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Anschlag in Nizza
"Wir produzieren die nächsten Täter mit"

Es sei ein Automatismus, die Tat in Nizza gleich als islamistischen Terroranschlag zu bezeichnen. Eine solche Einordnung dürfe aber nicht vorschnell getroffen werden, sagte der Psychologe Jens Hoffmann im DLF. Zugleich warnte er, Namen und Fotos von Tätern zu veröffentlichen - denn dies rufe Nachahmer auf den Plan.

Jens Hoffmann im Gespräch mit Anne Raith |
    Jens Hoffmann vom Institut Psychologie und Bedrohungsmanagement Darmstadt spricht bei einer Pressekonferenz in Berlin in Mikrofone.
    Jens Hoffmann, Geschäftsführer des Instituts Psychologie und Bedrohungsmanagement in Darmstadt (picture alliance / dpa / Hannibal Hanschke)
    Bei den Meldungen über Nizza habe er in einem ersten Impuls automatisch gedacht, dass dies ein islamistischer Terroranschlag sei, sagte Jens Hoffmann, der Leiter des Instituts Psychologie und Bedrohungsmanagement in Darmstadt im Deutschlandfunk. Das sei normal, zeige aber, dass die Gesellschaft in einer negativen Erwartungshaltung sei und jeden Moment damit rechne, dass etwas passiere. Das sei ein großer Erfolg für den Terrorismus.
    Man müsse unterscheiden zwischen Einzeltätern oder isolierten kleinen Gruppen und gut organisierten Terroristen. Einzeltäter seien etwa 13 mal häufiger psychisch instabil. Ihnen biete die Ideologie oder die Religion die Möglichkeit, die Welt in Schwarz und Weiß einzuordnen. Sie nehmen dies daher als Angebot wahr, das es ihnen ermöglicht, "mit einem großen Paukenschlag" aus dem Leben zu scheiden. So habe man etwa bei dem Anschlag in Orlando in den USA gesehen, dass die Tat eine "Doppelbödigkeit" gehabt habe.
    "Mit der Tat noch einmal groß herauskommen"
    Der Auftritt in den Medien und Live-Tatort-Fotos führten dazu, "dass die Welt auch zur Bühne wird und der Untergang dann eben ein ganz grandioser wird". Viele dieser Täter wünschten sich, noch einmal "groß herausgekommen". Manchmal seien sie auch voller Wut und wollten diese loswerden. Einige hätten auch Fantasien von einem Jenseits, was durch eine solche Tat besser und schöner werde.
    Die Zuschauer, die auch gleich mitberichteten, würden gerade von jüngeren Tätern antizipiert. Die mediale Spiegelung beeinflusse die Täter. Der Konkurrenzkampf der Medien um eine schnelle Berichterstattung führe zum Teil zu einer "mangelnden Distanz" - erst einmal zu schauen, was tatsächlich passiert sei.
    Vor einer Einordnung erst einmal genau hinschauen
    Man sollte sich aber wieder daran gewöhnen, erst einmal genau hinzuschauen. "Wir müssen nicht gleich Dinge am selben Tag einordnen oder kategorisieren, sondern erst einmal schauen, was ist dort eigentlich wirklich passiert." Gut sei, wie ein ARD-Reporter, der vor Ort war, Dinge geschildert und zugleich gesagt habe, er könne keine Einordnung geben. Die Verlockung, schnell eine Einordnung zu geben, sei aber sehr groß.
    Durch die Berichterstattung über den Täter fühlten sich viele Nachahmer animiert. "Es ist furchtbar. Wir produzieren die nächsten Täter mit." Dass ein solcher Täter plötzlich individuell weltweit bekannt werde, mache die Verübung von Anschlägen attraktiv. Deshalb sollten Gesichter verpixelt und keine Namen der Täter genannt werden. Die Nennung von Namen und Fotos zögen Nachahmer an. Diese Gefahr sei sehr groß, das belegten Statistiken.
    Die derzeitige Angst in Europa, etwa bei Großveranstaltungen, sei eine "Realangst", die man nicht beiseite schieben sollte. Man müsse aber versuchen, sich den Raum zurückzuerobern - für sich selbst, aber auch als Gesellschaft.
    Das vollständige Interview können Sie als Audio sechs Monate lang nachhören.