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Angriffe auf den Nordirak
Menschenrechtlerin: "Türkei verfolgt das Ziel, das Grenzgebiet zu erweitern"

Die Menschen im Nordirak seien zum Spielball geopolitischer Interessen geworden, kritisierte die Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal im Dlf. Vor allem für die noch traumatisierten Jesiden seien die Angriffe der Türkei "tief schockierend". Die Bundesregierung müsse hier diplomatischen Druck ausüben.

Düzen Tekkal im Gespräch mit Rainer Brandes | 20.06.2020
Zwei jesidische Frauen im Flüchtlings-Zeltlager in der Kurdenregion Dohuk im Nordirak. Die Frauen waren zuvor vor dem IS geflüchtet.
Diese beiden Jesidinnen sind aus dem Sindschar-Gebirge in ein Flüchtlingszeltlager geflohen (picture alliance / Antonio Pampliega)
Die Türkei hat in dieser Woche eine Luftlande- und Bodenoffensive im Nordirak begonnen. Das türkische Verteidigungsministerium spricht davon, man bekämpfe dort Terrorgruppen und meint damit wohl die kurdische PKK.
Die Aktion findet genau in dem Gebiet statt, wo auch die Jesiden ihre Heimat haben, ein Volk, das sowieso schon vom selbst ernannten Islamischen Staat bedroht wird. "Die Jesiden sind wieder einmal zum Spielball geopolitischer Interessen geworden zwischen der Türkei, zwischen Russland, dem Iran", sagt die Journalistin und Menschenrechtlerin Düzen Tekkal.
Sie sieht in der PKK-Bekämpfung nur einen Vorwand. "Es ist klar, dass die Türkei das Ziel verfolgt, das Grenzgebiet der Türkei zu erweitern in die Region Kurdistan hinein." Derzeit würden aber vor allem die Jesiden unter den Angriffen leiden, so Tekkal, die auch die Hilfsorganisation HAWAR.help mitgegründet hat.
Türkei und Nordsyrien "Eine Katastrophe für Jesiden und Christen
Die türkische Offensive in Syrien hat auch Auswirkungen auf die religiösen Minderheiten. Experten warnen: Durch neue Fluchtbewegungen könnte es in Nordsyrien bald keine Jesiden und Christen mehr geben.

Das Interview in voller Länge

Rainer Brandes: Was hören Sie denn über die Situation der Jesidinnen und Jesiden im Nordirak?
Düzen Tekkal: Sie haben es ja zu Anfang auch gesagt, ich habe einen Verein ins Leben gerufen auf der Asche eines Völkermords, der sich nicht nur um die Jesiden kümmert – das möchte ich noch mal erweitern –, sondern auch um Muslime und um Christen. Was höre ich über die Situation der Jesidinnen und Jesiden im Nordirak: eigentlich fast dasselbe wie vor sechs Jahren. Mir kam das vor wie ein Déjà vu, als ich Anfang letzter Woche Anrufe bekommen habe mitten in der Nacht, Videos zugeschickt bekommen habe, Bilder über Luftangriffe, und was mich am meisten daran geschockt hat, war, dass es das Sindschar-Gebirge war. Das Sindschar-Gebirge ist zu weltweiter Berühmtheit erlangt, zu trauriger Berühmtheit, denn dort wurde sozusagen die Brutalität des IS am sichtbarsten. Dort wurden sozusagen die Jesiden der sengenden Hitze ausgesetzt, über 50 Grad, sie mussten ihre Kinder beerdigen, sie haben Familienangehörige verloren. Dass ausgerechnet dort jetzt die Luftangriffe der Türkei, eines NATO-Bündnispartners, geflogen werden, ist tief schockierend, schmerzhaft, macht den Menschen dort Angst, denn wir müssen uns mal vergegenwärtigen, wir reden von einer Religionsgemeinschaft, die traumatisiert ist, die einen Völkermord im Nacken hat, der bis heute nicht aufgeklärt ist. Erst gestern wurden Massengräber entdeckt mit über 500 sterblichen Überresten. Das ist das 84. Massengrab. Was sollen die Jesiden dazu sagen, wie sollen Sie das finden? Das wirklich Brutale daran ist, dass 150 jesidische Familien sich gerade auf den Weg gemacht hatten nach Sindschar. Es ist ihr Ursprungsgebiet, es ist ihre Erde, es ist der Ort, aus dem sie kommen. Ich frage ganz offen: Wohin mit ihnen, wo sollen die Jesiden hingehen, wenn sie weder in Europa akzeptiert werden, wenn sie nicht in ihre Heimatregion können. Die Jesiden sind wieder einmal zum Spielball geopolitischer Interessen geworden zwischen der Türkei, zwischen Russland, dem Iran. Es sind ja ganz viele unterschiedliche Verteidigungseinheiten. Dann den Vorwand der PKK heranzuziehen, klingt für mich wie ein Totschlagargument, denn was hat die PKK sozusagen also über die türkische Landesgrenze hinaus in diesen Gebirgen verloren, denn wer darunter leiden muss, ist immer die Zivilbevölkerung.
"Wie lange wollen wir die Expansionspolitik der Türkei noch mitmachen?"
Brandes: Das heißt, Sie ziehen in Zweifel, dass dort tatsächlich ein Rückzugsgebiet der PKK ist, wie die türkische Regierung das sagt.
Tekkal: Also Fakt ist, dass durch den Völkermord 2014 und durch den Abzug bestimmter Verteidigungseinheiten aus dem benachbarten Syrien die YPG-Einheiten kamen und da sozusagen 15.000 Jesiden das Leben gerettet haben. Aber den PKK-Konflikt gibt es, seitdem ich geboren bin. Ich bin sozusagen auch Tochter kurdisch-jesidischer Einwanderer aus der Türkei, und der wurde da nicht gelöst, der ist bis heute nicht gelöst. Was mich als Menschenrechtsaktivistin aber vor allem interessiert, ist die Situation der Menschen vor Ort, die zum Spielball geworden sind. Da gilt es, den Finger in die Wunde zu legen, und ich wundere mich stark darüber, über die Tatsache, dass das weder verurteilt wird noch dass es angesprochen wird und dass es wieder einmal totgeschwiegen wird. Ich frage mich, wie lange sollen wir das noch mitmachen, also auch diese Expansionspolitik der Türkei. Ich sage mal Libyen, Katar, der Mittelmeerraum, die Provokationspolitik gegen Griechenland, was hat das alles mit der PKK zu tun. Es gehet nicht darum, Position zu beziehen, also es geht wirklich darum, zu gucken, was passiert hier eigentlich gerade. Es ist klar, dass die Türkei das Ziel verfolgt, das Grenzgebiet der Türkei zu erweitern in die Region Kurdistan hinein. Es wurde ja sichtbar, wir haben ja gerade gehört, wie die Türkei auch argumentiert, zumindest die türkische Regierung. Die Türkei braucht gegenüber der eigenen Bevölkerung Erfolge. Dort herrscht gerade Inflation, die Wirtschaft ist schwierig, der Tourismus bricht weg und Erdogans Thron wackelt ein Stück weit. Deswegen werden im Inland Feinde aufgebaut und im Außenland genauso. Die Frage ist: Wohin mit 20 Millionen Kurden, gleichzeitig wie die Frage, wohin mit über einer Million Jesiden. Ich glaube, in Zeiten der Globalisierung müssen wir alle darauf Antworten entwickeln.
Die jesidische Journalistin Düzen Tekkal
Die jesidische Journalistin Düzen Tekkal (picture-alliance/dpa-Zentralbild/Britta Pedersen/)
Brandes: Wenn das stimmt, wie Sie das sagen, dass es nicht um die Bekämpfung der PKK geht, sondern um etwas anderes, um Expansion, sagen Sie, glauben Sie, dass die Türkei tatsächlich eine Annexion des Gebietes vorhat?
Tekkal: Also es findet ja schon längst statt. Ich meine, wir müssen nur erinnern an Afrin, das ist ja auch in der Versenkung verschwunden, dass dort mittlerweile auch dschihadistische Söldnerparteien genauso brutal vorgegangen sind, die Bilder sind rumgegangen, wo auch Frauen sozusagen unterdrückt worden sind. Wenn Krieg ist, wird getötet, wo Bomben fallen, sterben Menschen. So einfach ist das. Afrin war in gewisser Weise eine Blaupause, wo viel zu wenig reagiert wurde. Das hatte zur Folge, dass auch dort jesidische Familien sich auf die Flucht gemacht haben in den Libanon. Was haben Jesiden in Libanon verloren, die haben dort niemanden, sie kennen niemanden. Es geht um jesidisches Leben, um christliches Leben, um Leben von Muslimen in den Heimatregionen. Es geht darum, dass wir Antworten entwickeln müssen, dass wir endlich eine menschenrechtsgeleitete Außenpolitik brauchen, dass wenn wir wirklich sagen, wir wollen Fluchtursachenbekämpfung, wir auch Ross und Reiter benennen müssen, und wenn das ein NATO-Bündnispartner ist. Es geht mir auch um den Teil der Türkei, der nicht kurdisch-jesidisch ist, sondern türkisch und trotzdem unterdrückt wird.
"Bundesregierung muss Militäroperation scharf kritisieren"
Brandes: Aber Frau Tekkal, was genau erwarten Sie jetzt von der Bundesregierung, von Europa? Was sollen sie tun?
Tekkal: Also ich erwarte, dass die Bundesregierung diese jüngste Militäroperation erst mal mit scharfen Worten kritisiert und diplomatischen Druck ausübt. Diplomatie ist unser oberstes Primat, und dazu muss man den Mund aufmachen. Wenn das nicht passiert, dann müssen wir unsere politischen Entscheidungsträger dazu zwingen beziehungsweise den Finger in die Wunde legen. Wir haben mit HAWAR.help eine Petition ins Leben gerufen, wo wir den sofortigen Stopp der Luftangriffe fordern. Wir wünschen uns eine Flugverbotszone für die Menschen dort. Vor einigen Wochen – das ist komplett untergegangen – gab es einen Vorstoß der Vereinten Nationen zu einer weltweiten Feuerpause angesichts der Corona-Pandemie. Die wird aber gar nicht eingehalten. Im Gegenteil, die Anzahl militärischer Konflikte steigt, und es mitnichten so, dass wir hier die Insel der Seligen wären. Wir sehen doch, wie die Konflikte eins zu eins überschwappen, und es ist total wichtig, dass anerkannt und gesehen wird, wenn Völkerrecht gebrochen wird, egal von wem, dass diplomatischer Druck aufgebaut werden muss. Man kann doch nicht einfach ein Nachbarland bombardieren. Man merkt ja auch an der schwachen Reaktion des Iraks, dass das ein failed state ist, dass es den Irak nicht gibt.
Brandes: Frau Tekkal, da wollte ich Sie gerade drauf ansprechen. Das Ganze findet ja auf dem Staatsgebiet des Iraks statt. Können die Menschen dort im Norden des Iraks auf die Unterstützung der Regierung zählen?
Tekkal: Also sie fühlen sich nicht geschützt, und das hat natürlich auch mit mehreren Problemen zu tun. Ich sage mal, die Konsequenzen auch das Krieges, die Situation in den IDP-Camps, da wird ja Unvorstellbares auch geleistet – alleine über 400.000 Jesiden in den IDP-Camps seit sechs Jahren, aber auch viele andere. Also diese Regionen haben sozusagen genauso viele Flüchtlinge wie Teile der Bevölkerung, und da ist natürlich völlig klar, dass es da auch zu Überforderungen kommt, aber vor allem haben sie die Souveränität über ihr eigenes Land nicht, denn wir nennen es Irak, aber sie sagen Kurdistan, Schiitistan, Sunnitistan. Also es ist sehr, sehr volatil, es ist nicht einfach. Wir merken das auch an Schindal, dass sozusagen die ganzen verschiedenen Akteure dort zusammenkommen und über eine Region verhandeln, unter der die Menschen dort leiden. Ich sage es noch mal, eigentlich müsste es darum gehen, dass wir juristische Verfahren einleiten weltweite. Es gibt immer noch Völkermörder, die frei rumrennen, und zwar in der ganzen Welt. Es geht nicht um den Irak. Wir haben hier in Deutschland einen Prozess am Oberlandesgericht Frankfurt, wo ein IS-Täter vor Gericht steht, weltweit zum ersten Mal, wegen Völkerrechtsverbrechen an den Jesiden. Das sind Völkermörder, die rennen in Europa frei rum. Sie gefährden nicht nur die Minderheiten dort vor Ort, sie gefährden uns alle. Sie gefährden die Zivilisation, sie gefährden einen demokratischen Rechtsstaat. Es geht um das Prinzip der Weltgerichtsbarkeit, und das wird auch dort verhandelt. Wenn wir Partner haben, die dieses Recht brechen, dann müssen wir mit aller Vehemenz dagegenhalten, sonst wehrt sich das wie ein Bumerang.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.