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Antijudaismus
Über Jahrhunderte ausgeprägtes Denken

Das viel zitierte christlich-jüdische Erbe, gibt es das überhaupt? Der amerikanische Historiker David Nirenberg zeigt nun, wie tief verwurzelt in der Geschichte des Abendlandes die Ablehnung des Judentums ist - und wie sie die europäische Geistesgeschichte grundlegend geprägt hat.

Von Bettina Marx | 22.06.2015
    Ein Davidstern über einer Synagoge
    Ein Davidstern über einer Synagoge (Picture Alliance / dpa / Jan Woitas)
    Detailreich und umfassend beschreibt der amerikanische Historiker David Nirenberg die Geistesgeschichte des christlich-jüdischen Antagonismus, der antijüdischen Feindschaft und des Hasses. Sein Buch ist keine Ereignisgeschichte, keine Aufzählung von Fakten, Daten und Zahlen und keine Beschreibung von Pogromen und Völkermord. Dem Mediävisten aus Chicago geht es vielmehr um die "Geschichte des Nachdenkens über das Jüdischsein". Auf fast 600 Seiten untersucht er, wie die Denker, Theologen und Philosophen mit dem Judentum, beziehungsweise mit dem, was man als Judentum verstanden hat, umgegangen sind. Dabei stößt er auf eine Matrix des Denkens, die sich sehr früh entwickelt und über die Jahrhunderte ausgeprägt hat. Sie hat in die Juden und das Judentum alles hineinprojiziert, wogegen sich die Mehrheitsgesellschaft abgrenzen wollte.
    In seiner Einleitung schreibt der Autor: "Mein Buch wird den Antijudaismus als Maske behandeln, das heißt, als pädagogische Furcht, die einigen Schlüsselkonzepten und -fragen in der Geschichte des Denkens bleibende Form gibt. Zugleich wird es aber auf den ständigen Wandel hinter der Maske deuten - auf die unaufhörliche Transformation dieser Konzepte und Fragen und der Vorstellungen vom Judentum, durch die sie so oft artikuliert wurden."
    Antijüdisches Weltbild erstmals in Ägypten
    Nirenberg beginnt seine Geschichte des Antijudaismus im Ägypten der Pharaonen, etwa im Jahr 700 vor Christus. Damals gab es auf der Nilinsel Elephantine eine jüdische und eine ägyptische Garnison, die gemeinsam die Grenze des Reiches gegen das Eindringen der Nubier verteidigten. Rund zwei Jahrhunderte lang lebten Ägypter und Juden friedlich miteinander, ungeachtet der religiösen und rituellen Unterschiede. Dann eroberte der persische König Kambyses II. Ägypten und stützte sich dabei auf die Loyalität der Juden, die sich dem Eroberer nicht in den Weg stellten. Dies mag ein Auslöser gewesen sein für antijüdische Ressentiments der ägyptischen Mehrheitsgesellschaft. Im Jahr 410 vor Christus zerstörten die Ägypter den Tempel der Juden auf Elephantine und wenige Jahre später verschwand die jüdische Kolonie aus der Geschichte.
    Zwei Jahrhunderte später formulierte der ägyptische Historiker und Priester Manetho zum ersten Mal ein in sich geschlossenes fremdenfeindliches und antijüdisches Weltbild. Er charakterisierte die Juden als Feinde der Götter, deren Praktiken denen aller anderen Völker diametral entgegen gesetzt seien, er beschrieb sie als Feinde der Menschheit, die, wo immer sie herrschten, grausam und tyrannisch aufträten.
    "Obwohl die Ursachen des ägyptischen Antijudaismus spekulativ bleiben müssen, sind Form und Erbe dieses Antijudaismus relativ klar. Die Charakterzüge von Misanthropie, Gottlosigkeit, Gesetzlosigkeit und universaler Feindseligkeit, die das alte Ägypten Mose und seinem Volk gelegentlich zugeschrieben hatte, blieben für spätere Jahrtausende verfügbar."
    Kein Philosoph, der sich nicht vom Judentum abgegrenzt hätte
    Dieser ägyptische Ur-Antijudaismus fand Eingang in die antike Welt Griechenlands und Roms und dadurch in das frühe Christentum. Der Apostel Paulus und die vier Evangelisten knüpften daran an. Für Paulus repräsentierten die Juden das Fleisch, die Materie und das seelenlose Gesetz, während die Christen für den Geist und die Liebe standen. Dieses fundamentale Gegensatzpaar wurde von den Kirchenvätern aufgegriffen und weiter entwickelt und durch die Jahrhunderte tradiert. Es findet sich nicht nur bei Luther wieder, sondern auch in späteren Schriften wie Shakespeares "Kaufmann von Venedig". Auf die frühe Kirche geht auch der Vorwurf des "Judaisierens" zurück, mit dem bis in die jüngste Geschichte jeder Widersacher belegt wurde. Der Begriff "Jude" wurde zu einem Schimpfwort, das in der Auseinandersetzung mit politischen oder weltanschaulichen Gegnern eingesetzt wurde.
    "Juden bevölkerten vielfach als negative Typen die christlichen Schriften, und die realen Juden wurden (im Gegensatz zu den Propheten der Vergangenheit) in der theologischen Imagination des Christentums zum Feind des Christen." Kein Jahrhundert, das nicht von Judenfeindschaft gezeichnet war, kein Philosoph oder Denker, der sich nicht scharf vom Judentum abgegrenzt hätte. Nicht nur im finsteren Mittelalter spielte der Antijudaismus, der zum Beispiel in Deutschland zu blutigen Pogromen führte, eine zentrale Rolle. Sogar die Denker der Aufklärung, von Voltaire in Frankreich bis Hegel und Fichte in Deutschland, pflegten antijüdische Ressentiments, die den heutigen Leser entsetzen und verstören. Der Antijudaismus, schreibt Nirenberg, sei nicht "als archaische oder irrationale Kammer im weiten Gebäude des westlichen Denkens zu verstehen, (…), sondern als eines der grundlegenden Werkzeuge beim Bau dieses Gebäudes." Dieser Nachweis ist dem amerikanischen Historiker auf beeindruckende und deprimierende Weise gelungen.
    Gute Allgemeinbildung vorausgesetzt
    "Antijudaismus" ist ein wahrhaft enzyklopädisches Werk großer Gelehrsamkeit. In 13 Kapiteln legt der Autor "eine andere Geschichte des westlichen Denkens" vor, wie das Buch im Untertitel heißt. Dabei wirft er auch einen, wenngleich kurzen Blick auf die Judenfeindschaft im frühen Islam. In der Hauptsache aber untersucht Nirenberg das westliche, das christliche oder aus der christlichen Tradition gespeiste Denken. Er habe sich nur auf solche Texte gestützt, die er in der Originalsprache lesen konnte, erklärt der Mediävist in seinem Vorwort einschränkend. Doch seine offenbar sehr breit gefächerten Sprachkenntnisse, die neben Latein, Griechisch und Hebräisch auch Arabisch, Französisch und Deutsch umfassen, ermöglichen ihm den Zugang zu einer großen Fülle an Texten, die er eingehend interpretiert.
    Nirenbergs "Antijudaismus" ist ein brillantes Buch, das dem Leser allerdings hohe Konzentration abverlangt und eine gute Allgemeinbildung voraussetzt. Es ist umfassend recherchiert, großartig geschrieben, kongenial übersetzt und sorgfältig lektoriert. In der aktuellen Debatte über Antisemitismus leistet es einen wichtigen Beitrag, denn das Wissen um die antijüdischen Stereotype, die die europäische Geistesgeschichte so grundlegend geprägt haben, kann uns helfen, den modernen Antisemitismus und das Menschheitsverbrechen der Judenvernichtung im 20. Jahrhundert zu verstehen.
    David Nirenberg: "Antijudaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens", aus dem Englischen von Martin Richter, Verlag C.H Beck, 587 Seiten, 39,95 Euro