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Deutsche Einheit
"Die Integration des Ostens ist noch nicht abgeschlossen"

Abwanderung, mangelnde Industrialisierung, fremdenfeindliche Demonstrationen und jüngst sogar verprügelte Journalisten - der Publizist Jakob Augstein sieht auch 25 Jahre nach der Einheit noch viele Probleme im Osten Deutschlands. Auch die liberale Mehrheitsgesellschaft habe dabei in den letzten Jahren versagt, sagte er im DLF.

Jakob Augstein im Gespräch mit Michael Köhler | 03.10.2015
    Der Journalist Jakob Augstein spricht bei einer Demonstration unter dem Motto "Europa anders machen" zur Griechenland- und Flüchtlingspolitik am 20.06.2015 in Berlin.
    Der Journalist und Publizist Jakob Augstein bemängelt nicht nur in den neuen Bundesländern einen fehlenden Integrationswillen. (picture alliance / dpa / Jörg Carstensen)
    Michael Köhler: Das neue Gesicht Deutschlands, le nouveau visage de l'Allemagne – so titelte das französische Wochenmagazin L'Obs gerade und zeigte auf dem Titel die Kanzlerin inmitten von jungen Mädchen, die ein Selfie mit der deutschen Regierungschefin machen. Im Frühjahr noch gefürchtet als Zucht- und Zahlmeisterin Europas, im Herbst Ikone der "Wir schaffen das"-Bewegung. Was ist da passiert? Ist aus dem hässlichen Deutschen eine moralische Großmacht, ein Land selbstloser Patrioten geworden, wie manche Feuilletonisten vollmundig schrieben? Ich habe Jakob Augstein, den meinungsfreudigen Publizisten, Chefredakteur und Herausgeber der Wochenzeitung "Freitag" gefragt, ob er dem Bild etwas abgewinnen kann und zustimmt.
    Jakob Augstein: Nein, ich finde die Formulierung schrecklich und würde das überhaupt nicht so sehen. Wir haben jetzt gerade im Eilverfahren sozusagen eine Verschärfung des Asylrechts durchgepeitscht bekommen, wo die verheerenden Dublin-Regeln durch die Hintertür wieder gestärkt werden sollen. Sie wissen, die angeblich sicheren Drittstaaten, wenn da einer herkommt, dann darf er gar nicht Asyl beantragen. Das hat ja bekanntlich nicht so gut funktioniert, in Wahrheit, dort wollen die Deutschen wieder hin. Also, moralische Großmacht sehe ich überhaupt nicht. Es gab es kleines helles Fenster, das ist aber schon wieder geschlossen.
    Köhler: Aber nicht mehr als ökonomische, sondern als moralische Großmacht wahrgenommen zu werden, in New York wird die Kanzlerin, da erntet sie Schulterklopfen, französische politische Wochenzeitungen sprechen vom neuen Gesichts Deutschlands. Ist da nicht doch so ein bisschen was zu erkennen von der Überwindung alter Nationenbegriffe?
    Augstein: Also, ich muss Sie da wirklich enttäuschen, ich glaube das nicht. Das ist eine schöne, kurze PR-Geschichte, die wie so eine Seifenblase in die Luft geht und dann auch zerplatzt. Kein Wunder, dass die Bundeskanzlerin in Amerika Schulterklopfen bekommt, die Amerikaner sind hauptsächlich mitverantwortlich für diesen Flüchtlingsstrom. Sie haben bisher erbärmlich wenig Flüchtlinge aufgenommen, weil sie Angst haben, dass jeder Flüchtling ein potenzieller Terrorist ist. Neulich haben sie 15.000 Feldbetten geliefert und noch ein freundliches Lächeln hinterhergeschickt. Das kostet die gerade mal gar nichts, dann der Kanzlerin zu gratulieren, dass sie so nett ist zu den Flüchtlingen. Das ist wirklich Unsinn. Angela Merkel hat in einem historisch wichtigen und auch schönen und großen Moment eingesehen, dass sie diese Leute nicht vor der Tür stehen lassen kann, dass die schon unterwegs sind, dass die bereits den Fuß in der Tür haben. Da hat sie gesagt, bevor wir jetzt hier hässliche Szenen an der Grenze haben, lassen wir sie rein. Aber danach gehen die Türen sofort wieder zu und jetzt sind die Deutschen gerade dabei, sie ordentlich zu verrammeln. Also, ehrlich gesagt, das sehe ich überhaupt nicht, dass da irgendeine moralische Führungsrolle hier sich abzeichnet.
    Köhler: Können wir uns aber in dem Punkt vielleicht einigen, dass die – früher wurde sie mal die pragmatische Protestantin genannt – die Kanzlerin aus Mecklenburg-Vorpommern sich mit einem Punkt vielleicht mit dem Heiligen Vater einig ist, nämlich: Wer sich gegen die Aufnahme – anders als andere Staaten in Europa –, wer sich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen wehrt, der ist moralisch diskreditiert?
    Augstein: Ja, ich glaube schon, dass sie das auch ernst meinte, als sie gesagt hat, wenn wir uns jetzt hier entschuldigen müssen, dass wir Leuten in der Not helfen, dann ist das nicht mein Land. Das ist ja ein für sie sehr ungewöhnlicher Satz, wer die Bundeskanzlerin in den vergangenen Jahren beobachtet hat, der weiß, dass die klare Rede wirklich nicht ihre Sache ist. Sie kann schon klar sprechen, nicht, dass sie das nicht drauf hat, aber sie will es halt nicht, sie schwurbelt sich einen ab, dass einem wirklich die Socken von den Füßen fliegen. Das war aber ein ganz klarer Satz: Dann ist das nicht mein Land. Da merkte man schon, das ist ihr ein echtes Anliegen. Sie hat auch gesagt, Asyl hat potenziell keine Obergrenze, weil das ein Grundrecht ist, was wir den Menschen einräumen, juristisch vollkommen korrekt. Galt immer, gilt auch weiterhin. Politisch allerdings muss man erst mal den Mut haben, es auszusprechen. Also, da schon großen Respekt für diese Klarheit, mit der sie das deutlich gemacht hat. Nur ...
    Köhler: Ist ja auch aus den eigenen Reihen kritisiert worden, ja.
    Augstein: Ja, es ändert aber nichts daran, dass die Politik, die wir jetzt weiterhin betreiben, eine des Roll-back ist. Insofern sehe ich jetzt die moralische Vorherrschaft nicht so.
    "Das Dublin-Abkommen ist die Errichtung einer Mauer an der EU-Außengrenze"
    Köhler: Wir sprechen unter anderem auch im Rahmen der Erinnerung der Feierlichkeiten zu 25 Jahren deutsche Einheit. Deutschland hat keine Zäune und Mauern errichtet. Gibt es so was aus Ihrer Beobachtung – ich spreche mit Ihnen auch als Herausgeber und Chefredakteur einer Wochenzeitung, einer linken, des "Freitag" –, gibt es so was wie innere Mauern?
    Augstein: Na ja, Sekunde, Sie sagen, wir haben keine Mauern errichtet. Das stimmt nicht. Das Dublin-Abkommen ist die Errichtung einer Mauer an der EU-Außengrenze, zum deutschen Vorteil. Das war sozusagen der Kern der wirklich sehr, sehr verlogenen deutschen Asylpolitik war zu sagen, wir haben zwar das Asylrecht, aber hi hi, de facto kann es gar keiner mehr so richtig in Anspruch nehmen, weil, die Leute kommen ja gar nicht zu uns. Und das war wirklich eine schlimme Lüge. Deshalb noch mal, das ist das Gegenteil von Moral. Das hat nicht funktioniert, weil diese Grenzen überrannt worden sind, jetzt beschimpfen wir die Ungarn dafür, dass sie eigentlich das machen, wofür wir ihnen – in Anführungszeichen – dankbar sein müssen, sagt Herr Orbán ja auch immer, nämlich einen Zaun nach Serbien zu bauen. Also, eigentlich funktioniert die deutsche Politik so, dass sie versucht, sich selber moralisch einen schlanken Fuß zu behalten und zu sagen, aber bitte, die Abwehr der Flüchtlinge, das sollen die anderen machen!
    Köhler: Deutschland kann sich in aktuellen Fragen nicht neutral verhalten. Es tut vielleicht das, was manche erwarten. Es gibt auch Kritik an der Kanzlerin aus den eigenen Reihen, da gibt es ja viele, die sagen, das ist ungesteuert, das ist unkontrolliert, da wissen wir nicht, kommen Ingenieure oder kommen Islamisten. Braucht es eine Gebrauchsanleitung für Deutschland, wie vielleicht auch Julia Klöckner, die CDU-Kandidatin des Ministerpräsidentenamts aus Rheinland-Pfalz, empfiehlt?
    Augstein: Ja, unbedingt, das ist schon eine interessante Entwicklung. Ich meine, wir wissen alle, dass wir ein Einwanderungsland längst sind. Die CDU hat große Mühe gehabt, dieser Tatsache ins Auge zu sehen. Wir werden noch viel mehr ein Einwanderungsland sein müssen, wenn wir unseren Lebensstandard halten wollen, die Demografie ist gnadenlos, gilt für Rassisten genauso wie für Freunde der Willkommenskultur. Uns werden einfach in den nächsten Jahren die Leute fehlen. Das heißt, wir tun gut daran, so viele wie möglich reinzuholen. Wir brauchen außerhalb der EU 300.000 bis 500.000 Einwanderer pro Jahr! Und das sind nicht EU-Einwanderer, sondern das sind die schlimmen Moslems, vor denen wir alle solche Angst haben. Wir müssen es schaffen, die zu integrieren. Das wird nicht einfach, das ist kein Zuckerschlecken, Integration ist kein Kindergarten. Ja, dafür brauchen wir Leitkultur. Denn nur Leitkultur, wenn wir die haben, ermöglicht und erlaubt Multikulturalität. Das ist der interessante dialektische Prozess sozusagen der Migration, wenn Sie Multikulturalität haben wollen – wie ich zum Beispiel –, dann brauchen Sie eine für alle verbindliche Leitkultur. Insofern hat Friedrich Merz dann doch noch Recht behalten.
    "Als Linker bin ich dafür, eine linke Leitkultur zu entwickeln"
    Köhler: Ich wollte es gerade sagen, das überrascht mich sehr, dass ausgerechnet Sie einen Kampfbegriff von Friedrich Merz benutzen, der ihn ziemlich im Regen hat stehen lassen, für den er auch sehr angegriffen worden ist. Denn, Herr Augstein, Freital und Heidenau gehören eben auch zu Deutschland!
    Augstein: Wir müssen diesen Begriff neu besetzen. Und gerade ich als sozusagen Linker bin dafür, eine linke Leitkultur zu entwickeln, eine, auf die wir alle stolz sein können, einen Zettel zu verfassen, den wir alle unterschreiben können. Und – und das ist jetzt echt ein wichtiger Punkt – das muss dann für die Deutschen genauso gelten. Es ist ja ein altes Missverständnis in Deutschland, dass nur der Ausländer sich zu integrieren hat. Irrtum, meine Damen und Herren! Auch die Deutschen müssen sich dann in dieses Einwanderungsland integrieren, auch sie müssen sich sozusagen diesen verbindlichen Regeln unterwerfen und auch sie müssen sich verändern. Denn natürlich verändert sich Deutschland, mit einem so hohen Maß an Einwanderung, wie wir es brauchen, wird sich Deutschland verändern. Und das ist auch okay so, das ist normal, das ist das Leben, Stagnation ist der Tod. Ich glaube nur, dass ganz, ganz viele Menschen in Deutschland das noch nicht so richtig gerafft haben. Und ja, da kommt einiges auf uns zu.
    Köhler: In der Schlusskurve möchte ich den meinungsstarken Jakob Augstein fragen, auch wenn es ihm vielleicht schwerfällt: Lassen Sie uns doch mal versuchen, über das Glück der Deutschen zu sprechen! Deutschland hat keinen neuen Sonderweg eingeschlagen wie vielleicht manche osteuropäischen oder EU-Erweiterungsländer. Wenn wir auf die ostdeutschen Länder gucken, stimmt die Formel "vereint und doch geteilt"? Wenn wir uns zum Beispiel das Bruttoinlandsprodukt angucken, die Arbeitslosenquote, braucht Ostdeutschland noch mal 25 Jahre?
    Augstein: Das ist eine schwierige Frage, die ich Ihnen nicht beantworten kann, weil sie in die Zukunft weist. Ich kann nur sagen, jetzt in der Gegenwart ist das Land immer noch sehr heterogen, viele kulturelle Ansichten unterscheiden sich im Osten deutlich von denen im Westen, zum Beispiel was Frauenpositionen angeht und Frauenrechte, obwohl ich gesehen habe, dass dort die junge Genration sich langsam der westlichen auch angleicht, also auch da konservativer wird sozusagen. Wir haben natürlich das Problem der Abwanderung, wir haben das Problem der mangelnden Industrialisierung und so weiter und so weiter. Aber letztlich ist das in einem Land wie Deutschland, das historisch heterogen ist, auch nicht so fürchterlich schlimm, wenn ich das sagen darf. Klingt jetzt ein bisschen komisch, aber das haben wir in der EU ja auch: Die Leute kommen von Portugal nach Deutschland, weil es hier Arbeitsplätze gibt. Eigentlich ist das in einem gemeinsamen Kultur- und Wirtschaftsraum in Ordnung.
    "Der Osten war nicht so aushängeschildmäßig unterwegs"
    Köhler: Die Konsumgewohnheiten zwischen Ost und West, die Bildungsabschlüsse, die Lebenserwartung, selbst die Kinderzahlen haben sich doch angeglichen. Also, es gibt hohe Angleichungsziffern, wenngleich eben auch im Bereich – Sie haben es erwähnt, Industrialisierung, Arbeitslosenquote, Bruttoinlandsprodukt, industrielle Vielfalt und so weiter – da doch noch ein großer Unterschied ist!
    Augstein: Na ja, ich weiß nicht, ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Optimismus. Ich meine, gerade bei dem Thema, über das wir jetzt eben gesprochen haben, Flüchtlinge, Ausländer, Integration, Islam in Deutschland, hat jetzt der Osten ... war jetzt nicht so aushängeschildmäßig unterwegs. Ich meine, in Dresden und in Leipzig gehen halt die Ausländerfeinde auf die Straßen und werden die Journalisten verprügelt, wie ich jetzt gerade gelesen habe, werden Schulkinder angeschrien und so. Ich habe diesen Spruch von Sigmar Gabriel, "Das ist Pack!", nicht unterschrieben. Ich finde, so soll man nicht über Leute reden, man muss versuchen, die alle mitzunehmen. Sie haben es ja völlig zu Recht gesagt, das sind halt auch Deutsche, die gehören halt auch dazu, was sollen wir mit denen machen, wir können sie ja nicht in der Ostsee versenken, also, die müssen wir schon noch mitnehmen. Aber dieses Mitnehmen, da haben wir in der Tat als liberale Mehrheitsgesellschaft offensichtlich in den letzten Jahren versagt in Ostdeutschland, da ganz klar.
    Köhler: Das wäre eine Aufgabe für die nächsten 25 Jahre?
    Augstein: Ja, natürlich, das ist eine unbedingte Aufgabe. Die Akkulturation ist noch nicht abgeschlossen. Und deshalb noch mal: Die Integration des Ostens ist noch nicht abgeschlossen, wie Sie ja daran sehen, also, auch diese Brüder und Schwestern müssen sich offensichtlich teilweise immer noch integrieren in unser größer gewordenes Deutschland, ganz genauso wie die Syrer. Bei manchen bin ich mir nicht sicher, wer den schwereren und weiteren Weg vor sich hat.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.