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András Forgách: "Akte geschlossen. Meine Mutter, die Spionin"
Die Geheimnisse der Frau Pápai

Viele Jahre nach dem Tod seiner Mutter musste der ungarische Dramatiker und Filmemacher András Forgách ihr dunkles Geheimnis entdecken: Sie hatte als IM für den ungarischen Geheimdienst gespitzelt. Sein Buch ist eine Spurensuche, ein Zeitbild und - trotz allem - auch ein postumes Liebesbekenntnis.

Von Julia Schröder | 26.03.2019
András Forgach: "Akte geschlossen. Meine Mutter, die Spionin"
Stand auch beim Aufstand 1956 treu an der Seite des Regimes: Die Mutter von András Forgách (Cover: S. Fischer Verlag / Foto: picture-alliance / dpa / UPI)
"Es gibt Dinge, die können wir nur verstehen, wenn sie uns selbst widerfahren. (…) Eines dieser Ereignisse ist der Tod der eigenen Mutter. Der Tod der Mutter ist ein Ereignis kosmischen Ausmaßes."

So hätte der ungarische Autor András Forgách sein Buch anfangen können. Er weiß das natürlich auch:

"Oder wenn eines schönen Tages (na gut, eines nicht ganz so schönen Tages) herauskommt, dass deine Mutter berichtet hat. Jemand ruft dich an, der durch Zufall darauf gestoßen ist. Eine Akte ist ihm in die Hände gefallen. Ein typischer Anfang."
Ein Anruf - und das ganze Leben steht in Frage
Aber András Forgáchs Buch "Akte geschlossen – Meine Mutter, die Spionin" ist kein Roman, bei dem ein schmissiger Anfang schon die halbe Miete garantiert. Dieses Buch ist vielmehr eine große Übung. Eine Übung in dem, was einem blüht, wenn eine zerschmetternde Wahrheit alles außer Kraft setzt, was im eigenen Leben zu gelten schien. Zugleich unterzieht der Autor die Möglichkeiten der Literatur einer Belastungsprobe: Wie weit kann das Erzählen von einer das eigene und das Leben der anderen prägenden Lüge gehen, bevor es selbst zur Lüge wird?
Erst im dritten Teil des Buchs kommt die Wirkung der Wahrheit auf den bis dahin Ahnungslosen, der Schmerz des Zurückgebliebenen vor, nach 240 Seiten, unter der denkbar unspektakulären Überschrift "Noch etwas". Zuvor aber stellt das erste, allerlängste Großkapitel "Frau Pápai" vor. Frau Pápai, so lautete der Deckname, den die Führungsoffiziere des ungarischen Geheimdienstes ihrer Inoffiziellen Mitarbeiterin, András Forgáchs Mutter Bruria, verpasst hatten:
"Zum Treffen erschien Frau Pápai pünktlich. Die Herren verspäteten sich um ein Viertelstündchen, wofür sie sich demütigst entschuldigten, um Frau Pápai anschließend einen Blumenstrauß anlässlich ihres 60. Geburtstags zu überreichen."
Die sehr konstruktive Frau Pápai
In demselben munteren Plauderton wird im Folgenden das betörende Lächeln der verdienten Mitarbeiterin erwähnt, ihr unverkennbarer Akzent und eine mit volkstümlichen Motiven bestickte Tischdecke, welche die "Herren" vom Ministerium des Inneren der Jubilarin bei Kaffee und Kuchen im Café "Angelika" am Batthyány-Platz überreichen. Die liebevoll ausgepinselte, abschweifungsreiche Szene von ausgesuchter Harmlosigkeit gipfelt allerdings in Frau Pápais überraschender Ansage, sie wolle so nicht mehr weiterarbeiten. Und zwar, weil sich im Apparat ja offenbar niemand für ihre konstruktiven Vorschläge interessiere.

Nein, "Frau Pápai", so viel ist schon nach kaum 20 Seiten klar, ist kein zur Spitzelei erpresstes Opfer, sondern eine vom Glauben an den Sozialismus derart durchdrungene Genossin, dass es keine große Herausforderung dargestellt hat, sie als Nachfolgerin ihres Mannes Marcell – alias IM "Pápai" - anzuwerben, als dieser nach mehreren psychischen Zusammenbrüchen zum "Berichten" an den Geheimdienst nicht mehr in der Lage war.

Der Sohn András, wie seine drei Geschwister in diesen Jahren Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger allesamt in Ungarns dissidentischen Künstler- und Literatenkreisen unterwegs, erfuhr von den Spitzeltätigkeiten seiner Eltern erst zwei Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, als sein Vater und seine Mutter längst tot waren. Doch während die meisten Akten des Vaters heute nicht mehr aufzufinden sind, blieben die Dossiers der Mutter in vernichtender Vollständigkeit erhalten. Vernichtend, weil darin nachzulesen ist, dass "Frau Pápai" nicht nur Bekannte und entfernte Verwandte bespitzelte, sondern auch ihre eigenen Kinder.
Sie empfahl sogar den eigenen Sohn als IM
Ja, schlimmer noch: Die Mutter empfahl den Führungsoffizieren den Sohn zur Anwerbung. Im Kapitel "Der Versuch" wird ausführlich das Gespräch geschildert, das ein Geheimdienstmann um 1980 herum mit dem jungen András im Dienstsitz der Behörde führte, inklusive einer genauen Beschreibung der architektonischen Details dieses ehemaligen Großlogenhauses der Budapester Freimaurer. Mit jedem Einschussloch in dem ehemals repräsentativen Gebäude, jedem entfernten symbolischen Zierrat, jedem nachträglichen Zweckeinbau dehnt sich der historische Hallraum des oberflächlich banalen gegenwärtigen Geschehens.
Hier wie auch anderenorts zitiert Forgách in teils ausführlichen Fußnoten aus Original-Protokollen, die er in den Geheimdienstakten gefunden hat. Diese trockenen Texte lesen sich wie ein ergänzender, stellenweise konterkarierender Kommentar zur grimmig-komischen Erzählung. Vor allem aber machen sie kenntlich, dass es sich bei ebendieser Erzählung, so virtuos und einfallsreich sie gestaltet ist, um die farbenfrohe Kulisse vor einer finsteren Realität handelt.

Finster genug ist nämlich, was der Autor, Jahrgang 1952, als Motiv hinter der Bereitschaft seiner Eltern erkennt, sich dem Kádár-Regime - nicht nur als Spitzel, sondern als gläubige Sozialisten - auf Gedeih und Verderb zu überlassen: ihr gemeinsames Trauma, ihre von der Schoa geprägten Lebensgeschichten.
Forgáchs Mutter Bruria, geboren 1922, wuchs im Jerusalem der dreißiger Jahre heran, als Tochter eines namhaften jüdischen ungarischen Emigranten, des Dichters und Thomas-Mann-Übersetzers Mordechai Avi-Shaul, während die Verwandten in Ungarn wie durch ein Wunder die Verfolgung durch die faschistischen Pfeilkreuzler überlebten. Forgáchs Vater Marcell hingegen entkam als einziger seiner Familie der Ermordung der ungarischen Juden. In Palästina lernten sich die beiden kennen. Was sie von vielen anderen damals nach Palästina ausgewanderten Holocaust-Überlebenden unterschied und sie einte, war ihre antizionistische, kommunistische Überzeugung:

"Ein lebender Jude, der den Zionismus hasst. Was für ein Widerspruch. (Mein Vater Marcell) hatte alles verloren, aber er errang den Hauptpreis, die schönste Frau auf Erden, die an dasselbe glaubte wie er, und noch dazu glaubte sie auf dieselbe Weise wie er."
Anti-faschistisch, anti-zionistisch und radikal kommunistisch
Nachdem sie kurz nach Kriegsende geheiratet hatten, gingen Forgáchs Eltern nach Budapest - und damit in ein Land, dessen Sprache die Mutter Bruria nie ganz korrekt sprechen lernte, dessen Mehrheitsgesellschaft keinen Hehl aus ihrem Judenhass machte. Auch Brurias Verwandte wollten von den beiden Spätrückkehrern nicht viel wissen. Marcells Karriere als Journalist und Schriftsteller kümmerte jahrelang vor sich hin, Geld wie gesellschaftliche Anerkennung blieben aus - bis 1956. Während der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes waren Marcell und Bruria endlich einmal auf der "richtigen" Seite, nämlich auf der des Regimes.
Zur Belohnung wurde die ganze Familie nach London geschickt, der Vater offiziell als Korrespondent des ungarischen Pressedienstes und inoffiziell als Geheimagent für das ungarische Innenministerium. Folgt man der erzählenden Rekonstruktion des Sohnes, scheiterte der Vater allerdings bei dieser Agententätigkeit. So wie bei praktisch allem in seinem Leben. Dieses Scheitern des Vaters, die Hassliebe der Mutter für Israel, ihr uneingestandenes Heimweh und die zutiefst niederschmetternde Erfahrung, wirklich nirgends zu Hause zu sein, all diese Motive umranken das Hauptthema, den Verrat, auf eine Weise, dass sich das Gesamtbild einer unausweichlichen Tragik einstellt.
Trotz allem: Ein Buch der nachgetragenen Liebe
Alles wird noch einmal aufgegriffen und verdichtet in den fünf Gesängen des zweiten Kapitels. Es sind Porträts von Bruria und Marcell in Versen, vergegenwärtigt von einem lyrischen Ich, das sich müht, Erinnerung und neues Wissen wenigstens in der Sprache zur Deckung zu bringen.
András Forgáchs Landsmann und Generationsgenosse, der 2016 verstorbene Péter Esterházy, hat die postume Entdeckung, dass sein verehrter und in "Harmonia Caelestis" verewigter Vater Geheimdienstspitzel war, in seinem radikal subjektiven Schmerzensbuch "Verbesserte Ausgabe" verarbeitet. Forgách hingegen macht aus dem vernichtenden "Ereignis kosmischen Ausmaßes", so paradox es anmuten mag, ein Buch der radikalen Zuwendung, der nachgetragenen Liebe.
Leider ist es dem Verlag nicht gelungen, aus der insgesamt respektgebietenden Übersetzung von Terézia Mora einige grobe Flüchtigkeitsfehler zu tilgen. Da wird zum Beispiel "in alphabetischer Order" aufgezählt, oder ein Offizier "gleitete" - statt "glitt" - in einen Gemütszustand. Dessen ungeachtet sind diesem großen Lebens- und Zeitbild viele Leser zu wünschen - und mindestens eine zweite, tatsächlich "verbesserte" Auflage.
András Forgách: "Akte geschlossen. Meine Mutter, die Spionin"
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 350 Seiten, 24 Euro