Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Antisemitismus
Frankreichs Juden fühlen sich allein gelassen

Der Antisemitismus in Frankreich nimmt zu - das Blutbad von Paris ist dabei die jüngste Zuspitzung. Immer mehr Juden ziehen daraus denselben Schluss, berichtet die Israel-Korrespondentin und Autorin Gisela Dachs: Sie wandern aus nach Israel. Entscheidend werde jetzt die Frage: Wie wird sich Frankreich in den nächsten Monaten gegenüber dem Antisemitismus verhalten?

Gisela Dachs im Gespräch mit Andreas Main | 13.01.2015
    Ein Schild mit der Aufschrift "Je suis Juif, Charlie et Francais" - "Ich bin Jude, Charlie und Franzose" auf einer Sicherheitsabsperrung am 10.1.2014, einen Tag, nachdem vier Juden in einem koscheren Supermarkt von Paris ermordet wurden.
    Ein Schild mit der Aufschrift "Je suis Juif, Charlie et Francais" - "Ich bin Jude, Charlie und Franzose" (AFP Photo / Kenzo Tribouillard)
    Andreas Main: Nicht erst seit den Anschlägen von Paris wandern immer mehr französische Juden aus nach Israel. Der Antisemitismus in Frankreich nimmt zu. Und das Blutbad im Supermarkt war nicht das erste. Und viele fürchten, nicht das letzte. Die vier jüdischen Opfer des Anschlags auf einen koscheren Supermarkt - sie werden in Jerusalem beigesetzt. Über all dies wollen wir sprechen mit Gisela Dachs. Sie ist Autorin für die "Zeit", ist Israel-Korrespondentin unter anderem für die "Neue Zürcher Zeitung". Sie lebt seit rund 20 Jahren in Tel Aviv. Sie hat Israel-Bücher geschrieben - unter anderem "Israel kurzgefasst", das die Bundeszentrale für politische Bildung herausbringt. Ein Muss für alle, die über den üblichen Tagesjournalismus Hintergründiges über Israel lesen wollen. Guten Morgen, Frau Dachs.
    Gisela Dachs: Ja, guten Morgen.
    Main: Die vier Toten im Supermarkt - ihre Identität ist seit dem Wochenende bekannt. Sie waren alle Franzosen und sie waren alle Juden. Sie könnten in Frankreich beigesetzt werden. Warum in Jerusalem?
    Dachs: Ja, in diesem Fall, nehme ich an, ist es auch die Frage der Identität. Das gehört einfach zum Wunsch, wenn es sich um religiöse gläubige Juden handelt, was wahrscheinlich der Fall war, weil es sich auch um einen koscheren Supermarkt gehandelt hat. Es ist aber bei einem solchen Wunsch, auch die Idee damit verbunden, dass man sagt, in Israel wird das Grab dann auch vor künftigen Schändungen verschont bleiben. Aber es ist vor allem eine Identitätsfrage, die wahrscheinlich in diesen vier Fällen besonders stark war und jetzt in diesen Zeiten noch einmal eine besondere Bedeutung bekommt.
    Main: Ist es aus Ihrer Sicht überinterpretiert, wenn ich diese Bestattung lese als eine Abkehr von Europa oder positiv gewendet als ein Beleg dafür, dass es einen jüdischen Staat braucht oder einen Staat für Juden in Israel?
    Dachs: Ich glaube, dass man jetzt bei diesen ganzen Vorfällen nicht gleich alles auf eine Schnur auffädeln sollte. Sicher ist - wie Sie es gerade angedeutet haben - dass die französischen Juden sich schon länger nicht mehr so sicher fühlen in Frankreich. Das war vor allem der Anschlag auf die jüdische Schule in Toulouse begangen von Mohamed Merah, der eben auch aus dem Migranten-Milieu stammte. Ich weiß, dass sich sehr viele französische Juden damals geärgert hatten, als das mehr oder weniger als Einzelfall abgetan wurde in den Medien. Da sagten sehr viele, das hat schon System. Das war ein Täter, das gab es einen Hintergrund, so wie eben jetzt auch. Das wird weitgehend heruntergespielt. Also man fühlte sich da sehr allein gelassen.
    "Man sagte, als Jude ist man nicht ganz Franzose bei solchen Fällen"
    Also quasi auch noch, dass man sagte, als Jude ist man nicht ganz Franzose bei solchen Fällen. Das wird also abgehandelt unter ferner liefen. Das war früher eben mal anders in Frankreich gewesen. Und dass es jetzt wieder passiert ist, zwei Tage nach dem Anschlag auf die französische Zeitung "Charlie Hebdo" gegen einen jüdischen Supermarkt, das war für französische Juden, die ohnehin schon darüber nachgedacht haben, aus vielen Gründen muss man sagen, nach Israel einzuwandern, und möglicherweise wird das jetzt ein Trigger sein - sozusagen - dann macht man das.
    Aber generell kann man nicht sagen, dass es ein Vorfall ist, der Juden dazu bringt auszuwandern. In vielen Fällen sind es jüngere Juden, die sich ein neues Leben in Israel aufbauen wollen. Das hat auch etwas mit der Wirtschaftskrise in Frankreich zu tun, es hat was mit Identität zu tun, auch mit Familienzusammenführung. Viele haben ihre Verwandten längst in Israel. Die Zahlen sprechen in jedem Fall von einem drastischen Anstieg. Im Jahr 2013 sind 3500 Juden nach Israel eingewandert, im Jahr 2014 waren es bereits 7000. Und jetzt in dem Jahr 2015 rechnet man auch damit, dass sehr viele kommen.
    Main: Wenn man in Israel unterwegs ist, dann hört man immer wieder, diese französischen Juden nehmen uns die Wohnungen weg, wohnen in den teuren modernen Hochhäusern, aber nur ab und an, also quasi wie Touristen. Was ist da dran?
    Dachs: Ich glaube auch, das hat sich verändert. Es war tatsächlich so, dass sich noch vor einigen Jahren sehr viele Franzosen hier so eine zweite Residenz geschaffen hatten und wohnten hier nur während der Feiertage. Ich würde sagen, dieses Bild hat sich verändert. Man sieht es auf den Straßen. Es sind nicht mehr die Touristen, die an den Feiertagen hierher kommen, sondern es ziehen tatsächlich immer mehr Franzosen ins Land. Das merkt man an den Patisserien, die es gibt, an den Weinhandlungen, in denen Franzosen die Geschäfte führen. Das merkt man an dem Sprachengewirr auf den Straßen. Es gibt tatsächlich eine sehr viel stärkere alltägliche französische Präsenz, die ja auch mit den Zahlen belegbar ist.
    "Einwanderung ist keine Entscheidung von heute auf morgen"
    Main: Noch mal zurück zum Antisemitismus in Frankreich. Wir haben in dieser Sendung immer wieder darüber berichtet. Es gibt allerdings auch jüdische Stimmen, die davor warnen dieses Phänomen zu übertreiben. Was hören Sie da in Israel? Was sind die Erfahrungen französischer Juden?
    Dachs: Erst einmal gibt es die staatliche Linie, zumindest die Linie des Premierministers, die nicht bei allen sehr gut ankam. Also Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte nach diesem Anschlag am Freitag dazu aufgerufen, dass französischen Juden einwandern sollten. Da gibt es eine ganze Reihe von französischen Juden, die bereits diesen Schritt gemacht haben, die sagen das nicht. Die sagen eher erstens brauchen wir eine starke Diaspora in Frankreich. Und das war vor allem auch Natan Scharanski, der ehemalige Vorsitzende der Jewish Agency, der Einwanderbehörde, der auch gesagt hat, man soll jetzt nicht während einer Krise quasi zur Flucht aufrufen. Damit würde man sich im Grunde ja auch mit den Antisemiten verbünden, die sagen, wenn man hier Terror macht, dann gehen die alle weg.
    Vor allem sagen aber alle, eine Einwanderung ist keine Entscheidung von heute auf morgen. So etwas ist ein geplanter Schritt, das soll man nicht überstürzt machen. Und vor allem sollte Israel auch jetzt nicht einseitig die Juden zur Flucht aufrufen. Das sind gemischte Töne. Es sagen auch französische Juden hier, die sehr viel im Fernsehen gefragt wurden, was sagt ihr denn jetzt euren Verwandten. Dann sagten die, wir sagen jetzt erst einmal gar nichts, weil das der falsche Schritt wäre, jetzt überstürzt zu handeln. Ich glaube, das sagt schon etwas auch über die Position der Juden in Frankreich, die jetzt fragiler geworden ist, die jetzt gefährdeter geworden wirkt, aber die auch wichtig ist sowohl für Frankreich wie auch für sehr viele Juden. Denn französische Juden hier - und das mag vielleicht schwer zu erklären sein - fühlen sich trotzdem nicht nur der Sprache und der französischen Kultur sehr verbunden, sondern auch dem französischen Staat. Da wird sich jetzt die Frage stellen, wie wird sich dieser Staat in den nächsten Monaten verhalten - gegenüber Antisemitismus, gegenüber solchen Anschlägen, ob sich denn dieses Verhältnis zum Staat, an dem man weiterhin hängt, an dieser republikanischen Idee, ob da ein Bruch herbeigeführt werden könnten. Bisher sind die französischen Juden, auch die, die Israelis geworden sind, mit zwei Pässen ausgestattet und fühlen sich auch noch ganz stark als Franzosen, die aber eben hier als ihre Heimat niedergelassen haben.
    Integration der französischen Zuwanderer in Israel
    Main: Französische Juden in Israel - es gibt da eher das Klischee, die seien hedonistisch säkular und eben überwiegend in Tel Aviv wohnhaft. Welche Strömungen darüber hinaus beobachten Sie bei jüdischen Zuwanderern aus Frankreich?
    Dachs: Ich glaube, das ist ein falsches Klischee, denn vor allem die Juden, die in den letzten Jahren - also im Zuge der zweiten Intifada dazugekommen sind, sind sehr viel aus Identitätsgründen mit eingewandert. Sie tragen hier oft eine Kippa, das heißt zum Teil, dass sie tatsächlich religiös sind. Auf der anderen Seite trägt man ein Kippa auch, wenn man säkular ist, einfach als Zeichen, dass man das jetzt hier kann, während man sich in Paris auf der Straße eher damit fürchten würde, obwohl man sonst eigentlich nicht religiös war.
    Es gibt durchaus immer mehr religiösere französische Juden, die es hier eher anzieht in den letzten Jahren. Also so ganz die säkularen, die gibt es zwar auch, waren es in den letzten Jahren nicht. Dann kommt hinzu das, was ich vorhin mit der Familienzusammenführung angesprochen habe. Sehr viele Juden orientalischer Herkunft, die damals aus Nordafrika weggehen mussten und die eben nicht nach Frankreich gegangen sind oder via Frankreich dann nach Israel kamen, die kommen jetzt wieder auch zusammen und haben eher einen traditionellen Zugang sowieso zu ihrer Religion, die man also auch nicht als ganz säkular einstufen könnte. Es gibt da auch ganz neue Bewegungen, stärker religiös zu werden, unter den französischen Juden. Die haben sich in Netanja niedergelassen. Die sind auch in einer Siedlung im Osten von Jerusalem. Solche Orte sind auch in Aschdod und Aschkelon, da haben sich auch viele Franzosen niedergelassen. In Jerusalem sind auch viele. Aber in letzter Zeit eben auch in Tel Aviv und dahin zieht es viel mehr die Säkularen. Es ist eine bunter Mischung, aber ich würde ich sagen, in den letzten Jahren stärker religiöser.
    Main: Israel ist ein Schmelztiegel. Das macht Israel so besonders. Aber was bringen französische Juden ein - in diese israelische Gesellschaft, in diesen Schmelztiegel?
    Dachs: Darüber wird jetzt gerade in diesen Tagen im Fernsehen sehr viel diskutiert. Wie kann man es zum Beispiel Rechtsanwälten leichter machen, hier Fuß zu fassen. Das ist vor allem eine Frage der Sprache, dass man sagt, man muss Hebräisch gut beherrschen, um sich hier niederzulassen. Aber es gibt auch ganz neue Phänomene, gerade bei den französischen Einwanderern, die sehr viel mit Globalisierung zu tun haben. Man redet immer mehr davon, dass gerade die französischen Einwanderer, und da gibt es einige akademische Studien, die transnationalsten von allen bisher sind, weil sie zwar hier leben, aber einen Fuß nach wie vor ganz stark in der französischen Sprache, Gesellschaft, in ihrem Ursprungsland haben.
    Main: Es ist die Rede von 500.000 französischen Juden in Frankreich. Sie haben eben gesagt, wir sollten das nicht beschwören. Aber wenn die alle einwandern würden, kann die israelische Gesellschaft so viele französischen Juden integrieren, ist das verkraftbar?
    Dachs: Ich glaube, es sind 600.000 - das ist die aktuelle Zahl. Ich glaube nicht, dass man sich das wünschen würde - so sehr das immer zur Ideologie des Landes gehört, Einwanderer aufzufordern zu kommen. Aber bei 600.000 Einwanderern wäre man ordentlich überfordert, denn so etwas geht auch nur graduell. Allerdings halte ich es für ziemlich ausgeschlossen, dass so etwas auf einmal passieren wird. Zumal ja auch Juden in Frankreich, die sich dort weniger sicher fühlen als und darüber nachgedacht haben, vielleicht zu gehen, durchaus auch andere Ziele, vor allem Amerika ins Auge fassen, um sich dort niederzulassen. Ich denke, die nach Israel kommen, sind tatsächlich die traditionell Orientierteren und Religiöseren. Während andere junge Leute, wenn sie denn eine Auswanderung ins Auge fassen, New York im Kopf haben - oder Kalifornien, eben eher jenseits des Atlantiks.