Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Anne Dufourmantelle: "Lob des Risikos"
Die Gefahren kommen lassen

Die französische Philosophin Anne Dufourmantelle starb 2017, als sie zwei Kinder vor dem Ertrinken rettete. Posthum erscheint nun ihr Buch "Lob des Risikos". Darin schlage sie ein Lebensmodell vor, das Risiko als einen alltäglichen Teil der Existenz begreife, sagte der Essayist Joseph Hanimann im Dlf.

Joseph Hanimann im Gespräch mit Dina Netz | 24.10.2018
    Buchcover: Anne Dufourmantelle: „Lob des Risikos. Ein Plädoyer für das Ungewisse“
    Keine Heroisierung des Risikos in Ausnahmesituationen, sondern mehr gelassene Risikobereitschaft im Alltag - dafür plädiert "Lob des Risikos"" (Buchcover: Aufbau Verlag, Hintergrundfoto: Stock.XCHNG / Jeff Hallam)
    Dina Netz: "Das Risiko ist schön". Diesen Ausspruch von Platon hat Anne Dufourmantelle ihrem Buch "Lob des Risikos" vorangestellt. Ein Buch, in dem die französische Philosophin und Psychoanalytikerin ein Loblied auf das Leben singt, auf ein Leben, in dem man etwas wagen und es intensiv genießen solle. Anne Dufourmantelle ist dieser Maxime selbst auf dramatische Weise treu geblieben: Im Sommer 2017 rettete sie zwei in Gefahr geratene Kinder aus dem Mittelmeer, sie selbst verlor dabei ihr Leben.
    Ihr "Lob des Risikos" ist nun gerade auf Deutsch erschienen und könnte Anne Dufourmantelle nun noch posthum in Deutschland bekannt machen. "Von der Gastfreundschaft", das sie zusammen mit Jacques Derrida herausgebracht hat, ist vor zwei Jahren im Passagen Verlag erschienen. Aber ansonsten ist Anne Dufourmantelle in Deutschland eher wenig bekannt. Vielleicht auch deshalb hat der Aufbau Verlag dem aktuellen Buch "Lob des Risikos" ein Vorwort vorangestellt, und zwar von Joseph Hanimann, dem Pariser Kulturkorrespondenten der "Süddeutschen Zeitung". Herr Hanimann: Ich habe gerade schon gesagt: Anne Dufourmantelle war Philosophin und praktizierende Psychoanalytikerin. Könnte man sagen: Daraus resultierte, dass sie nie eine Philosophin war, die sich in Theorie-Gebäuden verlor, sondern sie behielt immer den Bezug zum wahren Leben?
    Joseph Hanimann: Ja, damit hängt es sicher zusammen. Ich meine, es gibt andere Psychoanalytiker, angefangen mit dem großen französischen Vater Jacques Lacan, der dann doch eher ins sehr Abstrakte, Philosophische abgezogen ist. Aber Anne Dufourmantelle hat wirklich ihr ganzes Leben lang die Psychoanalyse mit ihren Patienten als Schule der Praxis ausgeübt und blieb dadurch sehr nah am Lebensalltag dran, an den Lebensfragen, die sich stellen, damit auch für ein sehr viel breiteres Publikum als die spekulative Philosophie. Trotzdem brauchte sie die Philosophie, um diese konkreten Fragen, die sich aus den Analysen stellen, auf ein etwas allgemeineres Niveau zu heben.
    Das Leben lässt sich in keine Schule zwängen
    Netz: Sie ist aber dadurch vielleicht abseits der philosophischen Schulen geblieben, oder?
    Hanimann: Ja, wahrscheinlich hängt es damit zusammen - mit dieser Breite des Lebens, das Leben lässt sich in keine Schule zwängen -, dass keins der sich anbietenden Systeme unserer Zeit ihr entsprochen hat. Und dadurch hat sie sich von sehr vielen Bewegungen, Denkrichtungen beeinflussen lassen, aber sie hat sich nie festlegen wollen auf eine bestimmte Richtung, auf ein bestimmtes System, sondern hat sich sehr frei zwischen diesen Systemen bewegt.
    Netz: Sie sagen schon die Breite des Lebens. Wir haben das Risiko und die Gastfreundschaft erwähnt. Was waren denn sonst die Themen von Anne Dufourmontelle?
    Hanimann: Ein frühes Thema war Mutterschaft, also da spricht sehr stark die Psychoanalyse raus. Eins ihrer frühen Bücher, "La Sauvagerie maternelle" ist das auf Französisch, über die der Mutterschaft innewohnende Wildheit, wenn man es so übersetzen darf. Und dann kamen Themen, die uns im Leben regelmäßig begegnen. Ein Thema war die Sanftheit, die Kraft der Sanftheit, "La Puissance de la Douceur", wie viel Sanftheit ausrichten kann, vielleicht mehr manchmal als herrische Macht. Oder ein anderes Thema war das Geheimnis, also ihr letztes Sachbuch "Verteidigung des Geheimnisses". Dessen These war es, dass unsere Gesellschaft einen neuen Ort für das Geheimnis erfinden muss. Früher waren die Götter Herren des Geheimnisses, später war es das persönliche Ich aus der Renaissance, das heute mit den sozialen Medien, wo alles transparent zu werden scheint, auch ein bisschen in die Krise geraten ist, also: Wir müssen ein neues Geheimnis finden. Solche Themen aus dem Alltag werden dann praktisch durch sehr viele philosophische, literarische und andere Referenzen, Zitate, Bezüge, manchmal sehr flüchtig, in einen größeren Zusammenhang der Reflexion gestellt.
    Ein Denken im Dialog
    Netz: Anne Dufourmantelle hat ja auch sehr oft mit anderen Denkern zusammengearbeitet, Derrida und das Buch über die Gastfreundschaft habe ich schon erwähnt. Worin lag denn für sie der Reiz an diesen zahlreichen Arbeiten mit Kollegen?
    Hanimann: Im Austausch, eben dadurch dass sie keine Philosophin der These ist, das merkt man auch, wenn man sie liest. Es werden eher Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben. Und dadurch ist natürlich ein Werk, das im Dialog entsteht mit Frage, Gegenfrage, interessanter, auch ergiebiger für solche Denkformen, Denkformen des Fragens, des Dialogs, als eben Bücher, die auch interessant sein können, aber die ein anderes Denken voraussetzen als das von Dufourmantelle, als Bücher, die in Thesenform auftreten. Also dieses Hin und Her, dieses Wechselspiel ist ihre eigene, ganz spezifische Denkform.
    Netz: Lassen Sie uns mal auf "Lob des Risikos" kommen, Herr Hanimann. Gleich zu Anfang des Buches schreibt Anne Dufourmantelle, es gehe ihr darum, dass man sich dem Sterben verweigern solle. Damit meint sie natürlich nicht den biologischen Tod, das geht wohl schlecht, aber was meint sie?
    Hanimann: Der Ausgangspunkt dieses Buchs, "Lob des Risikos", ist eine Art Problem, die unsere Zivilisation, unsere gegenwärtige Gesellschaft hat mit dem Risiko. Also sie heroisiert es einerseits als Heldenakt, im Nervenkitzel des Außerordentlichen, und andererseits betrachtet sie es als eine Sache, dass das Risiko absolut verhindert werden soll. Also praktisch aus dieser allgemeinen Auffassung unserer Vorsehungsgesellschaft mit ihrem Hang zum Nullrisiko, dass jeder Schritt, ein Risiko einzugehen, fast schon ein pathologischer Akt ist. Davon will sie sich loslösen. Dagegen möchte sie ein Gegenmodell anbieten, dass Risiko nicht eine Augenblickserfahrung ist, praktisch zwischen Mut und Feigheit, sondern eine Lebenseinstellung, die zum Leben gehört. Das Leben an sich ist eine riskante Sache. Und wenn man jedes Risiko auf eine Frage von Leben und Tod, mit Todessprüngen von hohen Brücken oder sowas, hochstilisieren möchte, dann hat man diese Erfahrung des Normalen, dass Leben riskant ist, hat man verloren. Das Risiko ist nicht so wie wir es heute oft sehen, eine Fahrt, die in die Zukunft gewendet ist - also: Soll ich springen, soll ich nicht springen? -, sondern die ebenso sehr aus der Vergangenheit kommt, wie man zum Leben steht und wie man sich in jeder einzelnen Situation, die mehr oder weniger riskant sein kann, vielleicht auch gar nicht manchmal, wie man sich in diesen Situationen dann verhält.
    Leichtfüßiges Plädoyer für das Risiko
    Netz: Es geht aber, wenn ich es richtig verstanden habe, Anne Dufourmantelle eben nicht um die Frage: Springen oder nicht? Also sozusagen nicht um ein lautes oder auch gefährliches Aufbegehren, sondern eher um sanfte - und da sind wir bei dem Buch "Über die Sanftheit" -, es geht ihr eher um sanfte und humorvolle Aufstände, oder?
    Hanimann: Ja, absolut. Also um eine leichtfüßige, nicht eine kämpferische Gegenposition. Also all diese kleinen Situationen, in denen man ein kleines Risiko auf sich nehmen soll. Sie geht das dann ja in verschiedensten Lebensaspekten praktisch die Thematik des Risikos durch, manchmal in Situationen, die man eigentlich gar nicht erwarten würde. Zögern kann eine Form von Risiko sein. Man ist nicht so ganz sicher: Soll ich, soll ich nicht? Ist es besser, besser nicht? Also nicht das Herrische: So, jetzt los! Sondern zögern. Oder Hartnäckigkeit kann eine Form von Risiko sein. Das Zulassen von Leidenschaften kann eine Form von Risiko sein, dass man die Sachen auf sich zukommen lässt. Damit stellt sie sich gegen eine lange philosophische Tradition der Stoiker. Seit der Antike gibt es ja eine philosophische Schule, die sehr anerkannt ist, eben von der Stoikern ausgehend, die sagt: sich nicht beunruhigen lassen im Leben, die Dinge praktisch ignorieren. Dagegen wendet sie sich und sagt: Wenn man ein Risiko eingeht, dann soll man die Gefahren sehr wohl sehen und soll dann die Gefahr kommen lassen. Man soll sie nicht wegschieben, sondern man soll sie kommen lassen. Eine andere Form, eine große Form von Risiko ist Liebe. Also Liebe ist nicht so eine Sache für Nestwärme, sondern ist - sehr schöne Formulierung von ihr: Liebe als Kunst der Abhängigkeit. Liebe ist ein großes Thema. Und sonst eben die Geduld, das sind kleinere Formen von Risikobereitschaft, die absolut nicht das Große, Aufbegehrende, Stolze hinter sich haben, sondern in kleinen Schritten. Sie erwähnt bei einer Gelegenheit mal die Figur des Bartleby und seine Antwort, -
    Netz: Von Melville.
    Hanimann: - "ich würde lieber nicht", so leichtfüßig kommt ihr Einspruch gegen die spektakuläre Risikobereitschaft daher.
    Netz: Was gewinnt man, wenn man sich auf diese Risikobereitschaft à la Anne Dufourmantelle einlässt?
    Hanimann: Einen längeren Atem, würde ich sagen. Das Leben wird nicht so kurzatmig, wird nicht aufgeregt. Wenn man sich im kritischen Moment sieht, wo man sich wirklich entscheiden muss, dann hat man, wenn man sich diese Fragen schon mal hat durch den Kopf gehen lassen, dann hat man diesen Vorlauf, dass man im Grunde vorbereitet ist, ein Stück weit, ganz natürlich nie. Das wäre ein Widerspruch wiederum. Das Leben ist nicht programmierbar. Aber man ist dann praktisch besser gewappnet, man ist reifer für entscheidende Schritte.
    Rückkehr zu alltäglicher Risikobereitschaft
    Netz: Herr Hanimann, Anne Dufourmantelle hebt das Risiko ja auch noch auf die politische Ebene, indem sie schreibt, wir leben in der sichersten Epoche seit Menschengedenken, zumindest in der westlichen Welt, und zugleich beobachtet man überall Panik, Zukunftsängste, Stress. Wie bringt Dufourmantelle diesen Mangel an Risiken und zugleich die übersteigerte Angst davor zusammen?
    Hanimann: Das ist eben das Paradoxe. Das ist im Grunde ein Stück Schizophrenie in unserer Situation. Auf der einen Seite eben: Es kann nie sicher genug sein - Versicherungsgesellschaften verdienen sehr viel Geld mit diesem Reflex, immer auf Nummer Sicher zu gehen. Aber wahrscheinlich gerade dadurch, dass man praktisch die Leere dahinter spürt, wenn für alles vorgesorgt ist, wenn alles vorgeplant ist, abgesichert. Was ist dann Leben überhaupt, lohnt es sich überhaupt dann noch zu leben? Wird man dann nicht ein Apparat, der sich praktisch so abspult bis zu seinem Ende. Und daher gleichzeitig das Suchen nach riskanten Erfahrungen - weiß ich was: im Paddelboot über ein Meer fahren oder sich in die Wüste irgendwie aussetzen, die ganzen Absicherungsmechanismen unseres Alltags kappen und sehen, wie weit man es bringt. Also diese beiden Pole, die wir nicht mehr zusammenbringen in unserem Leben, die wir beide spüren permanent, die versucht sie reflektierend wieder zusammenzubringen, indem sie im Grunde das eine und das andere Extrem - absolute Sicherheit und frivole Sprünge ins absolut Außerordentliche - untergräbt und eine alltägliche Risikobereitschaft zurückfindet.
    Netz: Wir sollten vielleicht noch eine Bemerkung auf die Sprache von Anne Dufourmantelle verlieren. Die ist sehr bildreich, geradezu literarisch. Nicola Denis hat sie sehr kenntnisreich und elegant ins Deutsche übersetzt. Was ist für Sie das Besondere an der Sprache von Anne Dufourmantelle?
    Hanimann: Eine produktive Unschärfe. Nicola Denis, die Übersetzerin, hat, finde ich, es sehr, sehr gut gemeistert, diese bildhafte Unschärfe, wo man oft errät, was sie sagt, und wo die Ideen praktisch so wie Wolken vorbeiziehen vor dem Auge, ohne dass sie oft aufs Genaue, aufs Detail hin untersucht werden, mehr assoziationshaft vorbeiziehen an unserem Gedankenhorizont, und dass es trotzdem nicht fahrig wird, nicht so approximative Gedanken, sondern Anstrengung, trotzdem eine gewisse Klarheit drin zu haben. Das ist oft ihre Stärke.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Anne Dufourmantelle: "Lob des Risikos. Ein Plädoyer für das Ungewisse"
    Aus dem Französischen von Nicola Denis. Mit einem Vorwort von Joseph Hanimann
    Aufbau Verlag, Berlin. 320 Seiten, 20,00 Euro.