Verhaltensweisen, die anderswo ganz klar als missbräuchlich identifiziert werden, seien in der Turnwelt völlig normal, sagt Jennifer Pinches gegenüber der BBC. Die britische Olympiaturnerin ist die Initiatorin von #gymnastAlliance.
Seit einem halben Jahr melden sich immer mehr Turnerinnen rund um den Globus unter dem hashtag #gymnastAlliance und erzählen von Erfahrungen, die sie in ihrer Kindheit und Jugend als Turnerinnen gemacht haben. Von Psychoterror bis zu physischer Gewalt ist alles dabei. Etwa zeitgleich erscheint auf Netflix "Athlete A". Der Film dokumentiert den Missbrauchskandal im US-amerikanischen Turnsport um den Sportarzt Larry Nassar, der über Jahrzehnte Sportlerinnen sexuell missbrauchte.
Massiver Druck auf die "kleinen Turnroboter"
Und im November melden sich Spitzenturnerinnen aus Deutschland gegenüber dem Magazin der Spiegel zu Wort. Darunter Weltmeisterin Pauline Schäfer und ihre Schwester Helene.
Besonders schlimm wurde es, erzählt Pauline Schäfer, als sie anfing eine eigene Meinung zu entwickeln und nicht länger der "kleine Turnroboter" sein wollte. "Ich weiß noch ganz genau, dass ich, bevor ich zum Training gegangen bin, ganz viel Angst hatte"
Helene Schäfer, 17 Jahre alt, hat ihre Karriere mittlerweile beendet. Jahrelang habe sie unter großen Schmerzen trainiert und an Wettkämpfen teilnehmen müssen. Wie ihre Schwester Pauline, Weltmeisterin am Balken 2017, hat sie lange in Chemnitz am dortigen Olympiastützpunkt gelebt, unter dauerhaftem massivem psychischen Druck: "Es wurde halt immer so massiv Druck ausgeübt, dass wir einfach immer funktionieren mussten."
Etliche Turnerinnen die sich in diesen Tagen zu Wort melden, berichten, lange gar nicht verstanden zu haben, was ihnen passierte. So wie die Schweizerin Ariella Kaeslin, die 2015 ein Buch darüber schreibt, wie sie als Kind und junges Mädchen von ihrem Trainer terrorisiert wurde. Die ehemalige Kunstturnerin gegenüber dem Schweizer Fernsehen:" Ein wichtiger Faktor ist, dass es eine Kindersportart ist. Und dass Kindersportarten ganz anfällig sind für Missbrauch."
Turnerinnen fangen spätestens im Grundschulalter an zu trainieren, als Teenagerinnen turnen sie Spitzenniveau und in dann ist ihre Karriere auch bald schon wieder vorbei. Die Soziologin Natalie Barker-Ruchti forscht international seit langem im Bereich Kunststurnen und bestätigt: "Für mich ist ein wichtiger Punkt, die tiefsitzende Ideologie, dass die Kunstturnen von Frauen ein Kindersport ist."
Junge Mädchen sind extrem anfällig
Das war nicht immer so. Der anhaltende Abwärtstrend was das Alter angehe, habe erst Ende der 60er und Anfang der 70er eingesetzt. Statt Kinder und Teenager turnten damals ausschließlich erwachsenen Frauen. Die gibt es bis heute und die Forschung zeige, dass sie weniger vulnerabel seien und weniger anfällig für Missbrauch als junge Mädchen vor der Pubertät. Zuletzt hat Barker-Ruchti ältere Turnerinnen interviewt.
"Sie konnten selbst Verantwortung für ihre Karriere übernehmen, sie hatten mehr Kontrolle, es gab weniger Missbrauch und autoritäres Training. Und diese Ergebnisse waren wirklich ermutigend, denn dies war das erste Mal, dass Untersuchungen dokumentierten, dass Gymnastik anders gemacht werden kann, dass es erwachsene Körper mit erwachsenen Köpfen und Erwachsenenleben geben kann."
Mehrere Turnverbände wollen das Startalter anheben
Die Soziologin ist deshalb für eine Anhebung des Startalters bei Wettkämpfen zur Vermeidung von Missbrauchsfällen. In den Niederladen, wo sich die Affäre um Missbrauch mittlerweile auf 25 Trainerinnen und Trainer ausgeweitet hat, soll schon ab kommenden Jahr das Startalter für Seniorinnen auf 18 angehoben werden. Die skandinavischen, der irische und der isländische Turnverband fordern den Internationalen Turnerbund mit Sitz in Lausanne auf, die Anhebung des Startalters langfristig zu planen. Auf 16 bei den Juniorinnen und 18 bei den Seniorinnen.
Dies sei nicht der richtige Weg, hatte Alfons Hölz, Präsident des Deutschen Turner-Bundes laut Frankfurter Allgemeinen Zeitung noch im Juli gesagt. Heute sieht er das anders: "Ich bin absolut für die Anhebung des Startalters. Aber ich sag, es muss mit den Inhalten konform gehen. Zunächst einmal hat das auch etwas mit Wertungsvorschriften etwas zu tun. Wenn die Akrobatik das Maß aller Dinge ist und der Ausdruck, auch die choreografischen Bestandteile weniger, dann führt das zwangsläufig dazu, dass jüngere Turnerinnen höhere Chancen haben als erwachsene Frauen. Dieser Trend dass der zu brechen ist, das haben wir in den letzten Jahren, gerade mit unseren deutschen Spitzenturnerinnen gezeigt."
In der Tat sind die Topturnerinnen aus Deutschland derzeit alle älter als 20. Allerdings sieht auch der Rahmentrainingsplan des DTB Trainingszeiten von bis zu 23 Stunden pro Woche für Elf- und Zwölfjährige vor. Um Missbrauch von Sportlerinnen und Sportler zu vermeiden, hat der DTB bereits im vergangenen Jahr eine Ombudstelle eingerichtet und den Schutz vor jeglicher Gewalt in der Satzung verankert.
"Aber es ist natürlich die Frage, wie schaffen wir es, unsere Vorstellungen von einem menschenwürdigen Training überall in Deutschland umzusetzen."
Eine Aufgabe die der DTB nun verstärkt angehen will, sagt Alfons Hölzl. Gleichzeitig wolle man sich auf internationaler Ebene für Veränderungen nicht nur bei Altersgrenzen, sondern auch im Bewertungssystem einsetzen.