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Anarchie in der Nachkriegszeit
Unter der dünnen Decke der Zivilisation

Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, da war das noch lange nicht das Ende von Gewalt und Grausamkeit. Der britische Historiker Keith Lowe zeigt in seinem Buch "Der Wilde Kontinent", dass es Chaos und Anarchie waren, die Europa nach Kriegsende beherrschten. Dabei scheint er manchmal selbst von dem Schrecken, den er schildert, übermannt zu werden.

Von Martin Hubert | 08.12.2014
    Die sogenannten "Trümmerfrauen" arbeiten im Mai 1945 in Berlin an der Beseitigung der Trümmer von im 2. Weltkrieg zerstörten Häusern.
    Trümmerfrauen in Berlin nach dem Krieg 1945 - nicht nur Häuser waren zerstört, sondern ein "gesamtes Modell des Lebens", schreibt Lowe. (picture-alliance / Ursula Röhnert)
    Die europäische Erinnerungspolitik an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg - eine Legende? Keith Lowe provoziert mit genau dieser These und fasst sie in sie einem Verlagstrailer zu seinem Buch pointiert zusammen.
    "Ein recht behaglicher Mythos besagt, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schnell wieder Normalität einkehrte. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Denn alles, was vor dem Krieg existierte, wurde durch ihn völlig zerstört. Ich meine dabei nicht nur Eisenbahnlinien, Gebäude oder Fabriken. Ich spreche von einem gesamten Modell des Lebens."
    Das klingt so radikal wie übertrieben. Trotzdem hat Lowe nicht ganz unrecht. Schließlich ist bekannt, dass vieles in den europäischen Ländern direkt nach 1945 in Schutt und Asche lag, dass es Vertreibungen gab, Racheakte, Hungersnöte und politisches Chaos. Allerdings betrachten historische Rückblicke diese Zeit meist als reines Übergangsphänomen. Betont wird vor allem, wie schnell und erfolgreich sich die europäischen Staaten nach dem Krieg wieder erholten und den Prozess der europäischen Vereinigung einleiteten. Oft stehen dabei auch nur nationale oder westeuropäische Entwicklungen im Vordergrund. Lowe dagegen will ein ungeschminktes Bild der gesamteuropäischen Entwicklung liefern. Sein Ausgangspunkt ist, dass das Gewaltklima, welches durch Nazideutschland und seine Verbündeten in Gang gesetzt wurde, nicht wie durch Zauberhand plötzlich verschwand. Allein schon deshalb nicht, weil viele Täter weiter lebten. Lowe schildert das in einer Weise, die den Leser nicht schont.
    "Für manche dieser Menschen wurde das Töten zur Sucht. In Kroatien beschränkten sich die Ustascha-Milizionäre bei ihrem Ausrottungsfeldzug gegen die serbische Bevölkerung nicht darauf, ihre Opfer zu töten, sondern nahmen sich auch die Zeit, den Frauen die Brüste abzuschneiden und die Männer zu kastrieren. In Drama in Nordostgriechenland spielten bulgarische Soldaten Fußball mit den Köpfen ermordeter Griechen. Im Vernichtungslager Kulmhof nahmen deutsche Wachen Babys, die noch lebten, als sie aus dem Gaswagen geholt wurden, und schleuderten sie gegen Baumstämme, um ihnen den Schädel zu zertrümmern. Und nun ordneten sich überall in Europa solche Menschen wieder in die Gemeinschaften ein."
    Es wurde gestohlen, geplündert, gemordert
    Ausführlich behandelt Lowe, wie die Lebensbedingungen nach dem Krieg dazu betrugen, dass Europa, wie er es sieht, einige Jahre in Anarchie versank. Es herrschte Obdachlosigkeit, der Hunger war so groß wie der Hass auf den Feind, die staatliche Ordnung zum großen Teil aufgelöst. Also wurde gestohlen, geplündert und gemordet. Allein Anfang 1946 wurden in Berlin pro Tag 240 Diebstähle und Raubüberfälle angezeigt, die Dunkelziffer ist hoch. Lowe hat eine Unmenge solcher Fakten aus Archiven und der Sekundärliteratur zusammengetragen und zählt sie oft seitenweise Punkt für Punkt auf. Zahlreiche Karten, Fotografien und Augenzeugenberichte verleihen diesem Faktenmaterial anschauliche Brisanz. Etwa wenn Lowe den Erfahrungsbericht eines britischen Soldaten aus Italien zitiert.
    "Es ist ein furchtbarer Fehler, Nahrungsmittel willkürlich in eine Menge hungriger Menschen zu werfen. Die Menschenmenge verwandelte sich augenblicklich in ein Gewirr von Körpern, die um die Nahrung auf dem Boden rangen. Männer schlugen sich und traten einander in roher Entschlossenheit, um sich die Dosen anzueignen. Frauen zogen einander Nahrung aus den Mündern, um sie Kindern in die Hände zu drücken, die in dem Tumult totgetrampelt zu werden drohten."
    In zwei großen Kapiteln behandelt Lowe ethnische Säuberungen und Bürgerkriege nach dem Weltkrieg. Die ethnischen Exzesse sieht er als direkte Folge nationalsozialistischer Expansions- und Ausrottungspolitik, die die gewachsene Bevölkerungsstruktur in Europa zum großen Teil zerstört hatte. Lowe schildert den Nachkriegsantisemitismus in Polen und Ungarn und die Flucht überlebender Juden aus Europa. Oder die brutalen ethnischen Auseinandersetzungen zwischen Polen und Ukrainern, nachdem plötzlich neue Grenzen zwischen den Ländern gezogen worden waren. Und er beschreibt, wie Amerikaner und Russen in ihren Territorien bedingungslos ihre Machtsphären sicherten. Wobei die Amerikaner eher auf ökonomischen Druck, das Sowjetregime nicht nur in Rumänien eher auf stalinistische Zwangsmittel setzte. Lowe verschweigt nicht, dass auch Gewalt gegen Kommunisten ausgeübt wurde und erinnert an unterbelichtete Formen des Widerstands gegen die kommunistische Machtübernahme.
    "Dies war gerade in jenen Teilen Europas der Fall, die bereits wussten, was es heißt, unter der Knute der Sowjets zu stehen. Insbesondere in den baltischen Staaten und der späteren Westukraine kamen nationalistische Bewegungen auf, die sich aus straff organisierten, glühenden Patrioten zusammensetzten, die bereit waren, im Kampf ihr Leben zu opfern. Anders als ihre Nachbarn im Süden gaben sie sich keinen Illusionen über die Absichten Stalins hin. Dieser Krieg sollte bis weit in die Fünfzigerjahre hinein dauern und Zehntausende von Toten auf allen Seiten fordern."
    Massenhafte Vergewaltigung von Frauen
    "Rache" das dritte große Kapitel von Lowes Buch, schildert die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten, Gewalt gegen Nazikollaborateure und KZ-Wächter und vieles andere mehr. Breiten Raum nimmt die massenweise Vergewaltigung von Frauen ein, bei der keineswegs nur, aber häufig deutsche Frauen die Opfer und russische Soldaten die Täter waren. Lowe macht klar, dass das auch eine Reaktion auf vorher begangene deutsche Verbrechen war. Bisweilen unterlaufen ihm dabei jedoch Formulierungen, die problematisch klingen.
    "Die in der Ostdokumentation des Bundesarchivs in Koblenz gesammelten Augenzeugenberichte (über Vergewaltigungen) lesen sich ähnlich monoton wie die Beschreibungen des Massenmords an den Juden in den Nürnberger Prozessen: Es ist eine unerträgliche, nicht enden wollende Wiederholung des Grauens."
    Lowe will aber nicht das eine Unrecht gegen das andere aufrechnen, er scheint nur manchmal selbst von dem Schrecken, den er schildert, übermannt zu werden. Eine Theorie darüber, wie die unterschiedlichen Formen der Gewalt und Anarchie zu kategorisieren und zu bewerten sind, bietet er allerdings nicht an. Man kann ihm das als Mangel ankreiden, muss aber zugestehen, dass er sich hauptsächlich als Dokumentar dieser anarchistischen Periode versteht. Als solchem ist ihm zweifellos ein beeindruckend informatives Buch gelungen, das vor Augen führt, wie dünn die Decke der Zivilisation auch in Europa sein kann.
    Keith Lowe: "Der wilde Kontinent. Europa in den Jahren der Anarchie 1943 - 1950". (Übersetzung: Stephan Gebauer; Thorsten Schmidt), Klett-Cotta Verlag, 526 Seiten, 26,95 Euro, ISBN: 978-3-608-94858-5.