Arbeitsmarkt
Von indischen Fahrradkurieren und polnischen Pflegerinnen

Lieferando, Wolt und Co: In deutschen Städten scheinen viele Lieferdienstfahrer aus Südasien zu stammen. Polinnen kümmern sich um Pflegebedürftige. Und in Nagelstudios arbeiten Vietnamesinnen. Was ist dran? Und welche Geschichten stecken dahinter?

    Ein Radfahrer mit einem großen Rucksack auf dem Rücken mit der Aufschrift WOLT fährt auf einer Straße in Köln neben zwei Bussen mit der Aufschrift City Tour
    Fahren für Lieferdienste: Aus Indien und Pakistan stammen derzeit viele Fahrradkuriere in Deutschland. Ihre Arbeitsbedingungen sind meist prekär. (imago / Sven Simon / Malte Ossowski)
    Im Straßenbild fallen sie mit ihren E-Bikes und riesigen Taschen auf: Lieferdienstfahrer für Essen kommen anscheinend überwiegend aus Indien oder Pakistan. Es gibt aber noch weitere Arbeitszweige, in denen offenbar verstärkt Menschen bestimmter Herkunft tätig sind.
    Tatsächlich gibt es „migrantisch geprägte Arbeitsmärkte“, wie die Soziologin Barbara Orth es nennt. Häufig sind diese „Nischen“, in denen Menschen aus einer ähnlichen „ethnischen Community“ tätig sind, aber nicht so dauerhaft geprägt wie es den Anschein hat. Und auch manch andere Klischees stimmen nicht. Ein Blick auf Beispiele.

    Überblick

    Arbeiten in der „ethnischen Nische“

    Oft bekommen Menschen aufgrund rassistischer Diskriminierung oder nicht anerkannter Bildungsabschlüsse nicht die Arbeit, für die sie eigentlich qualifiziert sind, erklärt die Soziologin Barbara Orth vom Leibniz Institut für räumliche Sozialforschung. Sie endeten dann in bestimmten „Nischen, die sie sich nicht selber ausgesucht“ hätten. In der angelsächsischen Wirtschaftssoziologie existiert der Begriff „ethnic enclave economy“, zu deutsch: „ethnische Nischenökonomie“.
    Er beschreibe, „dass viele Leute aus einer ähnlichen ethnischen Community an einen Ort kommen, sich dadurch bestimmte Bedarfe ergeben, die von der Mehrheitsgesellschaft nicht abgedeckt werden können“, so Orth.
    Die Wissenschaftlerin, die zur Rolle von Migranten in der sogenannten Plattformökonomie forscht, spricht von „migrantisch geprägten Arbeitsmärkten“ oder auch „migrantisch geprägten Sektionen in der Ökonomie“.
    Sie hat untersucht, wie Plattformunternehmen – etwa Lieferdienste – gezielt auf junge, gut ausgebildete Menschen aus dem Ausland mit temporären Visa zurückgreifen.

    Stress und schlechte Bezahlung: Lieferdienstfahrer aus Südasien

    Viele sogenannte Rider – Fahrradkuriere für Essenslieferdienste – in Berlin und anderen deutschen Städten stammen derzeit aus Südasien, insbesondere aus Indien und Pakistan. Meist handele es sich um Studierende, die bereits einen Hochschulabschluss besitzen und sich in Deutschland weiterqualifizieren wollen, so der Migrationsforscher Aju John. Rund 10.000 junge Menschen aus Pakistan und 50.000 aus Indien studierten 2024 an staatlich anerkannten Hochschulen, dazu einige tausend an privaten internationalen Instituten.
    Für indische Studierende wurde der Zugang nach Deutschland durch ein Migrationsabkommen von 2022 erleichtert. Trotzdem werden ein Studienvisum, eine Kaution von rund 12.000 Euro, Krankenversicherung sowie Sprachkenntnisse verlangt.
    Nach Angaben der Soziologin Barbara Orth bietet die Arbeit den südasiatischen Studierenden einen schnellen Zugang zum Arbeitsmarkt: Sie benötigen dafür keine anerkannten Abschlüsse, nur Englischkenntnisse und einen legalen Aufenthaltsstatus. Die Jobs können helfen, Studien- und Lebenshaltungskosten zu decken.

    Arbeiten unter Zeitdruck bei Wind und Wetter

    Die Arbeitsbedingungen bei den Lieferdiensten sind jedoch oft prekär. Rider arbeiten unter Zeitdruck bei Wind und Wetter, müssen ihre Räder selbst mieten und erhalten meist nur minimale Ausrüstung. Eine Festanstellung mit grundlegenden Arbeitsrechten ist die Ausnahme. Viele Lieferfirmen nutzen Subunternehmen, bei denen sogenannte „Fleet Manager“ die Abläufe und die den Ridern zugestandenen Zeit-Kontingente verwalten.
    Man spricht von „gig economy“, wie die Soziologin Barbara Orth erläutert: Arbeitsaufträge werden kurzfristig über Plattformen vermittelt, via App, und einzeln vergütet – ohne soziale Absicherung. Der Begriff stammt aus der Musikszene („Gig“ bedeutet Auftritt) und steht für flexible, aber unsichere Plattformarbeit.
    Dass Grundsätzlich gebe es in der Ökonomie „Wellen“ von verschiedenen Nutzern, so Orth. Vor den Kurieren aus Südasien heuerten eher junge Leute aus Lateinamerika als Rider an. Sie kamen für ein Jahr mit sogenannten Working Holiday Visa nach Deutschland und entstammten überwiegend der Mittelschicht. Als sich die Arbeitsbedingungen verschlechterten, waren sie der Soziologin zufolge „relativ schnell raus“.
    Laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg bleibt nur einer von fünf Mitarbeitenden länger als ein Jahr bei den Online-Lieferdiensten. Als Kündigungsgrund gaben 44 Prozent die schlechte Entlohnung und 41 Prozent die schlechten Arbeitsbedingungen an.

    Erzwungene Selbstständigkeit: Menschen aus Vietnam

    Rund 60.000 Vietnamesinnen und Vietnamesen arbeiteten bis zum Fall der Mauer 1989 in volkseigenen Betrieben der DDR als sogenannte Vertragsarbeiter. Die meisten kehrten in ihre Heimat zurück, knapp zwanzig Prozent blieben. Schikanen, Bürokratie und ein jahrelang unklarer Aufenthaltsstatus führten dazu, dass viele den Weg in die Selbstständigkeit suchten. Wenn auch ohne Startkapital oder Fachqualifikation.
    Das konnte höchst prekäre Lebensverhältnisse bedeuten – wie etwa im illegalen Zigarettenhandel. Doch Blumenläden ließen sich auch ohne Floristik-Lehre betreiben. Und ehemalige Textilarbeiterinnen eröffneten Änderungsschneidereien.
    Und die Nagelstudios? Vieles deutet darauf hin, dass hier junge Menschen aus Vietnam arbeiten, die bisher keine Verbindung zu Deutschland hatten. „Wo Arbeit ist, da lassen sich die Leute nieder“, sagt Tamara Hentschel vom Integrationshilfe-Verein Reistrommel.
    Allerdings geraten Nagelstudios immer wieder in die Schlagzeilen: Demnach werden Vietnamesinnen mit falschen Jobversprechen nach Deutschland gelockt und landen in Ausbeutung. Die Nagelstudios als Fassade, hinter der es Prostitution und Menschenhandel gebe. Das Problem der Strafverfolgungsbehörden: die geringe Aussagebereitschaft möglicher Opfer
    Die in Deutschland geborenen Nachkommen früherer Vertragsarbeiter arbeiten nach Angaben Tamara Hentschels in ganz anderen Bereichen: als Führungskräfte bei Banken, in der IT-Wirtschaft oder im Gesundheitswesen.

    Bau und häusliche Pflege: Menschen polnischer Herkunft

    In den 1980er-Jahren zog es viele Polen als Saisonarbeiter nach Westdeutschland. Grund war das große Wohlstandsgefälle: Von einem D-Mark-Lohn, von dem man im Westen nicht leben konnte, ließ sich in der Heimat eine eigene Existenz aufbauen. Besonders in der Baubranche fanden Männer auch nach der Wende Jobs – oft illegal und unter prekären Bedingungen. Frauen landeten in schlecht bezahlten Reinigungs- und Pflegejobs.
    Zahlreiche Menschen aus Polen waren überqualifiziert – ihre Abschlüsse wurden in Deutschland kaum anerkannt. „Leider zieht sich das bis heute durch, dass besonders Diplome, die in der Sowjetzeit erworben wurden, aus slawischen Ländern nicht wertgeschätzt werden“, sagt Anna Hartmann, Bundesgeschäftsführerin des Polnischen Sozialrates in Deutschland.
    Seit dem EU-Beitritt Polens 2004 und dem wirtschaftlichen Aufschwung dort hat sich einiges geändert. Es ist nicht mehr so lukrativ, in Deutschland zu arbeiten. Junge Polinnen und Polen wanderten zunehmend in besser zahlende europäische Länder aus, bis zum Brexit insbesondere nach Großbritannien oder Irland.
    In der Pflegebranche funktioniert das Ausbeutungsmodell jedoch weiter: Es sind gering qualifizierte Frauen, die oft in der häuslichen Betreuung deutscher Pflegebedürftiger arbeiten. Und das zu Bedingungen, die kaum mit europäischen Sozialstandards vereinbar sind.

    bth, Robert Sollich, Frank Riede