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Amoklauf in München
Täter, Opfer, Medien

Richtig von falsch zu trennen ist die Kunst in einer Lage wie dieser in München. Das gilt auch und insbesondere für Journalisten. Dennoch ging vieles durcheinander. Im Internet kursierten Gerüchte, wie sie inzwischen bei jedem Attentat, Anschlag oder auch Amoklauf weltweit die Runde machen.

Von Monika Dittrich, Marcus Heumann und Ursula Welter | 23.07.2016
    Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (CDU, Mitte, l) und Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU, Mitte, r) geben einen Tag nach einer Schießerei mit Toten und Verletzten, vor dem Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München (Bayern) ein Statement ab.
    Von der Presse belagert: Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (CDU, Mitte, l) und Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU, Mitte, r) geben ein Statement ab. (picture alliance / dpa / Matthias Balk)
    München am Freitagabend im Ausnahmezustand. Gegen 18 Uhr hatte sich die Nachricht verbreitet: "Schüsse in einem Münchener Einkaufszentrum", es gibt Todesopfer und viele Verletzte. Schnell machten Spekulationen die Runde: Ist das ein Terroranschlag? Ein Angriff des sogenannten "Islamischen Staates"? Nach den Anschlägen weltweit, in Paris, Brüssel und Istanbul, nach den Attacken in Nizza und Würzburg hatten Politiker und Experten immer wieder gesagt: "Es ist nur noch eine Frage der Zeit, dann passiert ein terroristischer Anschlag mit Toten auch bei uns in Deutschland." Die Lage in München blieb bis in die frühen Morgenstunden unklar. Von drei Tätern war zunächst die Rede, schwer bewaffnet und möglicherweise auf der Flucht.
    Doch am Tag danach ist klar: Diese Meldungen und Spekulationen waren falsch. Es gab nach den Erkenntnissen der Polizei nur einen mutmaßlichen Täter. Er war kein Terrorist, sondern ein Amokläufer, der sich nach seiner Tat selbst erschossen hat:
    "Unser Täter ist 18 Jahre alt, in München geboren und aufgewachsen, er ist Schüler."
    Sagt Münchens Polizeipräsident Hubertus Andrä. Das Gesamtbild setzt sich nach und nach zusammen. Schon am Freitagabend gab es Indizien dafür, dass es keine politischen oder religiösen Motive waren, die den Täter antrieben, sondern persönliche, psychologische. Im Netz tauchten am Abend viele Handyvideos auf, nicht alle sind authentisch. Eines davon aber zeigt nach bisherigen Erkenntnissen tatsächlich den mutmaßlichen Täter. Er steht offenbar auf dem Dach eines Parkhauses des Einkaufszentrums, in der Hand die Waffe.
    Möglicherweise Opfer über das Internet angelockt
    Im Video ist ein Mann auf dem Parkdeck zu sehen, der sich ein Wortgefecht mit dem vom Balkon filmenden Zeugen liefert. Unter anderem sind die Wortfetzen "Ich bin Deutscher", "Hartz-4-Gegend", "war stationär in Behandlung" zu hören. LKA-Chef Robert Heimberger:
    "Der Täter hatte eine Glock dabei, eine 9-Millimeter-Waffe, wohl illegal, weil die Nummer ausgefeilt ist, woher er die hatte, wissen wir noch nicht, im Magazin befand sich noch entsprechende Munition, und auch im Rucksack hat er Munition mitgeführt, über 300 Schuss hatte er dabei."
    Zu den überraschendsten Erkenntnissen am Tag nach dem Amoklauf gehören die Meldungen, dass der junge Mann seine Tat womöglich geplant und möglicherweise seine Opfer über das Internet angelockt hat. Die Polizei nimmt an, dass der 18-jährige ein gefälschtes Facebook-Profil nutzte, auf dem er junge Leute aufforderte, in das Münchner Olympia-Einkaufszentrum OEZ zu kommen. Die Facebook-Seite war auf einen Mädchen-Namen angemeldet. Von dort wurde folgende Botschaft versandt:
    "Kommt heute um 16 Uhr Meggi am OEZ. Ich spendiere euch was wenn ihr wollte, aber nicht zu teuer."
    Mit Meggi dürfte das Lokal der Fastfood-Kette McDonald's gemeint sein. Die vermeintliche Einladung wurde unter Jugendlichen in München weiterverbreitet; aber auch mit kritischen und skeptischen Kommentaren versehen – offenbar gab es da bereits Zweifel an der Echtheit des Profils.
    Die Frau, deren Fotos für das gefälschte Profil des Amokläufers verwendet wurden, meldete sich inzwischen bei Mitarbeitern des Deutschlandfunks. Sie hatte bereits in der Nacht ab zwei Uhr im Netz gebeten, ihr Bild nicht mehr zu verbreiten. Dem Deutschlandfunk sagte sie heute: Sie lebe in Frankfurt, habe erst seit Dezember einen Twitter-Account, ihr Vorname sei zwar Selina, aber keiner der bislang unter dem Namen Selina A. verbreiten Beiträge stammten von ihr. Auch nicht solche, in denen heute Nachmittag behauptet wurde: "Mein Account wurde gehackt, hier ist mein neuer Account."
    Das Verwirrspiel im Internet war also perfekt. Gehackter Account eines mutmaßlichen Täters, gestohlene Bilder Unbeteiligter und Trittbrettfahrer am Tag nach der Tat.
    Ob der Täter gezielt geschossen hat, ob seine Opfer Mitschüler waren, die er kannte, all das ist offen.
    Täter richtete sich selbst
    Die Leiche des 18 Jährigen mutmaßlichen Täters wurde gegen 20.30 Uhr gefunden, in einer Nebenstraße etwa einen Kilometer vom Einkaufszentrum entfernt. Oberstaatsanwalt Thomas Steinkraus-Koch:
    "Zum Täter kann ich Ihnen aus der Obduktion mitteilen, die gerade abgeschlossen wurde: Es gibt nur eine Schussverletzung, es ist ein aufgesetzter Schuss im Kopfbereich. Mit der Verbindung, dass er Linkshänder ist und dass der Schusskanal sich in Verbindung bringen lässt, gehen wir davon aus, es ist ein Suizid, er hat sich selbst gerichtet, Anhaltspunkte, dass er von einem Polizeiprojektil getroffen wurde, gibt es derzeit nicht."
    Rainer Wendt, Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft
    Rainer Wendt, Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft. (Picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler)
    Die Polizei schätzte die Lage am Freitag bis in den späten Abend hinein als extrem gefährlich ein. Die Sicherheitskräfte gingen vom Schlimmsten aus – einem Terroranschlag.
    "Ich bin ja schon sehr stolz auf die Kolleginnen und Kollegen, die da eine gute Arbeit geleistet haben."
    Sagte der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, im Deutschlandfunk.
    "Man sieht, dass selbst, wenn die Information, die ja am Anfang auf einen terroristischen Anschlag hindeuteten, sich dann glücklicherweise nicht bestätigt haben, dass die Polizei in der Lage ist, eine solche Situation zu beherrschen."
    2.300 Polizeikräfte waren in München im Einsatz, Spezialkräfte der Länder, dazu die eigens aus St. Augustin bei Bonn eingeflogene GSG 9. Diese Spezialeinheit war 1972 nach dem blutigen Ende des Geiseldramas bei den Olympischen Spielen in München gebildet worden. In dieser Komplexität habe man Vergleichbares noch nicht erlebt. Und richtig sei:
    "Wer die Fernsehbilder gesehen hat, der hat natürlich gesehen, dass dort Einsatzkräfte im Einsatz waren, die eher in leichter Schutzbekleidung, nicht mit schusssicheren Helmen ausgerüstet waren, das wird aber in einer Anfangsphase eines solchen Einsatzes immer so sein, das ist bei Amoklagen übrigens auch so, da sind die einfachen Streifenpolizisten gehalten unter Inkaufnahme einer hohen Eigengefährdung auf den Täter zuzugehen und auf ihn einzuwirken. Damit wird die Polizei leben müssen."
    Wendt: Zufrieden mit dem Polizeieinsatz
    Geld sei nicht immer das Problem, sondern die Beschaffung. In einzelnen Bundesländern gebe es noch Nachholbedarf, aber die Bayern hätten da die Nase vorn. Mit dem Polizeieinsatz in München ist der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft aber auch aus einem anderen Grund zufrieden:
    "Die gute Nachricht daran ist, dass es gelungen ist, in kurzer Zeit, tausende Einsatzkräfte zusammenzubringen und diesen Einsatz sehr koordiniert ablaufen zu lassen. Einschließlich einer sehr professionellen Öffentlichkeitsarbeit, die verhindert, dass Panik in der Bevölkerung ausbricht."
    Professionelle Öffentlichkeitsarbeit: Die hatte am Freitagabend vor allem ein Mann zu verantworten.
    "Schönen guten Abend meine Damen und Herren, mein Name ist Marcus da Gloria Martins, ich bin Pressesprecher der Polizei…."
    Marcus da Gloria Martins, Pressesprecher der Polizei M
    Marcus da Gloria Martins, Pressesprecher der Polizei München (dpa)
    Marcus da Gloria Martins war der Mann, der die Journalisten auf dem Laufenden hielt – mit Informationen versorgte, aber auch vor Spekulationen und unseriösen Meldungen warnte. Ein Mittvierziger mit dunklem Haar und dunkler Brille, im senfgelben Polizistenhemd stand er vor einer Mikrofontraube – und bewahrte die Fassung.
    "Ich kann ihnen nur einen ersten Stand geben, dass wir um 17:58 den ersten Notruf bekommen haben, da war die Rede von einem Schusswechsel."
    Die Münchner Polizei hatte den Ernstfall erst vor wenigen Monaten proben müssen: In der Silvesternacht hatte es eine Terrorwarnung gegeben. Mehrere Bewaffnete seien angeblich in der bayerischen Landeshauptstadt unterwegs, der Hauptbahnhof wurde evakuiert, Hundertschaften der Polizei waren im Einsatz. Es war falscher Alarm. Wie er seine Aufgabe als Polizeisprecher versteht, machte Marcus da Gloria Martins auch damals klar. Es sei Aufgabe der Polizei, der Bevölkerung zu zeigen:
    "Wir machen hier nicht blinde Hysterie, wir gehen abgestuft vor. Aber wenn wir den große, roten Alarmknopf drücken, liebe Münchner, dann ist da auch was dran. Das ist oft schwierig und bedarf ganz viel Glaubwürdigkeit."
    Polizei München setzte auf soziale Medien
    Martins und seine Kollegen setzen dabei auch auf die sozialen Medien. Direkt-Kanäle wie Facebook und Twitter sind dabei unerlässlich. Auch gestern Abend twitterte die Münchner Polizei fast im Minutentakt:
    "Wichtig: Bitte keine Bilder und Videos von Hashtag Schießerei Hashtag München veröffentlichen."
    Stattdessen sollten Bilder und Videos vom Tatort auf einer eigens zur Verfügung gestellten Seite der Polizei hochgeladen werden – denn jedes Bild und jedes Video kann als Beweismaterial bei der Aufklärung der Tat helfen. Die Münchner Polizei twittert auch auf Englisch, Französisch, Spanisch und Türkisch. Ungewöhnlich mag wirken, dass die Polizei ihre Twitter-Leser duzt:
    "Bitte haltet Euch mit Spekulationen & Diskussionen hier momentan zurück. Damit würdet Ihr uns sehr unterstützen."
    "Passt auf Euch auf und meidet nach wie vor die Öffentlichkeit."
    "Dem, der bei einer Veranstaltung in einem Gebäude ist, raten wir, lieber dort zu verweilen, bis wir entwarnen können."
    "Damit können wir direkt mit unserer Kernzielgruppe, nämlich dem Münchner Bürger, interagieren. Das ist ja ein wichtiger Bereich der Öffentlichkeitsarbeit, auch in so einer Lage. Und da muss man die Waage finden zwischen dem drängenden Medienansturm und dem Anspruch, den Münchnern auch Infos aus erster Hand zu liefern."
    Sagt Münchens Polizei-Sprecher Marcus da Gloria Martins. Die Bevölkerung warnen, beruhigen, informieren – das ist der Dreisprung, der der Polizei beim Amoklauf am gestrigen Freitag offenbar gelungen ist. Jedenfalls waren die sozialen Netzwerke voll des Lobes für das besonnene und schnelle Vorgehen der Münchener Polizei. SPD-Fraktionschef Oppermann etwa twitterte:
    "Gut, dass es in einer so schrecklichen Nacht Polizeisprecher wie Marcus da Gloria Martins gibt."
    Dennoch ging vieles durcheinander. Im Internet zumal. Da kursierten Gerüchte, wie sie inzwischen bei jedem Attentat, Anschlag oder auch Amoklauf weltweit die Runde machen.
    Jenseits des Rheins sortierte die französische Zeitung "Le Monde" recht schnell, was Fotomontagen, was Falschmeldungen waren. Notgedrungen hat die Redaktion der Zeitung in Paris bereits große Routine im Umgang mit Terrorwarnungen mit Anschlags- und Attentatsszenarien. "Achtung Gerüchte" heißt eine eigene Rubrik, die "Le Monde" in Situationen wie diesen pflegt. Darin schreiben die französischen Journalisten an Ihre Leser und Online-Nutzer:
    "Gehen Sie prinzipiell davon aus, dass eine Information im Netz, die von einem Unbekannten stammt, eher falsch als richtig ist. Trauen Sie anerkannten Medien, nicht anonymen Twitter-Accounts. Ein Foto ist niemals ein Beleg an sich.
    Betrachten Sie mehrere Quellen. Seien Sie misstrauisch gegenüber angstmachenden Informationen."
    Im Netz kursierten falsche Fotos
    Gründe misstrauisch zu sein, gab es auch im Fall München viele. Da kursierte ein Foto, das Menschen auf dem Boden liegend zeigt. Angeblich ein Bild aus dem Innern des Olympia-Einkaufszentrums. Tatsächlich waren es Aufnahmen einer Anti-Terror-Übung in Großbritannien. Auf anderen Bildern sah man blutende Menschen neben Rolltreppe sitzen, angeblich wieder am Tatort in München, tatsächlich aber waren es Bilder eines Angriffs auf ein Einkaufszentrum in Südafrika im Januar 2015.
    Richtig von falsch zu trennen ist die Kunst in einer Lage wie dieser in München. Das gilt auch und insbesondere für Journalisten.
    Was bedeutet das für uns, für den Deutschlandfunk. Wie gehen wir um mit einer Nachrichtenlage, in der eine Eilmeldung die nächste jagt? Marco Bertolaso ist langjähriger Nachrichtenchef des DLF:
    "Wir müssen schnell sein, aber mit ruhigem Kopf. Ein Nachrichtenredakteur, eine Nachrichtenredakteurin muss vor allen Dingen Widerstand leisten können gegen den Druck der medialen Umwelt. Weil wir mit unserer Marke als Deutschlandfunknachrichten nur das melden können, was wir für hinreichend bestätigt halten.
    Sorgfalt vor Schnelligkeit
    Neben diese immer schon geltende, ich nenne das passive Tugend, muss heute aber auch eine aktive Tugend treten, denn, wenn Eilmeldungen, Gerüchte… in der Welt sind, dann ist die Welt nicht besser geworden, wenn wir es einfach nicht melden und sagen, wir waschen unsere Hände in Unschuld, da müssen wir uns aktiv damit auseinandersetzen, Mythen, Gerüchte dekonstruieren und denen entgegentreten."
    Für die Juli-Nacht von München hieß das konkret was?
    "Ein Beispiel aus der letzten Nacht, vom letzten Abend war, dass recht früh, ab 19 Uhr überall gemeldet wurde, es gebe eine Spur, die in München zum Islamismus führt. Das kann man nun nicht melden. Und das haben wir erst einmal auch getan. Dann sahen wir aber, wie wichtig das wird, dann mussten wir uns dem stellen, damit unsere Hörer und Nutzer nicht in die falsche Richtung geschickt werden."
    Einordnen, sagt DLF-Nachrichtenchef Bertolaso, sei wichtig. Manchmal müsse ein Gerücht, von dem man ahnen könne, dass es ein Gerücht sei, den Hörern und Online-Nutzern genannt und mit dem Zusatz versehen werden:
    "Das hören, das lesen Sie woanders, und wir sagen Ihnen, es gibt dafür keine hinreichende Grundlage."
    Beim Amoklauf von München hatte der Deutschlandfunk früh Hinweise, dass der Täter womöglich Opfer per Facebook anlocken wollte.
    "Das ist ein Beispiel dafür, dass wir manchmal, wie in diesem Fall, Informationen sogar mit als erste haben, aber darauf verzichten, die zu melden, wenn wir das nicht bearbeiten können. Was meine ich damit? Wir hatten von einem Kollegen aus dem Haus Hinweise, dass über Facebook gezielt, möglicherweise, von dem Täter von München unter einem Alias über Facebook Jugendliche an dieses Schnellrestaurant in der Nähe des Olympiazentrums geholt wurden, mit einer Einladung. Das sah alles einigermaßen plausibel aus, wir hatten aber nicht die Kraft, das recherchierend bearbeiten zu lassen, und konnten die Geschichte dann erst heute Mittag aufgreifen, und waren zwar noch die ersten, aber nur um um fünf Minuten, aber nicht, wie es hätte sein können, um zwölf Stunden."
    Sorgfalt vor Schnelligkeit, unterstreicht der DLF-Nachrichtenchef, Marco Bertolaso:
    "Ich sehe noch eine andere Gefahr. Nämlich, dass das Informationsgeschäft unter dem ökonomischen, aber auch unter dem Zeitdruck abrutscht in eine Mischung aus Kampagnen und- Mainstreamjournalismus. Das heißt, dass fast alle Redaktionen einige wenige große Themen aufgreifen und zwar, weil die anderen die auch aufgreifen. Ein Kreislauf, der sich immer dreht."
    Polizisten stehen am 31.12.2015 in München (Bayern) vor dem Hauptbahnhof.
    In München ist weiterhin der Hauptbahnhof gesperrt. (picture alliance / dpa / Sven Hoppe)
    Die Ereignisse der Silvesternacht seien dafür das beste Beispiel:
    "München ist für mich da eine Warnung. Weil wir nämlich nicht gestern, sondern in der Silvesternacht alle ganz hektisch und unter Aufbietung aller Kräfte über angebliche Terrorgefahr rund um den Hauptbahnhof berichtet haben. Die eigentliche Geschichte in der Silvesternacht war aber der Kölner Hauptbahnhof. Und da hatte keine Redaktion in Deutschland Kraft und Zeit hinzugucken. So was darf uns nicht passieren!"
    Amokläufer suchen offene Bühne
    Journalisten haben eine große Verantwortung – aber auch die Nutzer im Netz, die Meldungen und Bilder weiterverbreiten, möglicherweise sogar selbst am Tatort mit ihrem Handy filmen. Die Verantwortung ist groß, nicht nur weil Spekulationen ins Kraut schießen und Falschmeldungen verbreitet werden können. Sondern auch, weil diese Berichterstattung potenzielle Amokläufer animiert. So sieht es zumindest der Psychologe Jens Hoffmann, der in Darmstadt das Institut Psychologie und Bedrohungsmanagement betreibt. Amokläufer – und darin unterscheiden sie sich möglicherweise nicht so sehr von Selbstmordattentätern – suchten die öffentliche Bühne, den medialen Thron:
    "Ich denke, dass die Zuschauer, die ja gleichzeitig auch mitberichten, von jüngeren Tätern auch antizipiert werden. Also diese mediale Spiegelung, die inzwischen Teil vieler Inszenierungen ist, ich denke, das beeinflusst die Tat-Dynamik und das gibt auch mir eine Möglichkeit, dass ich sage, ich mache etwas, und das wird weltweit wahrgenommen."
    Ein Terrorakt oder ein Amoklauf – die mediale Aufmerksamkeit ist in jedem Fall enorm. Für die Täter sei es eine Genugtuung zu wissen, dass nach ihrem Tod ihr Gesicht, ihr Name, vielleicht sogar ihre Wohnung und Details aus ihrem Leben in den Medien gezeigt würden, im Internet für alle Zeiten verfügbar seien. Sie machten sich so unsterblich – und das wiederum animiere Nachahmer, sagt der Psychologe Jens Hoffmann:
    "Es ist furchtbar. Wir produzieren die nächsten Täter mit. Und deshalb plädieren wir auch, auch in unserem Forschungsverbund, von Amokforschern und Radikalisierungsforschern, bitte verpixelt die Gesichter und nennt nicht die Namen. Das hat eine Anziehungskraft. Und interessanterweise ist dieser Effekt schon sehr, sehr alt. Schon vor 100 Jahren hat ein Kriminologe geschrieben, bitte von den Attentätern auf die Präsidenten, macht die unsichtbar, weil das zieht sie an."
    Es zieht Menschen an, die möglicherweise psychisch krank sind, an einen Suizid denken und ihr Leben mit einem großen Auftritt beenden wollen. Hier schließt sich ein Kreis: Die Grenze zwischen dem verwirrten Amokläufer und dem Selbstmordattentäter, der den Islamismus als Ausweg aus seiner Lebenskrise sieht, ist fließend.