Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Ángel Santiesteban: "Wölfe in der Nacht"
Die dunklen Seiten Kubas

So eindringlich wie der 1966 geborenen Ángel Santiesteban erzählt in Kuba niemand vom Kampf ums Überleben. Folglich fiel der wohl begabteste Erzähler seiner Generation beim System in Ungnade. Der Band mit Erzählungen, "Wölfe in der Nacht", macht Santiestebans drastische Prosa nun einem deutschsprachigen Publikum zugänglich.

Von Holger Heimann | 18.01.2018
    Buchcover: Ángel Santiesteban: „Wölfe in der Nacht“
    Buchcover: Ángel Santiesteban: „Wölfe in der Nacht“ (Buchcover: S.Fischer Verlag/ Hintergrundfoto: Michael Kappeler/dpa)
    In diesen 16 Geschichten aus Kuba geht es um alles - steht stets die pure Existenz auf dem Spiel. In dem Land, von dem Ángel Santiesteban erzählt, sterben Menschen hinter Gefängnismauern und bei der Flucht über das Meer, sie sterben fern der Heimat als Revolutionssoldaten in Angola, und sie riskieren ihr Leben beim Diebstahl von Tabak oder Nahrungsmitteln. Aber schließlich wollen diese Männer - es sind meist Männer bei Santiesteban -, dass ihre Familien durchkommen. Und in Kuba fehlt es vor allem zur Zeit der sogenannten Sonderperiode in den 1990er Jahren an allem. Wenn nirgendwo Essbares zu kaufen ist, bleibt manchmal nur, das Schlachtvieh auf dem Land aufzuspüren und das Fleisch den noch lebenden Tieren aus dem Leib herauszuschneiden.

    Zitat aus "Wölfe in der Nacht":
    "Der Zug bremst ab, der Polizist stellt sich mir in den Weg, damit seine Leute zuerst aussteigen können, irgendwann schlüpfe ich an ihm vorbei, und wir springen hinaus wie Wölfe auf ihre Beute. Mir wird klar, dass es nur wenige Tiere sind, zu wenige für so viele Leute. (...) Ich steige den Hang hinunter, und dort ist es, wartet still auf uns. Esteban bindet ihm das Maul zu, damit sein Gebrüll uns nicht verrät und irgendeinen patrouillierenden Polizisten alarmiert, ich hole das Messer heraus und stoße es ihm ins Bein, ein Schwall Blut schießt mir ins Gesicht, ich schließe die Augen und den Mund, schneide weiter. Das Tier will aufstehen, schafft es aber nicht mehr. Als es den Kopf sinken lässt, fängt Esteban an zu schneiden."
    Nach einer Stunde Metzelei werden die Fleischbrocken in Tüten gepackt und in Säcken verstaut. Dann kommt der Zug und bringt die Schlächter zurück in die Stadt. Die wenigsten haben indes Glück und bringen ihre Beute an der Polizeikontrolle vorbei. Dem gewieften Erzähler gelingt das zwar. Aber zu Hause wartet nicht nur die ausgehungerte Familie. Auch die Nachbarn klopfen an die Tür - mit einem Teller in der Hand. Wer nicht denunziert werden will, der gibt besser etwas ab.
    "Wölfe in der Nacht" ist die erste und titelgebende Geschichte dieses Bandes. Es ist zugleich eine der besten. Santiestebans drastische Prosa erinnert zuweilen an die Romane des US-Amerikaners Cormac McCarthy. Die mitleidlose Härte - anderen und auch sich selbst gegenüber - ist der Preis, den jeder Einzelne für das Überleben zahlen muss. So eindringlich wie Ángel Santiesteban erzählt in Kuba niemand sonst von diesem Kampf und zugleich von einer existenziellen Verlorenheit.
    "Als ich ins Gefängnis kam, haben sie mich Mandela getauft"
    Trotzdem oder vielmehr gerade deswegen ist Santiesteban, der 1966 in Havanna geboren wurde, vom gefeierten zum verfemten Autor geworden. Als wohl begabtester Schriftsteller seiner Generation wurde er zunächst noch mit den wichtigsten Literaturpreisen des Landes ausgezeichnet. Aber Santiesteban ließ sich nicht zum Komplizen des Systems machen. Als seine Erzählungen schließlich nicht mehr publiziert wurden, schrieb er trotzdem weiter und kritisierte in seinem Blog "Die Kinder, die niemand wollte" die politischen Zustände in Kuba immer vehementer. Die Mächtigen im Land rächten sich. Sie erfanden eine absurde Anklage und verurteilten den Autor 2013 zu einer fünfjährigen Gefängnisstrafe.
    Ángel Santiesteban: "Dass mich das Regime ins Gefängnis gesteckt hat, ist das Schlimmste, was mir passieren konnte. Gleichzeitig sehe ich das Ganze als eine Mission, auf die mich Gott geschickt hat, um vom Leben im Gefängnis zu erzählen. Im kubanischen Knast geschehen viele furchtbare Dinge. Auch ich wurde misshandelt. Ein gewöhnlicher Häftling war ich für die anderen Insassen trotzdem von Beginn an nicht. Als ich ins Gefängnis kam, haben sie mich Mandela getauft."

    In der Geschichte "Mandela, sie kommen dich holen" hat Santiesteban, der nach Intervention des seinerzeitigen deutschen Außenministers Steinmeier im Juli 2015 auf Bewährung frei kam, seine Hafterfahrungen verarbeitet. Er erzählt von Hungerstreik und Aufstand, aber auch davon, wie am Ende die Gefängnismaschinerie über den Einzelnen triumphiert. Die jüngste Erzählung des Bandes, die 2013 während der Haft entstand, ist dabei nicht die einzige, die den Alltag hinter Gittern zeigt. In der Erzählung "Die Sau" werden Angst, Erniedrigung und absolute Ohnmacht thematisiert. Ein Neuankömmling, ein kleiner, dicker Junge, der nur "die Sau" genannt wird, muss zwei älteren Insassen als Bettgefährte zu Diensten sein. So erkauft er sich ein wenig Schutz. Ángel Santiesteban hat selbst bereits als Teenager die brutale Hierarchie unter den Häftlingen aus nächster Nähe kennengelernt.
    Ángel Santiesteban: "Ich bin schon mit 17 ins Gefängnis gekommen. Weil ich meine Familie an die Küste begleitet habe, von wo alle mit einem Floß abgehauen sind. Das war 1984. Ich war 14 Monate in Gefangenschaft, bevor es überhaupt eine Verhandlung gab. Dann bin ich sogar freigekommen. Seinerzeit habe ich begonnen zu schreiben. Im Gefängnis habe ich meine Berufung gefunden. Denn ich habe gesehen, wie Macht missbraucht wird, wie Häftlinge für jede Kleinigkeit hart bestraft wurden. Deswegen ist meine Literatur eine Gegenliteratur, eine Literatur, die das Regime von Beginn an ganz offen kritisiert. Aus diesem Grund betrachtet mich das System als Feind."
    Es schmerzt, diese Geschichten zu lesen
    Etwa die Hälfte der jetzt erstmals auf Deutsch veröffentlichten Erzählungen erschien auch in Kuba. Die unklare Publikationspraxis gehört zu den Wunderlichkeiten des kommunistischen Systems. Oft ist es ein Wechselspiel aus Zugeständnis und Drohung. Das Nachwort des Autors Abilo Estévez gibt ein Bild davon. Die Erzählung, die so heißt wie Santiestebans Blog, "Die Kinder, die niemand wollte", ist in Kuba 2001 erschienen. Eine Gruppe von jungen Männern hat sich darin zur Flucht entschlossen.
    Zitat aus "Die Kinder, die niemand wollte":
    "Mit dem Schub des Floßes durchbrechen wir das graue Glas des Abends und flüchten uns in die Nacht. Wir sind losgefahren, als wir sicher sein konnten, dass uns die Sonne nicht mehr die Haut in Fetzen brannte. Um uns herum, die ganze Küste entlang, setzen sich Dutzende von irgendwie schwimmtauglichen Konstruktionen in Bewegung. Unsere ist ein zehn Fuß langes Floß, dem wir unser aller Leben anvertraut haben, und mit ausgestreckten Armen fahren wir auf das Land im Norden zu, auch wenn wir, um dorthin zu gelangen, zwischen Haien hindurchpflügen und den Gefahren im Todestrakt der Floridastraße trotzen müssen. Ich schaue in die Gesichter um mich herum, im Glanz ihrer Augen sehe ich die Hoffnung auf ein neues Leben."

    Aber dies sind keine Geschichten, in denen sich große Wünsche erfüllen. Für eine Überfahrt bei sanftem Seegang mag das Floß taugen, im vom Sturm aufgepeitschten Meer wird es bald wie ein Spielzeug hin- und hergeworfen. Am Ende geht es deshalb für die Besatzung nicht mehr darum, die Küste Floridas zu erreichen. Die Männer wollen nur noch ihr Leben retten.
    Ángel Santiesteban hat nach eigener Auskunft nie daran gedacht, Kuba zu verlassen. Er ziehe das Gefängnis dem Exil vor, sagt er. Und so bleibt er der Autor, der so kompromisslos und genau wie kein anderer im Land vom lastenden Druck der Verhältnisse erzählt. Ángel Santiestebans Figuren empfinden diesen Druck so körperlich und intensiv, dass es schmerzt – auch beim Lesen.