Die Vorsitzende des Vorstands der Amadeu-Antonio-Stiftung, die sich gegen Fremdenfeindlichkeit engagiert, sagte, nicht nur Bürgermeister, auch Lokaljournalisten und andere Mitglieder der Zivilgesellschaft würden in Deutschland von Nazis bedroht. "Aber manchmal braucht es einen solchen Skandal, damit Dinge der Bevölkerung und den Medien bewusst werden." Die Demokratie dürfe in einem solchen Fall nicht zurückweichen.
Im Vergleich zu den Angriffen auf Asylbewerberheime in den 90er-Jahren gebe es heute immerhin ein Bewusstsein für die Bedrohung durch Rechtsextreme, so Kahane. "Damals war die Aggression noch um ein Vielfaches höher"; es hätten dauernd Asylbewerberheime gebrannt - teilweise habe es jährlich bis zu 17 Todesopfer aufgrund rechtsextremer Taten gegeben. Darüber sei jedoch - anders als heute - nicht gesprochen worden.
Allerdings gebe es für die rechte Bedrohung keinen Ausschaltknopf und dann werde alles gut. Es helfe nur, sich mit Gleichgesinnten gegen die Nazis zu verbünden oder auf Hilfe von außen zurückzugreifen. Man müsse darauf hoffen, dass die Politik in Zukunft schneller reagiere, sagte Kahane weiter. Gleichzeitig müssten Politiker wie der Bürgermeister von Tröglitz stärker von der Polizei geschützt werden.
Das Interview in voller Länge:
Peter Kapern: Es ist wieder so weit: Nazis bestimmen in Deutschland, wer Bürgermeister sein soll und wer nicht. Markus Nierth jedenfalls darf es nach dem Willen des braunen Mobs nicht sein. Er war ehrenamtlicher Bürgermeister in Tröglitz in Sachsen-Anhalt und als Bürgermeister warb er für die Aufnahme von Flüchtlingen in dem Ort. Deshalb kündigten Rechtsextreme eine Kundgebung vor dem Haus des Bürgermeisters an, der dann am Sonntag zurücktrat, um seine Familie zu schützen. Darüber hat mein Kollege Tobias Armbrüster gestern Abend mit Anetta Kahane gesprochen. Sie ist die Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, die sich gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wendet.
Tobias Armbrüster: Frau Kahane, ein Bürgermeister tritt zurück, weil er sich von Rechtsextremen bedroht fühlt. Wer hat in diesem Fall versagt?
Anetta Kahane: Nun, der Bürgermeister ganz gewiss nicht, und das Schlimme ist, dass sein Fall überhaupt erst in die Medien kommt, als er in eine Situation gebracht wurde, wo er sich gezwungen sah, zurückzutreten. Ich nehme mal an: Wäre er nicht zurückgetreten, dann hätte das nicht solch eine Aufmerksamkeit errungen. Und dass sich jetzt sogar der Deutsche Städte- und Gemeindetag hinter ihn stellt und sagt, da muss man was tun, das ist traurig, dass es diesen Anlass bedurfte, aber ein gutes Zeichen, dass dieser Städte- und Gemeindetag jetzt nun endlich auch sieht, wir haben in Deutschland immer noch ein Problem mit der Bedrohung von Persönlichkeiten, Vertretern der Zivilgesellschaft und, wie Sie sehen, auch ehrenamtlicher Bürgermeister durch Rechtsextreme.
"Immer wieder passiert so was, dass Bürgermeister bedroht werden"
Armbrüster: Was schätzen Sie denn, wie viele Bürgermeister gibt es noch in Deutschland, die mit einer ähnlichen Entscheidung ringen?
Kahane: Das kann ich Ihnen natürlich nicht sagen. Wir hatten schon verschiedene Fälle in Mecklenburg, auch in Sachsen-Anhalt. Jetzt gerade der Bürgermeister von Magdeburg bekam Todesdrohungen. Es gab auch zwischen 2013 und '12 einige Fälle, auch in Sachsen zum Beispiel. Immer wieder passiert so was, dass Bürgermeister bedroht werden. In dem Fall waren es in der Regel keine ehrenamtlichen, sondern hauptamtliche Bürgermeister. Wir hatten das auch in Wolgast in den 90er-Jahren, als ein tapferer Bürgermeister sich da gegen die Rechtsextremen gestellt hat und dessen Familie bedroht wurde. Also es passiert immer wieder.
Armbrüster: Wenn so was tatsächlich immer wieder passiert, wie sollen wir dann die vielen betroffenen Politiker verstehen, die sich jetzt zu Wort melden und die Alarm rufen, weil dieser eine Mann zurückgetreten ist?
Kahane: Na ja, das mag erstaunlich klingen, aber manchmal braucht es einen solchen Skandal, damit Dinge der Bevölkerung und den Medien bewusst werden. Wir haben sehr, sehr lange gerungen, um überhaupt zur Kenntnis zu bringen, dass wir ein Problem mit Rechtsextremen haben. Das ist immer ein Prozess. Es hat Jahre gedauert, bis das irgendwie verstanden wurde, dass es tatsächlich eine solche Bedrohung generell gibt und dass es Lokaljournalisten betrifft. Die Redakteure in Lokalzeitungen haben immer wieder mit solchen Problemen zu tun, nicht nur die Bürgermeister, sondern Leute, die sich vor Ort engagieren, die unter Druck gesetzt werden und bedroht werden. Es ist sehr schade, dass es immer wieder solcher Ereignisse bedarf, aber so entsteht Bewusstsein. Das ist nun mal so.
Armbrüster: Was muss denn jetzt passieren, abgesehen von solchen Alarmrufen und von solchen Betroffenheitsäußerungen, dass sich etwas ändert in solchen Kleinstädten wie Tröglitz?
Kahane: Was passieren muss, kann ich jetzt nicht in jedem einzelnen Fall sagen. Es gibt generell keinen Ausschaltknopf, auf den man drückt und dann wird alles gut.
"Da hilft nur, sich mit anderen Gleichgesinnten zu verbünden"
Armbrüster: Dann können Sie uns vielleicht kurz erklären: Wie tritt man solchen Extremisten gegenüber auf, wenn die durch ein zwei, 3000 Einwohner Städtchen laufen und dort grölen und möglicherweise vor dem einen oder anderen Haus Halt machen?
Kahane: Ja, das ist immer wieder passiert. Da hilft nur, sich mit anderen Gleichgesinnten zu verbünden, oder auch Hilfe von außen zu organisieren, bei den politischen Parteien Alarm zu schlagen und darauf zu hoffen, dass nach diesem Fall jetzt die Landespolitik, die Bundespolitik, die Regionalpolitik schneller reagieren und dass da entschieden dafür gesorgt wird, dass solche Politiker dann wirklich beschützt werden von der Polizei. Dafür ist ja die Gewaltenteilung da. Die Demokratie darf dann nicht zurückweichen, sondern muss sich dem stellen.
Armbrüster: Es wird ja jetzt in diesen Tagen immer wieder viel daran erinnert, an die vielen Ausschreitungen und auch an die Anschläge vor ungefähr 20, 25 Jahren, in den Jahren nach der Wiedervereinigung. Können wir heute rückblickend sagen, auch mit dem, was in Tröglitz und in den anderen Städten, die Sie genannt haben, passiert ist und passiert, können wir heute sagen, es ist seitdem eigentlich nichts richtig besser geworden, sondern eher schlechter?
Kahane: Nein, das würde ich so nicht sagen. Damals - ich habe das hautnah erlebt - stand praktisch in allen Orten diese Gefahr und es gab überhaupt keine Resonanz bei den Medien und bei der Politik. Das hat sich total geändert. Auch gerade, was die Bereitschaft betrifft, Flüchtlinge zu unterstützen. Damals war die Aggression noch um ein Vielfaches höher. Es haben dauernd irgendwie Asylbewerberheime gebrannt und in den 90er-Jahren gab es Jahre, in denen wir zum Teil bis zu 17 Tote hatten. Das waren unglaubliche Zustände und es ist nicht bemerkt worden, es ist nicht besprochen worden. Es fällt jetzt auf, weil wir inzwischen doch ein gewisses Bewusstsein dafür erkämpft haben. Wir haben den NSU-Fall gehabt und wir haben viele andere Fälle gehabt. Das heißt, wir haben Jahr für Jahr dafür gesorgt, dass das öffentlich bekannter wird. Und dass heute ein solcher Fall überhaupt solche Schlagzeilen machen kann, ist für mich, ehrlich gesagt, eher ein positives Zeichen, weil früher hat kein Hahn danach gekräht, und das war der eigentliche Skandal.
"Nicht zurückweichen vor den Nazis"
Armbrüster: Was würden Sie denn dem neuen Bürgermeister von Tröglitz raten, was sollte er als erstes anpacken?
Kahane: Nicht zurückweichen vor den Nazis. Es tut mir sehr leid für den Bürgermeister, der zurückgetreten ist, dass er keinen anderen Weg gesehen hat. Aber für den neuen Bürgermeister: Nicht nachgeben, weiter dafür kämpfen, dass die Asylbewerber im Ort untergebracht sind, sich engagieren dafür, dass da ein gutes Klima und eine gastfreundliche Atmosphäre entsteht. Das ist das aller- allerbeste Mittel gegen diese Rechtsextremisten.
Kapern: Mein Kollege Tobias Armbrüster im Gespräch mit Anetta Kahane, der Vorsitzenden der Amadeu Antonio Stiftung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.