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Angela Merkels "Wir schaffen das"-Rhetorik
"Ein großes, richtiges Wort"

Angela Merkel stößt mit ihrer "Wir-schaffen-das"-Rhetorik in der Flüchtlingskrise nicht nur in den eigenen Reihen auf Kritik. Hat sie die falschen Worte gewählt? Nein, glaubt der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke: Mit ihrer Wortwahl sei eine Öffnung Deutschlands eingetreten - vergleichbar mit der Öffnung vor 25 Jahren.

Albrecht von Lucke im Gespräch mit Michael Köhler | 03.10.2015
    Albrecht von Lucke
    Albrecht von Lucke (dpa/picture alliance/Horst Galuschka)
    Michael Köhler: Im Zusammenhang mit dem Abgasskandal, um gefälschte Testberichte, da konnte man wiederholt lesen, die Konzernzentrale, sie gebe die Losung an die Händler und letztlich an die Kunden aus: jetzt bloß kein falsches Wort. Ersetzen wir Konzernzentrale durch Regierung und Verbraucher, Kunde durch Wähler, dann haben wir vielleicht ein paralleles Bild: Jetzt bloß kein falsches Wort, schaffen wir das, schafft uns das? Dem Politikwissenschaftler und Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik, Albrecht von Lucke, habe ich gefragt: Spiegel das so ein bisschen unsere Gegenwart wider?
    Albrecht von Lucke: Ja, das ist eine ironische Koinzidenz, wenn man so sagen darf. Denn das, wie ich finde, Spannendste an der ganzen Angelegenheit ist, dass wir ja in gewisser Weise einen Wiedererkennungseffekt erleben, manche sprechen ja bereits von einem Schabowski-Moment. Das Problem ist ja, dass durch ein großes Wort - die einen würden sagen, ein wirklich großes Wort der Humanität, andere würden sagen, durch ein großes Wort der Naivität -, nämlich Merkelsches "Wir schaffen das!" gewissermaßen eine neue Öffnung Deutschlands eingetreten ist, durchaus nicht unvergleichbar der Öffnung vor 25 Jahren, als ja bekanntlich Schabowski - immerhin 26 Jahre zurück, aber doch das auslösend, was wir heute feiern, den 25. Tag der Einheit -, als Schabowski eben durch ein Wort Weltgeschichte geschrieben hat. Und heute kann man den Eindruck haben, dass wieder mit einem Wort etwas in Bewegung gesetzt wurde, was aber - und das macht es so dramatisch - uns heute weniger glücklich und dankbar auf die Vergangenheit zurückschauen lässt, sondern ein Stück weit ängstlich in die Zukunft. Denn es ist ja keineswegs ausgemacht, was Merkel mit "Wir schaffen das!" ausgelöst hat. Und ich glaube - und darüber könnten wir ja gleich weiterreden -, ich glaube, da steht ein subtiler Zusammenhang zu dem großen Schweigen aus der VW-Zentrale.
    "Merkel legt einen Hypermoralismus an den Tag"
    Köhler: "Le nouveau visage de l'Allemagne" titelt die französische Wochenzeitung "L'Observateur", "L'Obs" kurz genannt. Wir erinnern uns an die Worte - Sie haben gerade darauf angespielt -, wenn wir anfangen müssen, uns zu entschuldigen, dass wir Menschen helfen und aufnehmen, wenn wir uns dafür entschuldigen müssen, dann ist das nicht mehr mein Land - ungewöhnlich persönliche Worte der Kanzlerin. Ist das Glück der Deutschen, das gegenwärtige, vielleicht auch so ein bisschen das Unglück der EU? Denn wir sehen gerade, dass wieder ausgerechnet in Ungarn, an den Grenzen zu Serbien und Kroatien Zäune und Mauern errichtet werden.
    von Lucke: Das ist es nicht. Und wir haben ja das große Problem, dass wir heute einen Einbruch zweierlei Dinge gewärtigen: Wir erleben, dass das deutsche Glück längst eines ist, was nur noch europäisch zu denken ist. Das haben wir das ganze halbe Jahr davor auch mit der Griechenland-Krise schon hart erleben müssen, aber die Flüchtlingsfrage stellt noch mal eine ganz andere Dimension dar. Und das Zweite ist, man kann sogar von einem Einbruch des Globalen sprechen. Es ist gewissermaßen das Phänomen, das - wir haben es ja mittlerweile zum Überdruss gehört, das große Hamletsche Wort -, die Welt ist aus den Fugen! Aber wir erleben heute in einer Dramatik, dass das Aus-den-Fugen-Sein der Welt auch sich plötzlich als ein Aus-den-Fugen-Sein Deutschlands möglicherweise präsentiert. Und dieses Spannungsverhältnis, plötzlich mit einer globalen Anfrage, mit einer globalen Folge auch der letzten 25 Jahre konfrontiert zu sein, das ist natürlich das, was sich in diesem Wort der Kanzlerin, "Wir schaffen das!", als eine große, ja, ich finde, auch als eine große Herausforderung präsentiert, aber was auch die Frage aufwirft, was ist eigentlich unser Land? Und wenn die Kanzlerin sagt, das ist dann nicht mehr mein Land, wird ihr natürlich von anderer Seite begegnet, damit legt sie einen Hypermoralismus an den Tag, den es erst einmal einzuholen gilt. Und ich glaube, dass beide Spannbreiten - eine zynisch-harte Position, wie sie beispielsweise Seehofer vertritt, aber eine auch ausgesprochen moralische Position von Frau Merkel - jetzt in nächster Zeit nach einer viel, viel stärkeren Ausdefinition verlangen. Also, auch Frau Merkel hat ja nach diesem Wort eigentlich die klare Position, was das diesem Land alles abverlangen wird, noch nicht folgen lassen. Insofern ist dieses Wort ausdeutungsbedürftig und ich glaube, das müssen wir in den nächsten und Tagen und Wochen schon erleben.
    Sprechen im Politischen - Schweigen im Wirtschaftlichen
    Köhler: Lassen Sie uns noch ganz kurz, weil wir ein bisschen uns am Wortfeld entlanghangeln, noch daran erinnern: Es gab mal in der Vergangenheit auch winzige Worte, die beiläufig gesagt wurden und doch große Wellen ausgelöst haben. Ich erinnere mich - es ist, glaube ich, 20 Jahre fast her - an das Wort von den Peanuts, das der Deutsche-Bank-Sprecher Hilmar Kopper fallen ließ, als es um glaube ich fünf Millionen Mark ging des Immobilienunternehmers Schneider, es gibt andere Worte, die beiläufig gesagt werden, an denen man sich aufhängen kann, das Wort von Dunkeldeutschland oder vom Pack wäre auch so was. Wie kommt das, dass das solche Wellen auslöst?
    von Lucke: Ja, man muss unterscheiden. Ich glaube tatsächlich, dass die großen Worte -Dunkeldeutschland, die natürlich sofort eine Kritik erfahren, des Packs von Sigmar Gabriel, das eher positiv gewürdigt wurde, Dunkeldeutschland des Bundespräsidenten sehr kritisch, weil es natürlich erst mal lange Zeit ostdeutsch konnotiert war -, dass die nicht das Gleiche bedeuten wie das Wort Peanuts. Denn das Interessante ist - und das wirft den Blick auf das große Schweigen aus Wolfsburg -, das Wort Peanuts hatte natürlich sofort auch hochgradig finanzielle Anfragen und Konsequenzen. Der wirtschaftliche Raum - und gerade bei VW erklärt sich das große Schweigen ja primär daraus - ist natürlich gegenwärtig so derartig subtil beziehungsweise fragil und feinfühlig, dass alle im VW-Konzern sich anschauen als gut beraten dünken, wenn sie nichts sagen. Weil sie Angst haben, dass sie damit eine auch monetäre Verantwortung auf sich laden, die anschließend in Schadensersatzforderung umschlägt. Das heißt, wir haben hier eine ganz erstaunliche Spannbreite, wir haben ein Wort aus dem politischen Raum und ein großes Schweigen im wirtschaftlichen Raum, obwohl natürlich dahinter auch eine große Anfrage und Sorge besteht, nämlich die Tatsache, dass mit VW gewissermaßen das Flaggschiff der großen Marke Made in Germany angekränkelt sein könnte. Und da ist natürlich insofern auch ein Deutungsraum eröffnet und die Frage ist eröffnet, was hat das für Konsequenzen? Insofern spielen wirtschaftlicher und politischer Raum in dieser Gegenwart ungemein zusammen und trotzdem haben wir den Gegensatz des großen Sprechens im Politischen und des großen Schweigens im Wirtschaftlichen.
    "Ein absolut richtiges Wort zu den falschen Verhältnissen"
    Köhler: Kann es ein richtiges Wort zu falschen Verhältnissen geben?
    von Lucke: Ja, das ist die große und spannende Frage. Ich glaube tatsächlich, das Merkelsche Wort ist natürlich ein absolut richtiges Wort zu den falschen Verhältnissen, nämlich einer ungemein dramatischen globalen Lage, der wir alle noch gar nicht bewusst sind, was sie für uns bedeutet. Und trotzdem bringt es den großen europäischen Anspruch zum Ausdruck, auch die Konsequenz gezogen zu haben aus dem tragischen Gewaltphänomen und der Gewaltgeschichte des Nationalsozialismus, nämlich jedem Menschen Obdach und Asyl zu gewähren, der auf der Flucht ist. Das ist ein großes, richtiges Wort. Die große Frage wird sein, ob es den falschen gegenwärtigen Verhältnissen gerecht werden kann. Und das ist das, glaube ich, in diesem ungemeinen Spannungsverhältnis bewegen wir Deutschen, wenn man so sagen darf im 25. Jahr der Einheit, uns. Und das macht das Phänomen deutsche Einheit in diesem Jahr zum ersten Mal, jedenfalls wie ich es erlebe, viel mehr getragen von einer gewissen Bangigkeit, einer gewissen Sorge, und nicht mehr getragen von dem großen Phänomen der Dankbarkeit im Blick darauf, dass wir wieder vereint sind. Dieses Spannungsverhältnis drückt sich in dem, wie Sie so schön sagen, in diesem richtigen Wort zu vielleicht falschen Verhältnissen aus.
    Köhler: Albrecht von Lucke, ich spreche mit Ihnen in Berlin, aber ich weiß, dass Sie aus Hessen kommen beziehungsweise...
    von Lucke: Rheinhessen, muss ich dazu sagen!
    Köhler: Rheinhessen, genau! Wie werden Sie den Tag feiern?
    von Lucke: Ach, ob ich groß feiern werde, das sei dahingestellt. Ich werde meine Zeitung wie jeden Tag lesen, ich werde mir versuchen, ein Bild der Lage zu machen. Und ich muss gestehen, ich bin ja auch einer derjenigen, die gegenwärtig wie Sie natürlich auch den Informationen jeden Tag versuchen, hinterherzukommen. Die große globale Frage, die totale Unübersichtlichkeit dieser Gegenwart, die so derartig nach großen Lösungen schreit und doch ersichtlich diese Lösung nicht findet, wenn wir doch an die so vergeblichen Lösungsversuche in Washington bei den Vereinten Nationen denken... Dann versucht man, ich wie sicherlich viele andere, versucht vor allem diese Welt gegenwärtig zu deuten und in dem Sinne zu hoffen, vielleicht mit den Artikeln oder kurzen Interventionen, einen Wink dann ja doch nur mit Worten zu geben, wie vielleicht diese globale Lage doch noch in den Griff zu kriegen ist. Und ich glaube, ich muss gestehen, das, was gegenwärtig unsere Politiker zu leisten haben, die auf der einen Seite Dankbarkeit zum Ausdruck bringen, wie wir sie vielleicht alle empfinden, das ist das Glück auch der letzten 25 Jahre, auch des Einheitsdatums gegeben hat, aber vor dem Hintergrund ungeheurer globaler und nationaler Herausforderungen in den nächsten Jahren, und diese Leistung und diese Präsenz zu zeigen der Politiker, das empfinde ich schon als eine ungeheure Herausforderung.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.