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Angehörigen-Entlastungsgesetz
Entlastung für Angehörige, Belastung für Kommunen

Wenn das Sozialamt bei den Pflegekosten einspringt, holt es sich Geld von Angehörigen zurück. Ab Januar ändert sich das, dann müssen erwachsene Kinder nur zahlen, wenn sie mehr als 100.000 Euro Bruttoeinkommen haben. Die Kommunen fürchten die Mehrkosten und einen Anstieg bei den Heimunterbringungen.

Von Katrin Sanders | 29.12.2019
Vater mit erwachsener Tochter im Park
Bis zu 300 Millionen Euro Pflegekosten wurden bislang jährlich von erwachsenen Kindern zurückgefordert, wenn ein Elternteil ins Heim kam und den Eigenanteil nicht zahlen konnte (imago images / emil umdorf)
Alle Gesetze der Großen Koalition sind schon dem Namen nach viel versprechend: Gute Kita, starke Familien oder Arbeit-von-morgen heißen sie. In diese Positiv-Reihe passt bestens das jetzt kommende Angehörigen-Entlastungsgesetz. Ab dem 1. Januar 2020 bringt es mehr soziale Sicherheit für Familien, in denen bislang noch hohe Anteile für Heim- und Pflegekosten zu zahlen sind. Arbeitsminister Hubertus Heil skizzierte Ende November im Bundestag die Notwendigkeit:
"Da die gesetzliche Pflegeversicherung, jedenfalls in kürzerer Zeit, keine Pflegevollsicherung mit Pflegevollkasko ist. Es ist ganz oft so, dass Menschen, die pflegebedürftig werden, ergänzende Hilfe zur Pflege vom Amt brauchen. Das Blöde ist nur, dass es einen Unterhaltsrückgriff auf die Kinder gibt."
Bis zu 300 Millionen Euro Pflegekosten wurden bislang jährlich von den erwachsenen Kindern zurückgefordert, wenn der alte Vater, die alte Mutter ins Heim kam und die geforderten Eigenanteile nicht selbst aufbringen konnte. Im Schnitt geht es hier um rund 1.900 Euro pro Monat, die kaum einer aus der Durchschnittsrente aufbringen kann. Wenn das Sozialamt einspringen muss, holt es sich im nächsten Schritt das Geld von den Angehörigen zurück. Für Bundesarbeitsminister Hubertus Heil ist eine Gesetzesänderung dringend nötig.
"Wenn man sich das vergegenwärtigt, dass es für viele Familien emotional belastend ist, wenn Angehörige pflegebedürftig werden, dass es organisatorisch anstrengend ist, dass es oft Menschen sind, die in der Mitte des Lebens stehen, die arbeiten, die vielleicht noch Kinder erziehen. Dann ist es unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit jedenfalls unkalkulierbare finanzielle Risiken beim Unterhaltsrückgriff diesen Menschen von den Schultern zu nehmen. Und das machen wir heute, meine Damen und Herren."
Kosten für Pflegeheime übersteigen jede Durchschnittsrente
Nur wer mehr als 100.000 Euro pro Jahr verdient, wird künftig für die pflegebedürftigen Eltern in Regress genommen. Dasselbe gilt für Eltern erwachsener Kinder mit Behinderung. Für die Eigenanteile von erwachsenen Kindern bei den Pflegekosten zahlten bisher die Eltern auf unbestimmte Zeit - unbegrenzt. Denn die Pflegeversicherung deckt die Kosten nur zu Teilen ab, obwohl es die Gründungsidee war, die Leute aus der Sozialhilfe und aus der Abhängigkeit von den Angehörigen zu holen. Ines Verspohl vom Sozialverband VDK Deutschland begrüßt in diesem Punkt das Angehörigen-Entlastungsgesetz in der öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales:
"Das ist jetzt wieder der Normalfall. Ein Platz im Pflegeheim kostet im Durchschnitt 2.000 Euro Eigenanteil. Das übersteigt jede Durchschnittsrente. Und eigentlich sollte unser modernes Sozialsystem das abfedern, dass man nämlich eine Rente hat und eine Pflegeversicherung und nicht darauf angewiesen ist, möglichst viele gut verdienende Kinder zu haben, um im Alter abgesichert zu sein. Es ist auch eine Form der gesellschaftlichen Gerechtigkeit. Es gibt Familien, die haben drei Pflegefälle. Da sind Familien stark belastet durch jahrelange Heimkosten. Andere Familien haben keinen Heimpflegefall. Und deshalb finden wir, das ist eine Aufgabe, die muss die gesamte Gesellschaft schultern und nicht einzelne Familien."
Die Zahl der alten Menschen, die nicht zum Sozialamt gehen, weil sie befürchten, dass ihre Kinder zu den Heimkosten herangezogen werden, ist unbekannt. Aber dass es sie in großer Zahl gibt, ist unstrittig. Kaum jemand hat deshalb Einwände, dass unkalkulierbare Kosten auf unabsehbare Zeit jetzt der Vergangenheit angehören. Die neue Regelung ist sozial und transparent.
Kritik von Städten und Gemeinden
Doch was die einen entlastet, bedeutet bislang ungedeckte Mehrkosten auf der anderen Seite. Es sind zusätzliche Ausgaben, die mit den Städten und Gemeinden nicht abgesprochen waren, kritisiert Helmut Dedy vom Deutschen Städtetag:
"Nein, abgesprochen war das Angehörigen-Entlastungsgesetz nicht. Das ändert nichts daran, dass es im Kern ein gutes Gesetz ist, weil wir bei der Pflege die Situation haben, dass es immer teurer wird. Mehr Menschen müssen in Pflege und das bedeutet für die Angehörigen natürlich auch immer die Sorge vor finanzieller Überforderung. Diese Sorge wird gedämpft. Das finde ich ganz positiv. Ich hätte mir nur gerne gewünscht, dass der Bund gesagt hätte: Wir wollen dieses Gesetz, wir bestellen das. Aber dann bezahlen wir auch. Nur das tut der Bund nicht. Und wir fordern, dass der Bund die finanzielle Verantwortung für seine eigene Politik übernimmt. Und das heißt, wir brauchen die 500 Millionen Euro pro Jahr. Jetzt. Und wir brauchen sie vom Bund."
Heike Jakobi vom ehrenamtlichen Kranken-Lotsendienst schiebt einen Patienten zur Therapie im Albertinen-Haus in Hamburg.
Ein Heimplatz kostet im Schnitt 4.000 Euro pro Monat - rund 1.900 Euro davon müssen die Pflegebedürftigen aufbringen (dpa / Christian Charisius)
Im Bundesministerium für Arbeit und Soziales allerdings beziffert man die Kosten, die jedes Jahr neu auf die Kommunen zukommen, nur auf 300 Millionen Euro. Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags rechnet dagegen mit steigenden Ausgaben bei den Hilfen zur Pflege und geht daher von 500 Millionen Euro Mehrkosten in den nächsten Jahren aus. Helmut Dedy:
"Also, einmal haben wir ja eine Prognose für die pflegebedürftigen Menschen. Wir haben 2017 dreieinhalb Millionen Pflegebedürftige. 2035 rechnen wir mit einer Million Menschen mehr. Also, dass dort mehr Geld in das System fließen muss, das ist völlig klar. Die Frage ist, welche Verhaltensänderungen gibt es jetzt durch das Gesetz? Wenn ich weiß, dass ich für meine Eltern nicht mehr aufkommen muss, weil ich nicht entsprechend verdiene, dann könnte ein Anreiz entstehen zu sagen: Ich bin vielleicht etwas eher bereit, mich mit meinen Eltern gemeinsam über die Frage eines Pflegeheims auseinanderzusetzen. Und vielleicht sind sie auch etwas eher bereit, so etwas in Anspruch zu nehmen, weil sie wissen, ihre Kinder werden dafür nicht in Anspruch genommen."
Düsseldorf: Angehörige zahlen momentan im Schnitt 190 Euro
Ein Besuch im Düsseldorfer Rathaus bei Stadtdirektor und Sozialdezernent Burkard Hintzsche. Im Sozialetat der Landeshauptstadt summieren sich die Hilfen zur Pflege, sowohl stationär als auch ambulant, auf 46 Millionen Euro jährlich. Was da in Zukunft die Entlastung von Angehörigen bedeutet, klärt Hintzsche mit einem Blick in die Bücher:
"Also man muss ehrlicherweise sagen, dass die Beträge, die wir heute bei den Angehörigen holen, bei den Gesamtaufwendungen der Hilfe zur Pflege, einen Anteil von zwei bis drei Prozent ausmachen. Mehr ist das nicht. Ein Heimplatz kostet 4.000 Euro. Da gehen die Leistungen der Pflegeversicherung, das Pflegewohngeld in Nordrhein-Westfalen zahlt darauf ein, dann bleibt vielleicht eine Lücke von 1.000 Euro zum Pflegesatz. Und dann gucken wir eben, was die Angehörigen für ein Einkommen beziehen, ziehen sie heran. Und der durchschnittliche Heranziehungsbetrag, das muss man mal sehen, der durchschnittliche liegt bei 190 Euro."
Noch gibt es ein eigenes Sachgebiet mit 5,5 Stellen für die Prüfung der Einkommensverhältnisse. Besondere Situationen, wie Hausbau oder Wechsel des Arbeitsplatzes, werden dabei berücksichtigt. Solche Prüfungen und auch diverse Rechtsstreitigkeiten um diese Forderungen entfallen künftig. Aber es entfallen auch die Einnahmen. Die tatsächliche Mehrbelastung für den städtischen Haushalt kann Burkhard Hintzsche nur schätzen:
"Also wir haben drei Fallgruppen. Die eine ist die Fallgruppe ist die Gruppe, bei der wir den Unterhalt zu uns übergeleitet haben, die wir selber heranziehen, deren Einkommenssituation wir kennen. Da gehen wir davon aus, dass 80 Prozent aufgrund der Neuregelung künftig keinen Unterhalt mehr zahlen müssen. Das macht dann für den kommunalen Haushalt eine Mehrbelastung von etwa einer Million Euro aus. Die zweite Gruppe sind diejenigen, die in der Vergangenheit nicht herangezogen worden sind, aber freiwillig einen Beitrag bezahlt haben. Und da kann es natürlich dazu kommen, dass freiwillige Leistungen auch eingestellt werden."
Sozialdezernent: Pflegekosten müssten voll gedeckt werden
Für 2020 schätzt er für Düsseldorf die zusätzlichen Sozialkosten auf weniger als zwei Millionen Euro ein. Der Betrag ist bereits im nächsten Haushalt eingestellt und verabschiedet. Von Kürzungen an anderer Stelle will Hintzsche nicht reden. Das fände er unfair. Dass es aber in anderen NRW-Städten zu prekären Einschnitten kommen könne, sei durchaus vorstellbar. Zwei Millionen Euro zusätzliche Sozialkosten – das ist auch für die NRW-Landeshauptstadt keine Kleinigkeit. Als Sozialdezernent aber steht Hintzsche uneingeschränkt hinter der finanziellen Entlastung von Familien bei den Pflegekosten. Und dass dies zu weniger Solidarität in den Familien führe, wie manche befürchten, glaubt er nicht:
"Ich gehe eigentlich davon aus, dass alle, wenn ein Handicap eintritt, ob es nun das Handicap der Pflege ist oder ein anderes, dass dann die Familie guckt, dass es eine gute Versorgungsstruktur für den Angehörigen gibt. Das ist sicherlich das Regelmodell an der Stelle und da sage ich mal ganz ehrlich: Das Thema Pflege ist ein allgemeines Lebensrisiko und ist aus meiner Sicht als Sozialdezernent insofern auch durch eine Versicherungsleistung eigentlich vollumfänglich zu decken. Und wenn wir in Deutschland die Situation hätten, dass die Pflegeversicherung den Pflegeaufwand komplett decken würde, dann hätten wir ja diese Situation gar nicht. Insofern, sage ich mal, ist die Lösung eigentlich an einer anderen Stelle zu suchen."
Nur ein theoretischer Anspruch für Menschen mit Behinderung?
Parlamentarischer Abend der Lebenshilfe NRW im Landtag von Nordrhein-Westfalen. Viele der Aktiven im Landesverband hier wünschen sich eine solche "umfassendere Lösung an anderer Stelle". Für sie ist nämlich das Angehörigen-Entlastungsgesetz nicht mehr als ein Reparatur-Gesetz auf dem viel verzweigten Weg des Bundesteilhabe-Rechts.
Max Haberland, seit 20 Jahren in den Aachener Werkstätten beschäftigt, wird energisch in der Podiumsdiskussion in Richtung der anwesenden Landespolitiker:
"Ja, das liegt mir auch sehr am Herzen mich einzusetzen für Leute, die es halt selber nicht so gut können, weil sie gehen bei dem Ganzen auch unter. Und es ist ja auch wirklich undurchsichtig. Deswegen war ich auch ein bisschen energisch bei dem Ganzen eben. Weil da wird nicht überlegt, was das für Auswirkungen für die Betroffenen hat. Bundesteilhabegesetz ist gut und ich bin auch jemand, der für Teilhabe ist, aber es muss für unsere Leute umsetzbar sein und nicht eine Geldverschieberei und dass auf einmal Leistungen verschoben werden, die vorher der LVR beispielsweise gezahlt hat und dann auf einmal die Grundsicherung bezahlt. Oder dann Leistungen auf einmal nicht mehr bezahlt werden, weil das nach dem Bundesteilhabegesetz nicht mehr vorgesehen ist. Alle solche Sachen."
Ein junger Mann sitzt in einem Rollstuhl.
Menschen mit Behinderung sehen sich nicht als "Belastung", die nun per Gesetz abgestellt ist (Imago / Westend61)
Mit solchen Sachen kennt sich Haberland bestens aus. Er weiß, dass das Angehörigen-Entlastungsgesetz ihm und anderen Menschen mit Behinderung eher einen theoretischen Anspruch bringt. Auch zuvor hatten sie eigene Ansprüche auf Sozialhilfe, sprich: Grundsicherung, auf Hilfen zur Pflege und Eingliederungsleistungen. Neu ist jetzt, dass Eltern in diesen Fällen nicht mehr zur Zahlung herangezogen werden. Hier ging es in der Vergangenheit um Beträge von monatlich ca. 30 Euro.
Haberland, der zweite Vorsitzende der Lebenshilfe Aachen, erwartet für sich selbst unterm Strich ein reines Nullsummenspiel. Das sagen ihm seine Erfahrungen aus dem Dickicht der Sozialgesetzbücher:
"Das werden ja jetzt die Fachleistungsstunden von den Existenzleistungen, also das zum Leben getrennt. Früher kam das vom übergeordneten Sozialhilfeträger, und der hat eine Pauschale bezahlt, da war alles drin. Da war der Heimplatz mit drin, da war die Versorgung mit drin, da war das Essen mit drin, alles. Und das wird jetzt aufgedröselt. Das heißt, das Grundsicherungsamt ist jetzt für die Leistungen zuständig, zum Leben, also essen, trinken, Wohneinheit. Das heißt, sie müssen für jeden Bewohner einen eigenen Heimvertrag machen und einen Mietvertrag. Und unsere Leute in den Wohnheimen, die haben keine Vorteile dadurch. Das ist eine reine Geldverschiebung."
"Ja, es ist ja ein Entlastungsgesetz für Angehörige, was grundsätzlich erst mal zu begrüßen ist. Also auf der einen Seite bekomme ich diese Grundsicherung, bin nicht abhängig von den Eltern. Das ist gut und richtig. Gerade bei diesen erwachsenen Menschen, die einer Beschäftigung nachgehen", ergänzt Bärbel Brüning, die Landesgeschäftsführerin der Lebenshilfe in Nordrhein-Westfalen. Die erwachsenen Werkstattbeschäftigten wollen nicht mehr Sozialhilfe, sondern faire Löhne, sagt sie. Die Sozialhilfe-Logik teilen sie nicht:
"Wenn sie aber gucken, wie viele Stunden diese Menschen arbeiten und was ihr Bewusstsein sozusagen dafür ist, was sie dafür als Entlohnung bekommen, dann sagen sie zurecht, dass sie aus ihrem Empfinden keinen richtigen Lohn bekommen, weil für Menschen mit geistiger Behinderung ist es natürlich schwer nachzuvollziehen, zu sagen, die Grundsicherung wird sozusagen gegengerechnet, weil das eine Leistung des Staates ist. Sie sagen: "Wir gehen jeden Tag zur Arbeit und wieso bekomme ich dann auch nicht einen vernünftigen Lohn?"
"Budget für Ausbildung": neue Chancen auf dem Arbeitsmarkt
Menschen mit Behinderung sehen sich außerdem nicht als "Belastung" für ihre Familien, die nun per Gesetz abgestellt worden ist - wie es das schöne Wort vom Angehörigen-Entlastungs-Gesetz nahe legt. Sie verweisen lieber auf ihre tägliche Leistung in eigener Sache. Vanessa Koselowski aus Gladbeck ist ein Beispiel dafür. Sie ist erste Vorsitzende des Lebenshilferats NRW, engagiert sich politisch für Integration und Teilhabe und schaut bei jeder gesetzlichen Regelung vor allem darauf, ob diese wirklich zu mehr Selbstbestimmung führt.
Im Angehörigen-Entlastungsgesetz wird neben der Änderung bei der Unterhaltspflicht genau das mit einigen Regelungen versprochen: Ein "Budget für Ausbildung" steht da im Fokus. Es soll in Zukunft mehr Wahlmöglichkeiten beim Berufseinstieg bieten und kann - vom Prinzip her - nach eigenen Vorstellungen bei der Ausbildung eingesetzt werden. Vanessa Koselowski:
"Also ich finde es gut, dass auch mehr darauf geschaut wird: Was möchten wir eigentlich? Wäre das zu meiner Zeit passiert, dann hätte ich vielleicht eine andere Schulausbildung machen können. Ich bin auf eine Körper- und Geistigbehinderten-Schule gegangen. Und das war eine Förderschule. Und ja, dann ist es dazu gekommen, dass die gesagt haben: Sie müssen in die Werkstatt gehen. Und für mich ist damals eigentlich die Welt zusammen gebrochen. Man hat meiner Mutter gesagt, ich habe eine geistige Behinderung, ich kann nicht auf eine normale Schule gehen. Und du als Mutter glaubst das natürlich. Und du vertraust darauf, was die dir sagen. Für mich war es zu langweilig. Ich wäre gerne Kindergärtnerin geworden."
Eine ältere Frau in roter Jacke und grauem Rock schiebt einen Rollstuhl, in dem ihr Ehemann mit Mütze und blauer Jacke sitzt, über eine Wiese.
Das "Budget für Ausbildung" soll für Menschen mit Behinderung mehr Wahlmöglichkeiten beim Berufseinstieg bieten (imago / Westend 61)
Mit dem neuen "Budget für Ausbildung", wäre ihr Traumberuf sehr wahrscheinlich möglich gewesen. Damals aber war der Weg nach der Förderschule für die junge Frau vorgezeichnet: Werkstattbeschäftigung anstelle einer regulären Berufsausbildung. Heute arbeitet Vanessa Koselowski in der Näherei der Caritas Werkstatt in Gladbeck für den Werkstattlohn mit Leistungszulage, ergänzt um Grundsicherung und Hilfen zur Pflege. Selbstbestimmt lebt sie trotzdem, und das ist für sie vor allem: selbstbestimmtes Wohnen:
"Also da kann ich auch sehr viel zu sagen, weil ich wohne seit zehn Jahren alleine und werde von der Lebenshilfe Gelsenkirchen betreut. Und das war mein allergrößter Wunsch. Ich habe von vorneherein zu meiner Mama gesagt, ich möchte nicht mit 30, 40, 50 Jahren bei dir leben. Ich möchte eigenständig leben. Ja und das habe ich erreicht."
Bessere Orientierung durch geförderte Beratungsstellen
Diese selbstbewusste Generation von Menschen mit Behinderung braucht für ihre Teilhabe nicht fürsorgliche Rundumversorgung, jedoch Orientierung bei den undurchsichtigen Hilfeangeboten, die sich aus den verschiedenen zuständigen Sozialgesetzbüchern ergeben.
Ihre Fragen sind: Wo steht mir Hilfe zu? Welche Art von Hilfe brauche ich? Wie bekomme ich, was ich brauche? Antworten finden sie in der Unabhängigen Teilhabeberatung in bundesweit 500 Beratungsstellen. Mit dem Angehörigen-Entlastungsgesetz werden diese ab Januar auf Dauer und unbefristet gefördert. Für Bärbel Brüning, die Landesgeschäftsführerin* der Lebenshilfe NRW, ist das ein großer Gewinn:
"Ja, das wird total gebraucht, ich bin sehr, sehr froh, dass das tatsächlich unbefristet ist, weil das sollen ja auch Menschen mit Behinderung als Peer-Berater in den Beratungsstellen mitberaten. Das machen sie an vielen Stellen. Das ist hervorragend. Erstens sagen wir ja, die Menschen sollen sich selber einbringen können, sind die Experten in eigener Sache. Und das andere ist, dass sie tatsächlich unabhängige Beratung leisten".
Ein Beispiel aus dem Lebenshilfe Landesverband Schleswig Holstein zeige dies. Dort habe man in einem Modellversuch mit der so genannten Peer-Beratung gesehen, dass Menschen mit Behinderung oft die besseren Experten für Teilhabeplanung seien, sagt Bärbel Brüning:
"Da ist eine junge Frau mit Autismus, die da mitberät. Wir haben gehörlose Menschen, die für andere Menschen, die auch gehörlos sind, mitberaten, die eigenen Qualifizierungen machen als Teilhabeberater und vor allen Dingen aus ihrer eigenen Erfahrung, wie sie Hilfe bekommen haben, wo sie Therapie machen usw. berichten. Und wir erleben in Beratungskontexten, wenn Menschen mit Behinderung in die Beratung kommen, ist die professionelle Beratung das eine. Aber wenn ich auf jemanden stoße, der ähnliche Erfahrungen gemacht hat wie ich, dann geht manchmal eine Türe auf, die länger braucht, sage ich mal, als wenn es Menschen ohne solche Erfahrungen sind. Insofern ist das toll für die Menschen, die da in die Beratung kommen. Es ist eben auch toll, weil es neue Arbeitsplätze schafft für Menschen mit Behinderung."
Noch immer viel zu viel Bürokratie
Zwei Pluspunkte also im Angehörigen-Entlastungsgesetz stoßen beim parlamentarischen Abend in Düsseldorf auf ungeteilte Zustimmung. Die andere, die alte Forderung aber eines einfacheren Zugangs zu allen Leistungen - von der Pflege bis zu den Eingliederungshilfen - diese Forderung bleibt. Das stellt Max Haberland auf dem Podium klar. In seinem Leben sind drei Kostenträger, drei Finanzierungsquellen zuständig für sein Einkommen: die Rentenkasse, das Grundsicherungsamt und die Pflegekasse. Dazu kommt der Lohn für die Werkstattarbeit. Hinzuverdienst ist erlaubt, wird aber als Einkommen bei den Sozialleistungen wieder gegengerechnet.
Es sind diese typischen Gesamtpakete, die viele Menschen mit Behinderung belasten. Es ist unübersichtlich, bürokratisch und es ist ein Dauerärgernis, dass Leistungen je nach Kommune mal gewährt oder abgelehnt werden. Alle Hilfen aus einer Hand wären die beste Lösung, findet Haberland: "Man könnte das Ganze auch ein bisschen einfacher haben. Ja, das haben sie schon ewig versprochen. Bis heute ist noch nix gekommen."
Eine alte Frau beim Essen in einem Altenpflegeheim
Alternative zum neuen Gesetz: eine Pflegeversicherung, die die großen Lebensrisiken für alle zuverlässig abdeckt (imago stock&people)
Stadtdirektor Burkard Hintzsche pflichtet ihm bei: "Ich kenne die Schwierigkeiten, wenn er auf so viele Rechtskreise, wie wir so schön sagen, zurückgreifen muss, dann bedeutet das im Umkehrschluss auch: Es sind viele Paragrafen, die in unterschiedlichen Gesetzbüchern stehen. Das ist schon kaum durchschaubar für den Fachmann. Wie soll es dann durchschaubar sein für denjenigen, der die Leistungen in Anspruch nehmen will? Und was viel einfacher wäre: Wenn es einen Träger gäbe, der das finanzieren müsste. Ich finde, wir müssen hier aus Sicht der Betroffenen gucken, wie wir hier in den nächsten Jahren weiterkommen."
Seine Vorstellung ist: Eine Pflegeversicherung, die die großen Lebensrisiken für alle zuverlässig abdeckt: das Risiko alt und pflegebedürftig zu sein, wie auch das Risiko, mit einer Behinderung zu leben und auf Assistenz und Pflege angewiesen zu sein. Ein Angehörigen-Entlastungsgesetz bräuchte es dann nicht, mit dem jetzt Familien finanziell frei gestellt werden, wenn ein erwachsenes Kind mit Behinderung Heimpflege benötigt oder die alten Eltern in ein Pflegeheim kommen und auf Sozialhilfe angewiesen sind.
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