in der Kunst zu thematisieren. 2018 schließlich malte er vier abstrakte Ölbilder nach den Vorlagen von vier Fotografien, die jüdische Zwangsarbeiter in Auschwitz-Birkenau unentdeckt machen konnten, um damit die Ermordung der Gefangenen zu dokumentieren. "Birkenau" heißt Richters Zyklus und ist in Dresden ausgestellt. In Berlin wiederum besuchte Amir Eshel das "Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas" von Dani Karavan:
"Je nach Blickwinkel spiegelt sich auch das Reichstagsgebäude im Teich wider, was dazu führt, dass die Spiegelbilder der Körper und Gesichter von denen, die am Wasser stehen, mit dem des Gebäudes verschwimmen. Durch das Prisma dieses Anblicks verbindet sich die Politik untrennbar mit dem menschlichen Kreis. Die umgebenden Pflastersteine verkünden die Orte, an denen jene, die man als nicht zur Menschheit zugehörig betrachtet hatte, ermordet wurden. Dieser Akt der Brutalität resultierte aus Entscheidungen, die in ebenjenem Gebäude und in der unmittelbaren Umgebung getroffen wurden, im Reichstag."
Die Fähigkeit, zu urteilen
Der israelische Bildhauer hat einen kreisrunden Teich mit dunklem Grund angelegt, umgeben von den einzeln gebrochenen, flachen Steinen – ein Teich, der dunkel spiegelt, was sich über ihm zeigt; ob Gesichter, Gebäude, der Himmel, die Wolken. Ausgehend von der Dichtung, dem imaginären Raum, behandelt Eshel dichterisches Denken als ein allgemein künstlerisches Umgehen ebenso mit der Fläche des Bildes wie auch der räumlichen Weite eines Denkmals, einer Skulptur. Die Auswahl seiner Beispiele bewegt sich bereits in dem Spannungsfeld von Kunst und Moral. Wie kann er darüber hinaus eine ethische Relevanz künstlerischer Umgehensweisen behaupten? Am schlüssigsten findet er hierauf eine Antwort im erneuten Verweis auf Hannah Arendt. In ihrem Buch "Das Urteilen" zeigte sie eindrücklich auf, dass Immanuel Kants "Kritik der Urteilskraft" nicht nur ästhetisch, vielmehr auch politisch gedeutet werden kann. Urteilskraft ist die Fähigkeit, unterscheiden zu können – ob zwischen schön und hässlich oder gut und böse. Diese Fähigkeit entscheidet sich im Gebrauch, nicht in einem davon unabhängigen Wissen. Wenn Wissen Macht ist, dann lässt sich die Urteilskraft also dadurch nicht vereinnahmen, sie bietet immer noch einen Ausweg. Diese Offenheit teilt sie mit der Kunst. Der Titel von Eshels Essay ist demnach gut gewählt: "Dichterisch denken", das heißt die Urteilskraft zu schulen, wie sie für Kunst und Moral gleichermaßen von Belang ist. Amir Eshel hat einen praktischen Leitfaden geschrieben, der daran erinnert und dazu anregt – und in genau dieser herzlichen Einladung zur Anwendung liegt auch seine brisante Kraft.
Amir Eshel: "Dichterisch denken"
Aus dem Englischen übersetzt von Ursula Kömen
Suhrkamp Verlag/Jüdischer Verlag, Berlin
279 Seiten, 24.- Euro.