Freitag, 19. April 2024

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Anke Stelling: "Grundlagenforschung"
Die Krux mit dem Terrakotta-Boden

Anke Stelling hat für ihre Abrechnung mit dem neu-bürgerlichen Milieu in Berlin Prenzlauer-Berg 2019 den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten. "Mit Grundlagenforschung" erscheinen nun bereits veröffentlichte und auch neue Erzählungen, um ihre "gesamte literarische Welt zu entdecken."

Von Cornelius Wüllenkemper | 03.11.2020
Collage Hintergrund: Stockfoto, Vordergrund: Buchcover und Autorin Anke Stelling
Anke Stelling und ihr neues Buch "Grundlagenforschung" (Nane Diehl)
Anke Stellings Figuren sind Zweifelnde und Verunsicherte, es sind prekäre Kreative oder gelangweilte Gutverdiener, die ihren Lebensentwurf hinterfragen. Die Grafikerin Simone etwa hat die Umschulung vom Arbeitsamt in die falsche Richtung geführt. Bevor "nach und nach alles zu Ende geht", so ist Simone überzeugt, ist sie jetzt mal am Zug im Spiel des Lebens.
Sie verbringt die Nacht mit einem Fremden, bringt aus "Geltungssucht und Langeweile" ein Kind zur Welt und richtet sich schließlich in der biederen Nachbarschaft am Stadtrand ein – eine vermeintlich "glückliche Fügung", so der Titel der Erzählung. Der trübsinnige Christian aus Stellings Geschichte "Bei den Wölfen" von 2004 pflegt seine kranke Partnerin Gunda und sehnt sich danach, wieder "klein zu sein, Eltern zu haben, die für ihn sorgen".
Das Leben ist ungerecht und kompliziert
Im Ferienhaus mit Freunden würfelt man darum, wer mit wem die Nacht verbringt und diskutiert leidenschaftlich darüber, ob der Terrakottaboden teurer ist als ein neuer Pool. Das Leben ist ungerecht und kompliziert: entweder leidet man unter der Langeweile konventioneller Wohlstandbürgerlichkeit, oder die Seele wird zerschunden von den Anstrengungen des alternativ-kreativen Daseins. So auch in der Erzählung "Feldsalat" von 2008, die Anke Stellings jetzt erschienenen Erzählband "Grundlagenforschung" eröffnet.
"Das Feld ist abgesteckt, im Text wie im Leben. Wer weiterblättern will, soll das tun; wer meint, die mittleren Jahre erreichten ihn nicht, hat sich getäuscht. Sie kommen. Sie bestimmen dein Handeln, sie beherrschen dein Denken; du bist nicht mehr, wer du mal warst. Warst du jung? Schön für dich. Ich dachte ja, ich sei’s nie gewesen, aber ich war’s auch, rückblickend. Und jetzt wirst du langsam alt, genauso zwangsläufig, wie ich einstmals jung war. Es gibt eben doch noch das eine oder andere, das wir nicht entscheiden."
Auf Claudia, eine spätgebärende Kreative, die schließlich mit ihrer Hebamme ins Bett geht, und ihren Freund Heiner, einem zumeist abwesenden Tournee-Künstler, kommt Anke Stelling in einer zehn Jahre später veröffentlichten Geschichte erneut zurück. Es überrascht nicht, dass auch diese Verbindung vor die Hunde geht, zerrieben zwischen dem Traum von einer gesicherten Existenz und der obsessiven Angst, etwas im Leben zu verpassen.
Anke Stelling schreibt über sich und für sich
Anke Stelling seziert die spät-kapitalistischen Sinnfragen in die Jahre gekommener Berufsjugendlicher gnadenlos. Ihr Klientel kennt die Autorin, die laut Eigenauskunft vor allem über sich und für sich schreibt, aus ihrem eigenen Umfeld in Berlin Prenzlauer-Berg. In dem Drüber und Drunter von Eigen- und Fremderwartung, dem Abwägen zwischen Rebellion gegen oder Rückbesinnung auf die Wurzeln der eigenen Herkunft, hilft nur das Schreiben.
"Wenn Claudia schrieb, hing plötzlich alles mit allem zusammen, war genau in diesem Wirrwarr eine gewisse Schönheit zu erkennen: Niemand wusste, wo oben und unten war, und trotzdem ging’s irgendwie weiter. Im Text zumindest. Und im Leben. Nach ein paar Stunden am Schreibtisch konnte Claudia sich ihre Joggingschuhe anziehen und loslaufen, konnte Bekannten begegnen und sich deren Fragen stellen, konnte sogar ihren Sohn im Bett und ihre Tochter im Recht lassen – um sich dann erneut an den Schreibtisch zu setzen und nach Zusammenhängen zu fahnden, einfach den Rechner hochfahren und los."
Das Nachdenken über das Verhältnis zwischen Text und Welt wie etwa in der besonders gelungenen Erzählung "Ranunkeln" von 2018 sind die stärksten Passagen in den vorliegenden 14 Geschichten. Die Autorin betreibt in ihnen die titelgebende "Grundlagenforschung" am eigenen Ich.
Transkription der kruden Realität
Stellings Texte liefern präzise Beschreibungen von Seelen- und Lebenslagen, weisen aber im literarischen Sinne nie über sich selbst hinaus. Sie erschaffen keine alternativen Welten, sondern transkribieren einen soziologischen Ausschnitt der kruden Realität. In der vorgeblich autobiographischen Erzählung "Die Stelle" - Anke Stellings Spitzname zu Schulzeiten - richtet die Autorin ihren analytischen Blick schließlich auf sich selbst.
"Das Ende der Blöcke hat ein Vakuum zurückgelassen, die Welt verlegt sich auf scheinbare Individualisierung und aufs Geld. Auch ich halte mich hilflos an die Gesetze der Ökonomie. Wem ich meinen Körper zumute, der kriegt seine Auslagen zuverlässig und prompt von mir zurück. Sex ist ein Tauschgeschäft, bei dem es um absolute Ausgewogenheit geht. Ein geringer Kreditrahmen ist verhandelbar, allerdings mag ich es lieber, wenn der andere ins Minus gerät und nicht ich."
Stellings Erzählungen künden in lakonischem Stil von der großen Desillusionierung, sie entzaubern die Träume der kreativen Lebenskünstler ebenso wie die Glücksvorstellungen gesetzter Bürgerlichkeit. Motive, Figuren, Namen und Handlungselemente, die man bereits aus Stellings Romanen kennt, werden - zum Teil nur leicht abgeändert - mehrfach aufgegriffen, wobei die literarische Entwicklung in den 14 Erzählungen von 2004 bis 2019 deutlich ablesbar ist.
Wer bin ich, und wie soll ich leben? Beim Versuch, diese Grundfragen schreibend zu lösen, wandelt Anke Stelling nicht immer ganz trittfest auf dem schmalen Grat zwischen Kritik und Häme, zwischen Realismus und Überzeichnung, zwischen Zweifel und Wehklage.
Anke Stelling: "Grundlagenforschung"
Verbrecher-Verlag, Berlin, 191 Seiten, 20 Euro.