Angela Merkels Karriere ist geprägt von Widersprüchen: Als Politikerin wurde sie erst unterschätzt, dann als machthungrig tituliert. Im Ausland wurde sie als weibliches Vorbild gefeiert, doch sie selbst wollte sich nicht einmal als Feministin bezeichnen. Am Ende ihrer Amtszeit war sie einerseits Krisenkanzlerin und Mutti der Nation, andererseits wurde ihre Politik als lähmend empfunden.
Fest steht: Angela Merkel hat sich als Frau in einer männerdominierten Partei und Politikwelt durchgesetzt, sie stand 16 Jahre an der Spitze der Bundesrepublik und galt eine Weile lang als mächtigste Frau der Welt. Ein schlaglichtartiger Überblick über das Leben und die Karriere einer Politikerin, die sich vor allem von ihrem Pragmatismus leiten ließ.
1954 - 1988: Die junge Angela
Die Pastorentochter
Nichts wies darauf hin, dass die junge Angela Merkel einmal Bundeskanzlerin werden würde. Als Pfarrerstochter in Hamburg geboren, wächst sie als Angela Kasner in Templin in der brandenburgischen Uckermark auf. Das Haus der Kasners steht auf dem Gelände eines Wohnheims für geistig Behinderte. Ihr Vater Horst, evangelischer Pfarrer und überzeugter Sozialist, war aus Westdeutschland in die DDR gezogen. Mutter Herlind war im Westen Lehrerin für Latein und Englisch, darf im Osten ihren Beruf jedoch nicht ausüben.
Angela Merkels frühe Vorbilder kommen nicht aus der Politik, sondern aus den Bereichen Schlager, Sport und Zauberei. „Das sind ungefähr all die Sachen, die ich überhaupt nicht kann“, erzählt Merkel 1995. Diese Erkenntnis sei für sie als Kind nicht einfach gewesen. Erst viel später habe sie zu sich selbst gefunden. Einmal habe sie im Fragebogen einer überregionalen Tageszeitung auf die Frage "Wer oder was möchten Sie sein?" geantwortet: "möglichst oft ich selbst". „Ich war damals einigermaßen froh, dass das keine so hingeschriebene Bemerkung war, sondern dass ich – ‚möglichst oft‘ zwar immer noch – aber doch ich selbst sein wollte.“
Die Überfliegerin
Die Treue zu sich selbst trägt Merkel durch ihre Schulzeit. In Mathematik ist sie besonders talentiert. Ihr ehemaliger Mathelehrer und bekennender Merkel-Fan Hans-Ulrich Beeskow sagt 2021 im Deutschlandfunk: „Das war schon in der Schule ihre Art: oft vom Ergebnis ausgehend den Weg, die Entwicklung zu finden.“ Die junge Angela sei „immer drangeblieben“ an einer Aufgabe, so Beeskow, sagte erst etwas, wenn sie sich ein Bild gemacht hatte. Sie sei nie "vorschnell“ gewesen.
Für Politik interessiert sich die Schülerin aber kein bisschen mehr als andere Kinder. Eigentlich will sie Lehrerin werden und studiert dann Physik in Leipzig. Im Leipziger Studentenclub Moritzbastei ist Bardame Angela für ihren selbstgebrauten Kirsch-Whisky bekannt.
Bei einem Jugendaustausch mit Physikstudenten in Moskau und Leningrad lernt sie Ulrich Merkel kennen, im September 1977 heiraten die beiden. 1978 macht Merkel ihr Diplom und das Paar zieht nach Berlin. Die frischgebackene Diplom-Physikerin arbeitet am Zentralinstitut für Physikalische Chemie der Akademie der Wissenschaften in Berlin-Adlershof (ZIPC). Ihr Fachbereich: Theoretische Chemie. Nur zwei Jahre später lässt sich das kinderlose Paar scheiden.
Die Physikerin
Anders als ihr jüngerer Bruder, der mit der Oppositionsbewegung zu tun hat, ist Angela Merkel politisch zu diesem Zeitpunkt nicht aktiv. Ihre Biografin Jacqueline Boysen beschreibt sie als „vorsichtigen und realistischen Menschen“. Merkel ist ehrgeizig, aber weitgehend systemkonform.
Am ZIPC lernt sie Joachim Sauer kennen, der ihr zweiter Ehemann wird. Merkel fühlt sich an der Akademie wohl, die Arbeit ist sicher und unbefristet. Am Zentralinstitut ist sie als Kulturbeauftragte Mitglied der Kreisleitung der FDJ. 1986 reicht Angela Merkel ihre Dissertation ein. Alles deutet darauf hin, dass sie den Rest ihrer beruflichen Karriere in der Wissenschaft verbringen wird.
1989 - 2004: Senkrechtstart in die Politik
Doch im Herbst 1989 kommt der große Sinneswandel: „Die Mauer ist gefallen, ich habe Lust bekommen, Politik zu machen. Raus aus dem alten Beruf an der Akademie der Wissenschaften, rein ins Ungewisse, ins völlig Neue. (...) Und wie bin ich losmarschiert, und wie viele andere auch – hinaus ins Offene, ins Neue.“
Die neu gegründete Ost-SPD zieht sie nicht an, sie stößt zum Demokratischen Aufbruch. Da sie sich als einziges Mitglied mit Computern auskennt, arbeitet sie zunächst als parteiinterne IT-lerin und bedient die klobigen Computer. Dann wird sie Pressesprecherin der Partei.
Der politische Umbruch macht Dinge möglich, die bis dahin undenkbar schienen: Im April wird Angela Merkel stellvertretende DDR-Regierungssprecherin, im Dezember Bundestagsabgeordnete. Der Vorsitzende des neu gegründeten CDU-Landesverbandes Mecklenburg-Vorpommern bietet ihr einen Wahlkreis an der Ostsee an.
"Kohls Mädchen"
Bundeskanzler Helmut Kohl verteilt nach der Bundestagswahl Ende 1990 das alte Ministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit an drei Frauen. Angela Merkel wird mit 36 Jahren Bundesministerin für Frauen und Jugend. Ihr schneller Aufstieg in der CDU beruht auf der Gunst des Kanzlers, darum wird sie „Kohls Mädchen“ getauft. Doch Merkel ist alles andere als das: Sie tritt selbstbewusst auf, erklärt Kohl und Finanzminister Theo Waigel die DDR.
In ihrem ersten Jahrzehnt als Politikerin tastet sich Angela Merkel an die Wirklichkeit im Kapitalismus heran. Ihre CDU-internen männlichen Konkurrenten sind in Karrierenetzwerken wie dem berüchtigten Andenpakt organisiert, daher kann sich Merkel zu Beginn ihrer Karriere noch nicht gut durchsetzen.
Einmal weint sie öffentlich nach einer innerparteilichen Niederlage, was in der männlich dominierten Partei als Schwäche gedeutet wird. Es sollte das letzte Mal gewesen sein, dass Merkel von ihren Gefühlen überwältigt wird.
Schon Ende 1991 wird sie auf dem CDU-Parteitag in Dresden als Nachfolgerin von Lothar de Maizière zur stellvertretenden Bundesvorsitzenden gewählt, 1993 wird sie CDU-Landesvorsitzende in Mecklenburg-Vorpommern, 1994 im fünften Kabinett Kohl Bundesumweltministerin.
Die "schwarze Witwe"
Im ersten Vierteljahr entlässt sie ihren Staatssekretär Clemens Stroetmann, der sich selbst als Chef des Umweltministeriums gesehen hatte. Damit macht Angela Merkel direkt klar, wer die wahre Chefin des Hauses ist. Nun beginnt die Zeit, in der die junge Ministerin in den Medien als machtbewusste Person dargestellt wird, zahlreiche männliche Parteimitglieder stilisieren sich über die Jahre als Opfer der „schwarzen Witwe“.
Dabei sind es meist Merkels männliche Konkurrenten, die in Interviews lästern. Merkel hingegen ist Machtgehabe fremd, sie macht lieber kleine strategische Schritte nach vorne und denkt wie immer vom Ziel her. Männerseilschaften wie der Andenpakt zerschellen an ihrer stoischen Zielstrebigkeit.
Als Kohl im Herbst 1998 abgewählt wird, stellt sich die CDU neu auf. Wolfgang Schäuble wird Parteichef, Angela Merkel seine Generalsekretärin. Merkel entwirft ein familienpolitisches Grundsatzpapier. Die CDU soll Respekt vor Patchworkfamilien und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften zeigen. Sie drückt der Partei erstmals ihren Stempel auf.
Die "Nestbeschmutzerin"
1999 stolpert die CDU über die Parteispendenaffäre. Merkel nutzt die tiefste Krise in der Geschichte der Partei, um die CDU von Helmut Kohl zu emanzipieren. Im Dezember 1999 veröffentlicht sie einen Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen – ohne vorherige Absprache mit Schäuble. Sie erklärt darin, dass die Partei lernen müsse, in Zukunft ohne das „alte Schlachtross“ Kohl zu kämpfen.
„Es war eine Notlage aus meiner Sicht. Und insofern empfand ich es als meine Aufgabe als Generalsekretärin, diesen Schritt zu wagen, ohne genau zu wissen, wie das endet“, sagt sie später. Die offene Kritik an Kohl findet einerseits Zuspruch, andererseits wird sie auch von Parteimitgliedern als Nestbeschmutzerin und Vatermörderin beschimpft.
Bei aller Kritik wird Angela Merkel zur Hoffnungsträgerin der Parteibasis. Die mächtigen Männer – Volker Rühe, Bernhard Vogel, Friedrich Merz, Roland Koch – wagen es nicht, den Hut in den Ring zu werfen. Der CDU-Parteitag 2000 in Essen ist ein Scherbengericht über den Spendenskandal. Angela Merkel präsentiert sich dort als Garantin eines Neubeginns. Sie wird mit überwältigender Mehrheit zur Parteivorsitzenden gewählt.
Die Oppositionsführerin
Im Frühjahr 2002 verzichtet Merkel zugunsten des CSU-Vorsitzenden Edmund Stoiber auf die Kanzlerkandidatur. Stattdessen verdrängt sie Friedrich Merz von der Fraktionsspitze.
Als Oppositionsführerin propagiert Merkel anfangs eine neoliberale Politik, von der sie sich später deutlich distanziert. Die CDU soll ihren Vorstellungen zufolge auch für liberale Großstädter wählbar werden. „Nur in diesem Geiste werden wir im 21. Jahrhundert als große bürgerliche Kraft der Mitte wieder mehrheitsfähig werden. So viel Union wie heute war noch nie. Das muss unser Motto für die nächsten Jahre sein.“
Im September 2002 holt Gerhard Schröder mit Rot-Grün im Bund noch einmal knapp die Mehrheit. Doch der Kanzler ist angeschlagen, seine Tage sind gezählt: Aus der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 geht Angela Merkel als Siegerin hervor. Mit 51 Jahren wird sie die erste Bundeskanzlerin Deutschlands. Die Merkel-Ära beginnt.
2005 - 2021: Die mächtigste Frau der Welt
Im Oktober 2005 schreibt die New York Times: „Frau Merkels Weg von der protestantischen Pastorentochter in der DDR an die Spitze der deutschen Politik – als Chefin einer männerdominierten, katholisch geprägten konservativen Partei – ist so unwahrscheinlich, dass politische Analysten hier rätseln, was sie als Kanzlerin wohl tun wird. Hartnäckig, ernsthaft, fast schon absichtlich fad, ist Frau Merkel eine unwahrscheinliche historische Figur.“ Die französische Zeitung Libération beschreibt sie als „Ossie paradoxale“, als „paradoxe Ossi“.
2006 erklärt sie das US-Wirtschaftsmagazin Forbes erstmals zur mächtigsten Frau der Welt. 2007 hat Merkel den Vorsitz im Rat der Europäischen Union inne und empfängt im Juni die Mächtigen der Welt beim G8-Gipfel in Heiligendamm. Für ihre zweite Amtszeit als Kanzlerin kann sie 2009 mit Guido Westerwelles FDP ihre schwarz-gelbe Wunschkoalition schmieden.
Merkel wird langsam zu einer feministischen Identifikationsfigur, obwohl sie sich selbst nicht so betrachtet. „Alice Schwarzer und andere, die haben ganz schwere Kämpfe gekämpft.(…) Aber ich möchte mich nicht mit der Feder schmücken“, sagt sie einmal. Merkel ist gegen Frauen-Quoten, beim Paragraphen 218 bleibt sie ambivalent. Doch als gesellschaftliches Thema greift sie Gleichberechtigung immer wieder auf, auch in ihrer eigenen Partei: „Der geschäftsführende Bundesvorstand der Jungen Union, schön männlich. Aber 50 Prozent des Volkes fehlen. Und ich sage Ihnen: Frauen bereichern das Leben. Nicht nur im Privaten, auch im Politischen.“
Die Krisenkanzlerin
Ab 2008 wird Merkel zur Krisenkanzlerin. Los geht es mit der Finanzkrise, der Pleite von Lehman Brothers. Als Merkel in der Finanz- und Eurokrise zur europäischen Zentralfigur wird, hat sie ihre neoliberale Frühphase lange hinter sich gelassen. Im März 2011 löst ein Erdbeben einen Tsunami an der Ostküste Japans aus, und im Atomkomplex Fukushima kommt es zum Super-GAU. Binnen Tagen entscheidet die Bundeskanzlerin, aus der Kernenergie auszusteigen – nachdem sie über Jahrzehnte als Vorkämpferin der Atomkraft galt. Für manchen Parteigänger ein Indiz, dass sie keine „wahre Konservative“ ist.
2014 annektiert Russland die Krim, ihr einst guter Draht zu Putin löst sich langsam auf. 2015 kommt mit der Flucht- und Migrationskrise eine weitere Prüfung auf die Kanzlerin zu. Für ihr „Wir schaffen das“ feiert die Welt sie als Gralshüterin westlicher Werte, während sie in Deutschland selbst zum Teil scharf kritisiert wird. 2017 kommt Donald Trump an die Macht, was das transatlantische Verhältnis enorm belastet, 2020 folgen der Brexit und die Coronapandemie.
In all diesen turbulenten Jahren steht Angela Merkel für eine „Politik des Maßes, der Mitte und der praktischen Vernunft“. Ihr reizarmer Stil steht in einem krassen Kontrast zu den Autokraten, die um sie herum aus dem Boden zu sprießen scheinen: Männer wie Viktor Orban, Jair Bolsonaro oder Donald Trump werden zu Antipoden und erklärten Gegnern Angela Merkels, arbeiten sich an ihr ab.
Es merkelt: Die "Mutti der Nation"
Die Medien schwanken zwischen tiefer Bewunderung für die „Physikerin der Macht“ und Abscheu vor Merkels Radikalpragmatismus. Ihre Kritiker werfen Merkel vor, das Land ohne Kompass zu steuern, immer nur auf Sicht. Parteifreunde sehen sie nicht als echte Konservative. Die CDU wird unter Merkel zu einer Partei, die die Wehrpflicht abschafft, die Ehe für alle öffnet, aus der Kernenergie aussteigt. Sie selbst schweigt, oft verraten nur kleine Gesten, was sie denkt. Hier ein Augenrollen, da ein Kopfschütteln. „Schweigen kann auch Stärke in der Politik sein“, sagt sie.
"Merkeln" wird zum Synonym für Aussitzen, für das Hinauszögern von Entscheidungen und letztendlich für Stillstand. Der Philosoph Jürgen Habermas spricht mit Blick auf die Merkel-Ära vom „bleiernen Lauf der Geschichte“. Der Publizist Roger Willemsen wirft Merkel „Reibungslosigkeit“ vor: „Ich sage, sie chloroformiert das Land. Das macht sie unter anderem dadurch, dass sie zu NSU, NSA, zu Lampedusa, zu Syrien nichts, lange Zeit nichts sagt. Weil sie weiß: Das würde Reibung erzeugen.“ Stattdessen schaffe sie Konsens. „Und mit diesem riesigen Konsens haben wir das Gefühl: Die tut nicht weh.“
Das ewige Enigma
Die Merkel-Biografin Jacqueline Boysen erklärt sich das Enigma der Person Merkel so: Angela Merkel habe in der DDR früh gelernt, zu sortieren, welche Dinge man offen nach außen tragen kann und welche man tunlichst für sich behält. „Sie lebte immer in mehreren Welten gleichzeitig. Sie war konfirmiert und war bei den Pionieren. Sie hat immer Widersprüche ausgehalten. Sie war daran gewöhnt und es macht auch einen Teil ihrer Stärke aus."
pj