Freitag, 19. April 2024

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Antisemitismus-Beauftragter Klein
"Die AfD vertritt viele antisemitische Positionen"

Der Antisemitismus-Beauftrage der Bundesregierung, Felix Klein, wirft der AfD teilweise antisemitische und verfassungsfeindliche Positionen vor. Angriffe der Partei auf die Erinnerungskultur in Deutschland hätten zudem "sekundären Antisemitismus" ausgelöst, sagte er im Dlf.

Felix Klein im Gespräch mit Sebastian Engelbrecht | 27.01.2019
    Felix Klein gestikuliert in einem Gespräch.
    Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein (imago images / Jakob Hoff)
    Zu den "antisemitischen Positionen" der AfD zählten die Forderung nach einem Verbot der Beschneidung und des rituellen Schächtens, sagte Felix Klein im "Interview der Woche" im Deutschlandfunk. Beides werde im Parteiprogramm der AfD gefordert. Die Beschneidung sei aber, so Klein, "unabdingbare Voraussetzung für jüdisches Leben".
    Zudem hätten Angriffe der AfD auf die Erinnerungskultur in Deutschland "sekundären Antisemitismus ausgelöst". Wenn Björn Höcke eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad" fordere, löse das einen "sogenannten Schuldabwehrmechanismus aus und eine Schlussstrichmentalität", die an den Grundfesten der Demokratie in Deutschland rüttle, so Klein. Die AfD habe den parteiübergreifenden Konsens der Demokraten aufgekündigt, dass die Erinnerungskultur nicht zum Gegenstand von parteipolitischen Auseinandersetzungen gemacht werde.
    "Nicht mehr auf dem Boden unserer Verfassung"
    Klein sagte, er beobachte mit Interesse, wie die Verfassungsschutzbehörden mit der AfD umgingen. Zumindest einige Äußerungen von Funktionären der Partei halte er für verfassungsfeindlich. Dazu gehöre die Aussage eines Jugendfunktionärs, der die Männer und Frauen des Hitler-Attentats vom 20. Juli 1944 als "Volksverräter" dargestellt habe. Dies sei "die direkte Sprache der Nazis" und befinde sich "nicht mehr auf dem Boden unserer Verfassung".
    Noch in diesem Jahr will Klein "ein Meldesystem für antisemitische Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze" einführen. Den Betroffenen solle auch Hilfe und Beratung angeboten werden.
    Jüdisches Leben sei "integraler Bestandteil der deutschen Kultur", sagte Klein. Antisemitische Vorfälle oder Straftaten in Deutschland seien Angriffe auf die ganze Gesellschaft.

    Das Interview in voller Länge
    Sebastian Engelbrecht: Herr Klein, der 27. Januar ist in Deutschland der Tag des Gedenkens an die Shoah. Staat und Gesellschaft erinnern sich an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945. 1996 wurde dieser Gedenktag in Deutschland offiziell eingeführt. Inwiefern ist dieses ritualisierte Gedenken, was in Deutschland gepflegt wird, eine Errungenschaft?
    Felix Klein: Ich halte die Einführung dieses Gedenktages, so, wie auch andere wichtige Tage unserer Erinnerungskultur, wie zum Beispiel den 9. November, für extrem wichtig, auch weil sich die gesamte Bevölkerung in den Schulen, in den Betrieben, überall sich erinnert und das sozusagen zu einer immer wiederkehrenden, nicht nur immer wiederkehrenden Übung wird, um sich zu erinnern, um dieser Sache selbst willen, sondern um sich immer wieder zu fragen: Was bedeutet das eigentlich für uns heute?
    Erinnerungskultur entwickelt sich ja auch weiter. Und ich glaube schon, dass wenn Sie die Veranstaltung im Bundestag zum Beispiel von 1996 mit der vergleichen, die 2018 stattgefunden hat, da werden Sie große Unterschiede feststellen. Und das ist gut so. Insofern eine wichtige Errungenschaft, auf die wir in Deutschland, wie ich finde, auch stolz sein können.
    Spuren jüdischen Lebens
    Engelbrecht: Es gibt ja aber doch so eine Verfestigung dieser Rituale manchmal, so dass man sich fragt: Wird der Sinn da eigentlich noch wahrgenommen? Welche anderen Formen der Erinnerung brauchen wir?
    Klein: Wir müssen natürlich Formen des Erinnerns finden, die die Menschen heute ansprechen. Auch die, die jetzt vor einigen Jahren erst zu uns gekommen sind, entweder als Migranten oder sogar als Flüchtlinge. Wir müssen alle ansprechen und neue Formen finden. Das sind zum Beispiel interaktive Formen, wo zum Beispiel der eigene Betrieb, die eigene Firma, die eigene Institution, in der man ist, sich Gedanken macht, wie sie in der nationalsozialistischen Zeit gehandelt hat, was mit den damaligen Kollegen passiert ist. Dass man sich zum Beispiel mit Menschen auf die Spurensuche begibt, was die Vergangenheit des Betriebs angeht, die Vergangenheit der eigenen Familie. Oder auch natürlich Spuren jüdischen Lebens, die ja überall in Deutschland vorhanden sind. Dass die Menschen sehen: Wie stark hat jüdisches Leben eine Rolle gespielt in unserer Kultur? Nicht nur ist sie ja auf Friedhöfen sozusagen hier noch präsent, aber viele versteckte Hinweise gibt es überall in Deutschland. Gebäude, auch Rituale, Kochrezepte. Also, unser tägliches Leben ist viel stärker vom Jüdischen geprägt, als wir uns das so vor Augen führen.
    Engelbrecht: Gibt es in Deutschland genug wirkliche Empathie mit den Opfern?
    Klein: Das Problem ist, dass oftmals über Juden und jüdisches Leben im Geschichtsunterricht erst gesprochen wird, wenn die Nazizeit dran ist. Das heißt, Juden werden als Opfer wahrgenommen vor allem dadurch. Und das schafft auch Probleme bei der Empathie. Vor allem dann auch … im Weiteren wird ja dann nicht mehr viel darüber gesprochen im Unterricht und auch in der Öffentlichkeit, was eigentlich nach 1945 für jüdisches Leben in Deutschland vorhanden war. Und das sind, glaube ich, Hinderungssteine für Empathie. Und ich glaube, es ist wichtig, dass wir wahrnehmen: Jüdisches Leben gibt es auch heute, ist ein wunderbarer, schöner Bestandteil unseres Lebens. Und Juden möchten wie alle anderen auch unsere Gesellschaft mitgestalten und haben auch Anrecht sozusagen auf Empathie und nicht mehr und nicht weniger wie alle anderen auch. Und dem müssen wir noch stärkere Bedeutung beimessen.
    Grundgesetz als Antwort auf die Gräuel des Nationalsozialismus
    Engelbrecht: Es gibt in weiten Teilen in der Bevölkerung in Deutschland den Wunsch, einen Schlussstrich unter die Geschichte der Shoah und des Nationalsozialismus insgesamt zu ziehen. Es scheint so, dass Geschichtsvergessenheit ein deutsches Phänomen ist. In Polen, in Frankreich, in Israel ist das ganz anders. Warum ist das so?
    Klein: Unsere Vergangenheit ist natürlich besonders schwierig. So eine extreme Form von Völkermord, wie sie in der Shoah war, gab es nirgendwo anders. Und das ist natürlich schwierig und menschlich sehr verständlich, dass man die Bilder, die wir aus Auschwitz kennen, als das befreit wurde, das Lager, oder die Massenerschießungen, das sind ja nun wirklich extreme Kriegsverbrechen gewesen. Und so eine Geschichte haben wir geerbt als Nachgeborene.
    Es ist psychologisch sehr verständlich, dass man das von sich schiebt, aber das ist natürlich der absolut falsche Weg. Im Gegenteil müssen wir diese Dinge immer wieder in der Erinnerung wachrufen, um auch erst mal das Funktionieren unserer Demokratie immer wieder sicherzustellen und auch den Menschen klarzumachen, dass das Grundgesetz als Antwort auf die Gräuel des Nationalsozialismus eben wichtig ist, dass die Menschenrechte da ganz vorne abgehandelt werden – viel früher als sozusagen das staatliche Gebilde an sich, das wir haben. Und, ja, das ist wichtig, dass die Menschen wissen, auf welchem Fundament wir stehen, und dass wir natürlich alles tun müssen, um zu verhindern, dass so eine extreme Form von Antisemitismus wieder Platz greift.
    Verrohung des politischen Diskurses ist eine Herausforderung
    Engelbrecht: Nimmt der Antisemitismus in Deutschland wirklich zu? Oder nehmen wir ihn nur deutlicher wahr? Die jüngste Eurobarometer-Umfrage der EU-Kommission scheint ja zu bestätigen, es ist wohl eher eine Zunahme der Wahrnehmung des Antisemitismus.
    Klein: Ja, das glaube ich auch. Antisemitismus hat es ja auch nach 1945 immer gegeben. Aber jetzt wird er eben sichtbarer. Und die Menschen, die früher vielleicht im Versteckten und im Verborgenen Antisemiten waren, trauen sich jetzt wieder Dinge zu behaupten, die früher überhaupt undenkbar gewesen wären, auch im politischen Diskurs. Und das muss uns natürlich besorgen. Wenn Sie zum Beispiel sehen, dass ein Antisemit, sagen wir mal in einem privaten Umfeld vielleicht 20 Leute in einem Restaurant oder in einer Veranstaltung erreicht. Heute im Internet erreicht er Tausende, ohne, dass irgendwelcher Widerspruch erst einmal geäußert wird. Auch das hat zu einer Enthemmung geführt, die sich im Übrigen ja nicht nur gegen Juden richtet, sondern auch andere Gruppen erfasst. Denn, wenn Sie sich zum Beispiel ansehen, was gegen Homosexuelle, auch gegenüber Frauen geäußert wird, ist das unglaublich. Das ist ein Phänomen, das über Antisemitismus hinausgreift.
    Aber diese Verrohung des politischen Diskurses und das kombiniert mit neuen Medien, ist eine Herausforderung, auf die wir reagieren müssen. Und mit dem Netzwerkedurchsetzungsgesetz, das uns ermöglicht, auch solche Hassinhalte und Holocaust-relativierenden und verneinenden Äußerungen wirklich zu bestrafen und zu ahnden, haben wir immerhin ein Instrument gefunden.
    Ideologische Hintergründe entlarven
    Engelbrecht: Kann man den Antisemitismus eigentlich mit den Mitteln der Vernunft bekämpfen? Es handelt sich ja eigentlich um ein völlig irrationales, unvernünftiges Phänomen.
    Klein: Professor Wolffsohn hat vor Kurzem hier in Berlin auf einer Veranstaltung genau das infrage gestellt. Mit Vernunftargumenten kommt man nicht ran oder kommt man dem nicht immer bei. Natürlich ist es wichtig, die rationalen Argumente aufzuführen, wie zum Beispiel die Frage, dass Juden nie die Welt beherrschen könnten, weil es so wenige sind. Die könnten nicht … acht Milliarden Menschen, die es auf der Welt gibt, könnten ein paar Millionen Juden beherrschen. Also, solche Dinge. Oder auch, wenn man die Rothschild-Bank sieht, die immer als Symbol gilt für die Kontrolle der Juden über das Kapital. Ist also Unsinn, wenn Sie mal sehen, wie groß die Bilanzsumme der Rothschild-Bank ist und legen andere Größen von Banken, die nicht jüdisch geführt werden, daneben. Ist also absolut unsinnig.
    Aber trotzdem müssen wir das eine tun und darüber hinaus natürlich auch an die Wurzeln gehen. Und das ist die kulturelle DNA, wenn ich das mal so sagen kann, die in unserer deutschen und europäischen Kultur vorhanden ist, die mit Juden- hassenden Schriften von Martin Luther, auch von anderen Exponenten der Kirche immer wieder hochgekommen ist, die viele Bereiche hat. Antisemitismus in der Musik gibt es. Die Schriften von Richard Wagner zum Beispiel. Viele andere. Ja, also im politischen Raum haben viele Menschen immer dazu beigetragen, dass antisemitische Bilder benutzt werden, um eben ihre Ziele zu erreichen. Und das ist das Gefährliche an Antisemitismus. Es sind eben Argumentationsketten, die bekannt sind, bei denen viele wissen, was sie dann damit auslösen.
    Und das weitere Problem ist: Antisemitismus hat so viele ideologische Hintergründe, also eben Juden und Kapital. Die Bedrohung, aber andererseits auch absurde Bilder, Juden hätten den Bolschewismus oder den Kommunismus mitbetrieben oder sie hätten den 9. November 2001 [Anmerkung der Redaktion: gemeint ist wohl der 11. September 2001] mitverantwortet. Oder auch eben von muslimischer Seite. Also, es gibt vielfältige Formen, und wir müssen, ja, alles dagegen tun, um das zu entlarven, aufzuklären über das Judentum und auch emotional dem etwas entgegensetzen. Das heißt, viel stärker sichtbar machen, in welch positiver Weise Juden zu unserer Kultur, zu unserer Stärke beigetragen haben. Das ist eine wichtige Aufgabe – die sich auch mir stellt, denn ich bin ja nicht nur Beauftragter für den Kampf gegen Antisemitismus, sondern auch für jüdisches Leben, und das möchte ich stärker in den Mittelpunkt rücken.
    Vernetzung verschiedener Akteure
    Engelbrecht: Herr Klein, was tun Sie als Antisemitismusbeauftragter eigentlich? Sind Sie da in erster Linie ein Koordinator oder setzen Sie eigene inhaltliche Akzente?
    Klein: Ich mache beides. Ich bin dafür da, die vielen Akteure, die es ja gibt im Kampf gegen Antisemitismus und Institutionen, die sich engagieren wollen, besser miteinander zu vernetzen. Auch bin ich dafür da und habe mir vorgenommen, wirklich kohärente Bekämpfungsstrategien zu entwickeln. Das werde ich jetzt in diesem Jahr stärker tun können als im vergangenen Jahr, wo ich noch nicht so viele Mitarbeiter hatte.
    Engelbrecht: Wie viele Mitarbeitern haben Sie?
    Klein: Insgesamt werden wir dann zu zwölft sein im Bundesinnenministerium. Aber das ist ja auch nur ein Ausschnitt, denn ich bin ja Beauftragter der gesamten Bundesregierung. Das heißt, wenn es ein Thema gibt aus irgendeinem anderen Bundesministerium als aus dem Bundesinnenministerium, bin ich in der Lage und habe die Berechtigung, eben Unterlagen und Unterstützung anzufordern, und die kommt dann auch. Also, das hat sich sehr gut etabliert. Wenn Sie zum Beispiel an das Bundesjustizministerium denken, neue Gesetzesinitiativen, die ich auch bereits vorgeschlagen habe, also das läuft sehr gut, so dass es eben nicht nur bei den zwölf Leuten bleibt.
    Es gibt – das ist das Erfreuliche daran – ja wirklich viele Institutionen, die sich bereiterklären und mitmachen beim Kampf gegen Antisemitismus. Auch die Kirchen gehören dazu, Gedenkstätten, aber auch natürlich Kultusministerien überall in Deutschland. Lokale Initiativen. Das ist wirklich sehr gut. Und diese miteinander zu vernetzen, zu koordinieren, das habe ich mir vorgenommen.
    1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland
    Aber ich möchte natürlich auch eigene Initiativen setzen, nicht nur bei Veranstaltungen auftreten, sondern eben auch Initiativen voranbringen. Eine sind die Feierlichkeiten zum Thema 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Wir haben im Jahr 2021 dieses Jubiläum zu feiern. Im Jahr 321 gab es ein Edikt des Kaisers Konstantin, der der jüdischen Gemeinde in Köln das Recht einräumte eben, dass sich Juden in den Stadtrat begeben können, dass sie auch Steuern zahlen müssen, dass sie aber eben ganz normale Bürger werden. Das ist das älteste Dokument, das jüdisches Leben nachweist, nördlich der Alpen. Und das wollen wir zum Anlass nehmen, um überall in Deutschland jüdisches Leben sichtbarer zu machen durch viele Kulturveranstaltungen, politische Veranstaltungen.
    Ich habe auch bereits mit dem Bundesfinanzminister gesprochen darüber, dass wir eine Sonderbriefmarke zum Jahr 2021 stiften werden. Also, jüdisches Leben sichtbar machen aus vielfältiger Hinsicht, das ist das, was ich auch gerne voranbringen möchte.
    Engelbrecht: Und Sie gründen mit den Ländern auch eine Kommission, eine Antisemitismuskommission, die dann die gesamte Arbeit koordinieren soll?
    Klein: Ja, so ist es. Der Bundestag hat in seiner Entschließung vom 18. Januar letzten Jahres, in dem mein Amt gefordert wird, auch gleichzeitig gefordert, dass eine Bund-Länder-Kommission eingerichtet wird zum Thema Antisemitismusbekämpfung, denn ich würde mal sagen, 80 bis 90 Prozent aller Maßnahmen, die ja überhaupt in Frage kommen bei der Bekämpfung des Antisemitismus, liegen in der Zuständigkeit der Länder. Wenn Sie an Bildungs- und Erziehungsfragen denken, auch an Fragen der inneren Sicherheit für jüdische Einrichtungen, auch unsere Erinnerungspolitik liegt ja ganz maßgeblich im Zuständigkeitsbereich der Länder. Und das ist auf gutem Wege.
    Wir haben jetzt eingeladen zu einem ersten Bund-Ländergespräch am 18. Februar in Heidelberg – ich und der Beauftrage für Antisemitismusbekämpfung von Baden-Württemberg gemeinsam – wo wir über die formelle Verabschiedung eines Dokuments beraten werden, die dann diese Bund-Länder-Kommission formell auf den Weg bringt. Dafür ist noch der Abschluss eines Bund-Länder-Abkommens erforderlich. Und dann mit dieser Bund-Länder-Kommission werden wir natürlich Maßnahmen auch auf den Weg bringen, Best Practice-Beispiele austauschen.
    Meldung antisemitischer Vorfälle in Schulen
    Eines ist zum Beispiel, dass wir eine Pflicht einführen sollten überall in Deutschland, in den Schulen antisemitische Vorfälle zu melden. Das gibt es bereits in Baden-Württemberg. Man hat sehr gute Erfahrungen damit gemacht. Hier in Berlin soll das auch bald kommen, weil dann eben klar ist, wenn es antisemitische Vorfälle gibt, muss die Schulgemeinde darüber sprechen, muss es sichtbar werden. Das Problem muss erst mal sichtbar gemacht werden, bevor wir es bekämpfen können. Das sind so einige Ideen, die wir haben. Aber natürlich auch werden wir reden über die Erstellung von Materialien im Unterricht und neue Formen, wie wir Erinnerung interessant und ansprechbar machen können für die Menschen.
    Engelbrecht: Sie sind jetzt seit sieben Monaten im Amt. Haben Sie sich für Ihre Amtszeit ein Ziel gesetzt?
    Klein: Ja, mein Ziel ist wirklich, dass in Deutschland viel stärker als bisher das Bewusstsein dafür entsteht, dass jüdisches Leben, dass jüdische Kultur ein integraler Bestandteil der deutschen Kultur ist und unsere kulturelle Vielfalt mit ausmacht. Und zum anderen, dass, wenn antisemitische Vorfälle oder sogar Straftaten bestehen, dass die Menschen, auch die nicht-jüdischen Menschen in Deutschland, das als Angriff auf unsere allgemeine Kultur wahrnehmen, auf unseren politischen Diskurs, dass es eben ein Angriff auf uns alle ist, auf die ganze Gesellschaft, dass man sie eben nicht einfach hinnimmt, dass ein antisemitischer Angriff nur Juden betrifft, sondern uns alle. Diese zugegebenermaßen etwas dicken Bretter habe ich mir vorgenommen zu bohren. Aber ich möchte gerne dazu beitragen, dass hierzu stärker ein Bewusstsein entsteht.
    Engelbrecht: Auf dem Weg zu diesem Ziel gibt es viele Bretter zu bohren. Und ein Thema ist vielleicht auch der Rechtspopulismus und die AfD. Glauben Sie, dass die AfD auch eine antisemitische Bedrohung ist? Ist sie verfassungsfeindlich? Wie ja die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, in dieser Woche im bayerischen Landtag gesagt hat und damit für einen Eklat gesorgt hat. Bzw. die AfD hat dann für den Eklat gesorgt, als sie dann den bayerischen Landtag verlassen hat. Schließen Sie sich der Meinung von Frau Knobloch an?
    Angriffe der AfD auf Erinnerungskultur
    Klein: Zunächst einmal stelle ich fest, dass die AfD viele antisemitische Positionen vertritt und in ihrem Parteiprogramm hat. Wenn ich zum Beispiel sehe, sie fordern das Verbot von Beschneidung oder auch das rituelle Schächten. Das sind zwei Dinge, die sich vor allem gegen die Muslime richten, aber die eben auch volle Auswirkungen haben auf jüdisches Leben, das ja überhaupt nicht denkbar ist ohne das Recht auf Beschneidung. Das ist unabdingbare Voraussetzung für jüdisches Leben.
    Zum zweiten finde ich, dass die Angriffe der AfD auf unsere Erinnerungskultur bereits sekundären Antisemitismus ausgelöst haben. Sätze wie, dass die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft nur ein "Vogelschiss in der deutschen Geschichte" wären, das, was Alexander Gauland, der Fraktionsvorsitzende der AfD, ja geäußert hat und sich dann hinterher nicht mehr distanziert hat. Oder, wenn Herr Höcke eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad fordert, löst das einen direkten sogenannten Schuldabwehrmechanismus aus und eine Schlussstrichmentalität, die wirklich gefährlich ist und die schon wirklich auch an den Grundfesten unserer Demokratie rüttelt.
    Insofern finde ich, dass es bedenklich ist, dass auch der parteiübergreifende Konsens, der in unserer Erinnerungskultur immer – zumindest in Westdeutschland – angelegt war, dass sich bei dem Thema wirklich alle einig waren, alle Parteien, dass wir das nicht zum Gegenstand einer parteipolitischen Auseinandersetzung machen, dass dieser Konsens aufgekündigt wurde durch die AfD, durch diese Äußerungen, halte ich für sehr gefährlich.
    Ich beobachte natürlich mit Interesse, wie jetzt die Verfassungsschutzbehörden mit der AfD umgehen. Ich halte zumindest einige Äußerungen von AfD-Funktionären für in der Tat verfassungsfeindlich, zum Beispiel die Aussage eines Jugendfunktionärs, der die Männer des 20. Juli, Männer und Frauen des 20. Juli, als "Volksverräter" dargestellt hat und Stauffenberg als "Feigling". Das ist also die direkte Sprache der Nazis, die nun nicht mehr auf dem Boden unserer Verfassung ist.
    "AfD hat dazu beigetragen, Antisemitismus salonfähiger zu machen"
    Engelbrecht: Würden Sie sagen, dass der Antisemitismus in weiten Kreisen dieser Partei zu Hause, zumindest sichtbar ist?
    Klein: Die AfD hat sicher mit dazu beigetragen, den Antisemitismus salonfähiger zu machen und Meinungen, die eben über die Gräuel der Nationalsozialisten und auch über Juden immer vorhanden waren, jetzt auf einmal offensichtlich akzeptabler werden. Und das ist hochgefährlich, weil das in die Mitte der Gesellschaft zielt. Und das müssen wir ganz klar deutlich machen und uns auch ganz deutlich dagegen verwahren.
    Engelbrecht: Der Historiker Michael Wolffsohn, wir haben ihn schon erwähnt oder Sie haben ihn schon erwähnt, hat in der vergangenen Woche gesagt, die größte Bedrohung für die Juden in Europa sei die anhaltende Einwanderung von Muslimen, also ausdrücklich nicht der Rechtspopulismus. Da gibt es aber eine andere Zahl: 90 Prozent der antisemitischen Straftaten in Deutschland verüben Rechtsextremisten, nur fünf Prozent verüben Muslime. Wie passt das zusammen?
    Keine Hierarchisierung von Antisemitismus
    Klein: Hier gibt es in der Tat ein großes Auseinanderklaffen der subjektiven Wahrnehmung der Betroffenen und das, was die Statistiken zeigen. Hier setzt mein erstes Großprojekt übrigens an. Ich möchte in diesem Jahr ein Meldesystem für antisemitische Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze einführen und auch den Betroffenen vor allem Hilfe und Beratung ermöglichen. Das ist also eine Kombination zwischen einem Meldesystem und einem Hilfssystem. Und das wird mit dazu beitragen, diesen Widerspruch hoffentlich etwas aufzulösen.
    Grundsätzlich finde ich den Ansatz falsch, muss ich ehrlich sagen, die verschiedenen Formen von Antisemitismus und Bedrohung jüdischen Lebens miteinander in Beziehung zu setzen. Wir sollten uns nicht darauf einlassen, eine Priorisierung hier vorzunehmen: Welche Form ist nun jetzt gefährlicher, des Antisemitismus? Ich finde, jede Form ist gleichermaßen gefährlich – egal, wie stark sie zahlenmäßig vorhanden ist und welche ideologischen Hintergründe sie hat. Denn, wenn sie nämlich diese Diskussion einmal einführen, dann sind sie sofort in einer Entlastungsdebatte. Dann werden die muslimischen Organisationen sagen, das ist der Antisemitismus von rechts, der viel gefährlicher ist. Und die Rechten werden sagen, es sind aber vor allem die Muslime. Und sie kommen dann gar nicht mehr zur eigentlichen Diskussion. Und die möchte ich ja führen. Die sollten wir ja alle führen. Und wie gesagt, deswegen, finde ich, ist eine Hierarchisierung von Antisemitismus der falsche Weg.
    Angriffsflächen werden größer
    Engelbrecht: Die Geschichte der Juden in Deutschland verlief in Wellenbewegungen. Immer wieder gab es Phasen der Annäherung der Mehrheitsgesellschaft an die Juden. Dann gab es wieder Phasen antijüdischer Hetze, Verfolgung, Vertreibung, Pogrome, Massenmord bis hin zu Shoah. Haben Sie manchmal die Sorge, dass sich die Geschichte wiederholt?
    Klein: In der Tat gibt es einige Parallelitäten zwischen heute und – würde ich mal sagen – dem 19. Jahrhundert. Im 19. Jahrhundert hatten nach den Stein-Hardenbergschen Reformen in Preußen Juden ja weitgehend gleiche Bürgerrechte wie alle anderen auch und haben die auch sofort genutzt und sehr stark dazu beigetragen eben, in die Gesellschaft sich voll zu integrieren. Bis hin dazu, dass man sie ja kaum mehr als Juden wahrnahm. Und gleichzeitig mit dieser Emanzipation und mit dieser großartigen Leistung kam Antisemitismus in sehr gefährlicher Form mit daher, der dann eben durch die Verbindung dann mit dem Rassenwahn der Nazis dann in die Shoah mündete.
    Heute sehe ich auch zwei Bilder. Ich sehe das Erstarken jüdischen Lebens, die Tatsache, dass es überall neue jüdische Institutionen gibt, Restaurants aufmachen, Kulturzentren, dass Juden gerne in Deutschland leben, dass sie aus Israel und anderen Ländern gerne hierher kommen, weil sie Deutschland schätzen, weil sie sich hier wohlfühlen, und weil sie dann eben auch gerne zum kulturellen Reichtum beitragen und die Gesellschaft hier auch sehr offen ist diesbezüglich. Das ist etwas sehr Schönes, was wir weiter fördern sollten.
    Gleichzeitig werden aber die Angriffsflächen dadurch auch wieder größer, gerade hier in Berlin natürlich, wo besonders viele jüdische Menschen leben und wo ja auch sehr viele symbolträchtige Orte auch, was die Nazi-Vergangenheit angeht, ja auch sich anbieten für Schmierereien und Pöbeleien. Und dass eben die Hemmschwellen auch sinken im politischen Diskurs und auch im gesellschaftlichen Diskurs. Und dieser Widerspruch oder dieses schwierige Spannungsverhältnis muss uns zu denken geben, auch was jetzt die Strategien angeht im Kampf gegen Antisemitismus. Und hier müssen wir natürlich aus der Geschichte lernen, aber eben auch… und dabei ganz klarmachen, wie schön es ist, dass wir jüdisches Leben haben, und dass Juden unsere Gesellschaft immer vorangebracht haben und es auch weiter tun.
    Jüdisches Leben sichtbar machen
    Engelbrecht: Herr Klein, der Titel Ihres Amtes lautet "Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus", eine lange Amtsbezeichnung. Inwiefern kommt in Ihrem Berufsalltag dieses "für jüdisches Leben in Deutschland", inwiefern kommt das da vor?
    Klein: Ja, ich bemühe mich natürlich immer wieder, gerade diesen ersten Teil meiner Amtsbezeichnung in den Vordergrund zu rücken und wir haben ja schon darüber gesprochen. Im Jahr 2021 werden wir 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland feiern und haben natürlich gute Inspiration durch das Reformationsjubiläum 2017 vor Augen. Es gibt viele Institutionen, die da mitmachen werden, auch im Vorfeld bereits. 2021 liegt ja noch etwas in weiter Ferne. Und es gibt überall in Deutschland, ja, Konzertveranstalter. Auch die jüdischen Gemeinden sind dabei, die sehr gerne sozusagen jüdisches Leben sichtbar machen wollen in verschiedenen Formen, nicht nur in der Musik, auch im Theater, auch durch Filme. Und auch im politischen Diskurs würde ich mich sehr freuen, wenn der Zentralrat und, ja, die jüdischen Stimmen, die es ja auch gibt, zu unserem allgemeinen politischen Diskurs stärker beitragen.
    Ich freue mich sehr, dass ganz konkret geplant ist, dass eine Jüdische Akademie ins Leben gerufen werden soll nach dem Vorbild der evangelischen und katholischen Akademien, die ja auch ganz normal im politischen Diskurs Beiträge leisten, Veranstaltungen machen – und hier eine jüdische Stimme auch mit hinzuzufügen, das ist eine gute Initiative, und solche werde ich auch weiter mit voranbringen.
    Engelbrecht: Felix Klein, vielen Dank für diesen Einblick in Ihre Arbeit, vielen Dank für das Gespräch.
    Klein: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.