Freitag, 19. April 2024

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Arbeitswissenschaftler über Renteneintritt
Babyboomer wollen früher in den Ruhestand

90 Prozent der zwischen 1955 und 1969 Geborenen wollen früher in Rente gehen und nicht das gesetzlich vorgegebene Rentenalter abwarten. In sozialen Berufen ist die Erwerbsmotivation besonders niedrig. Dabei arbeiteten die sogenannten Babyboomer gerne, sagte der Arbeitsforscher Hans Martin Hasselhorn im Dlf.

Hans Martin Hasselhorn im Gespräch mit Carsten Schroeder | 25.04.2019
Das gestellte Foto zeigt einen Rentenbescheid miot Euro-Geldscheinen und Euro-Geldmünzen, Illustrationsfoto zum Thema Renten, Geld, Alter, Einkommen vom 29.01.2007. Etwa jeder sechste Bundesbürger rechnet im Alter mit Armut. Gut jeder fünfte der heutigen Berufstätigen unter 30 Jahren erwägt dann die Auswanderung. Dies sind Ergebnisse einer neuen Umfrage zur Altersvorsorge in Deutschland. Laut Allensbacher Untersuchung im Auftrag der Postbank hat inzwischen jeder dritte Deutsche "gar kein Vertrauen" mehr in die Stabilität des staatlichen Rentensystems. Foto: Hans Wiedl +++(c) dpa - Report+++ | Verwendung weltweit
Mit 63 Jahren kann man nach 45 Jahren Erwerbstätigkeit abschlagsfrei in Rente gehen (dpa-Zentralbild)
Carsten Schroeder: Allmählich wird die Verlängerung der Lebensarbeitszeit für jeden spürbar. Wer in diesen Tagen in Rente gehen will, weil er das Renteneintrittsalter erreicht hat, ist 1954 geboren und jetzt 65 Jahre und acht Monate alt. Schritt für Schritt wird die Lebensarbeitszeit weiter verlängert werden, bis sie im Jahr 2031 für die nach 1964 Geborenen 67 Jahre betragen wird. Politisch notwendig wurde diese Entscheidung, weil die Deutschen immer älter werden und die Versorgung der älteren Generation entsprechend teurer wird. Verstärkt wird das noch durch die geburtenstarken Jahrgänge, die sogenannten Babyboomer, die vor allem zwischen 1955 und 1969 Geborenen, die werden demnächst auch in Rente gehen. Aber wenn man sich so umhört, scheint es so, als ob ein großer Teil der Beschäftigten so lange gar nicht warten will. Funktioniert also alles so, wie sich Bevölkerungsstatistiker und Politiker das vorgestellt haben? Höchste Zeit, einen Blick auf die aktuelle Entwicklung zu werfen. Einer, der das schon seit Jahren macht, ist Professor Hans Martin Hasselhorn, Arbeitswissenschaftler an der Universität Wuppertal, der mit seinem Forschungsteam die sogenannten Babyboomer seit acht Jahren begleitet. Er ist jetzt am Telefon. Guten Abend, Herr Professor Hasselhorn!
Hans Martin Hasselhorn: Ja, guten Abend!
Schroeder: Wie stehen denn die Babyboomer, die zurzeit ja noch voll berufstätig sind, zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit?
Hasselhorn: Na ja, sie würden am liebsten nicht so lange arbeiten, wie sich das der Staat vorstellt, das ist sicher.
90 Prozent der Babyboomer wollen früher in Rente
Schroeder: Sie haben das untersucht. Kann man das so ein bisschen quantifizieren?
Hasselhorn: Wir haben das in der Lida-Studie untersucht, wir verfolgen also die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten der Jahrgänge 59 und 65 jetzt über die nächsten Jahre, hoffentlich bis in die Rente hinein, und wir können feststellen, dass heutzutage – Befragungsdaten von 2018 – nur einer von zehn tatsächlich bis zu seinem eigenen individuellen, gesetzlichen Rentenalter erwerbstätig sein möchte.
Schroeder: Das heißt umgekehrt, eine deutliche Mehrheit von 90 Prozent will früher aufhören?
Hasselhorn: Das ist richtig, und es ist insofern überraschend, als drei Viertel voll in ihrem Arbeitsleben stehen und auch sehr zufrieden mit ihrem Arbeitsleben sind.
"Das eine ist ja das Wollen und das andere ist das Tun"
Schroeder: Sind denn diejenigen, die jetzt früher aufhören, sind das diejenigen, die nach 45 Jahren Rentenzahlungen abschlagsfrei mit 63 in Rente gehen können, oder sind das auch Leute, die da mit Abschlägen zu rechnen haben?
Hasselhorn: Das eine ist ja das Wollen und das andere ist das Tun. Das heißt, was wir interessant finden, ist, dass es alle möglichen Gruppen sind, nicht nur die, von denen wir ausgehen können, dass sie bereits sehr viele Jahre erwerbstätig gewesen sind, sondern es sind auch die, die viele Jahre in Ausbildung verbracht haben und dann erst ins Berufsleben gegangen sind, also auch die Akademiker beispielsweise, die mehrheitlich früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden möchten, allerdings natürlich nicht in so hohem Prozentsatz, wie das zum Beispiel bei den Arbeitern der Fall ist.
Entscheidungsfaktoren für früheren Ruhestand
Schroeder: Aber für die ist das ja, wenn sie da sozusagen nicht auf die 45 Jahre Rentenzahlung kommen, für die ist das mit spürbaren Einschnitten bei der Höhe der Rente verbunden. Aus welchen Gründen wollen denn die Babyboomer das trotzdem in Kauf nehmen?
Hasselhorn: Wir vertreten die Hypothese, dass es nie ein einzelner Grund ist, auch nicht zum Beispiel die Gesundheit als einzelner Grund, weshalb Menschen vorzeitig aus dem Erwerbsleben aussteigen wollen, sondern es wird immer eine Reihe von verschiedenen Gründen sein, die zusammen dazu führen, dass die Menschen früher oder später das Erwerbsleben verlassen wollen. Das ist zum einen natürlich die soziale Herkunft und auch die Prägung der sozialen Herkunft, das ist ganz wichtig. Und ganz starker Einflussfaktor ist, was meine Umgebung darüber denkt, also wenn meine Umgebung die Einstellung hat, früher aus dem Erwerbsleben auszusteigen, dann möchte ich das mit doppelter Wahrscheinlichkeit auch. Oder dann natürlich die privaten Bedingungen: Das ist nicht nur Pflegeverpflichtung, ist natürlich die Frage, wenn ich einen Partner habe, dann bin ich eher geneigt, früher auszusteigen beispielsweise, und wenn der Partner selber nicht mehr erwerbstätig ist, dann natürlich erst recht. Das ist also das private Umfeld. Aber dann spielt natürlich die Arbeit auch eine Rolle, die Arbeitsbedingungen, und natürlich auch die Passung, passe ich noch zu meiner Arbeit, kann ich meine Arbeit eigentlich noch leisten? Das nennen wir Arbeitsfähigkeit, also die eigene Arbeitsfähigkeit spielt auch eine entscheidende Rolle, dann genauso die Gesundheit, die ja nun in die Arbeitsfähigkeit auch wiederum mit reinspielt. Aber wir können auch sagen, dass es viele Menschen mit schlechter Gesundheit gibt, die nach wie vor auch länger erwerbstätig sein wollen. Gleichzeitig ist es so, dass Menschen mit guter Gesundheit und guter Arbeitsfähigkeit - Auch dort sind es eigentlich nur 17 Prozent, die sagen, dass sie bis zu ihrem gesetzlichen Rentenalter arbeiten wollen. Das heißt, diese Faktoren alleine können nicht erklären, warum es so wenige Leute sind, die so lange erwerbstätig sein möchten.
Schroeder: Können Sie bestimmte Berufsgruppen charakterisieren, die besonders häufig eine frühe Rente anstreben oder umgekehrt, Gruppen, die möglichst lange erwerbstätig bleiben wollen?
Hasselhorn: Tja, wir haben es mal für die Gesundheits- und sozialen Berufe zusammengestellt, und da ist es so, dass die Ärzte, das überrascht wenig, bei den Ärzten sind es eher mehr Leute, die länger erwerbstätig sein möchten, während beim Pflegepersonal und genauso übrigens bei Kinderbetreuung, In diesen Berufsgruppen, da ist die Erwerbsmotivation besonders niedrig.
"Die Leute arbeiten gern, drei Viertel sind mit ihrer Arbeit zufrieden"
Schroeder: Eigentlich war die Verlängerung der Lebensarbeitszeit ja so gedacht, dass die Menschen länger arbeiten und länger in die Rentenkassen einzahlen. Nun stellen Sie fest: Das Gegenteil ist der Fall. Kippt das System da womöglich um?
Hasselhorn: Wir stellen nicht fest, dass das Gegenteil der Fall ist. Wir stellen eigentlich eine gewisse Schizophrenie fest. Wir wissen zum einen, die Leute arbeiten gern, drei Viertel der Erwerbstätigen sind mit ihrer Arbeit zufrieden und sagen, die Arbeit bedeutet mir sehr viel. Das ist eigentlich eine ganze Menge. Und gleichzeitig sagen doch fast alle: Ich möchte nicht bis zum gesetzlichen Rentenalter arbeiten. Aber die Frage ist doch: Was wird kommen? Wie lange werden sie eigentlich arbeiten? Das hoffen wir natürlich, in den kommenden Jahren herauszufinden, weil wir eben diese Kohorten weiterhin bis zum Renteneintritt dann auch verfolgen wollen.
Schroeder: Was bedeutet das denn für die Gesellschaft, Herr Professor Hasselhorn?
Hasselhorn: Also ich denke, dass es für verschiedene Gruppen Verschiedenes bedeutet, wenn wir jetzt mal die Babyboomer betrachten. Manche von den Babyboomern wollen ja sowieso länger arbeiten, und dann gibt es eine Gruppe, die nach heutigen Kriterien noch früher aussteigen möchte, aber ihre Meinung ändern wird, je näher sie an das Rentenalter rangeht. Die werden dann also länger arbeiten wollen. Und dann gibt es solche, die eigentlich längst raus wollten aus gesundheitlichen oder Motivationsgründen beispielsweise, und die jetzt aber die Zähne zusammenbeißen und schlicht und einfach weiter erwerbstätig sein müssen. Und diese Gruppe wollen wir besonders betrachten in den kommenden Jahren. Und dann wird es eine Gruppe geben, die unnötig früh ausscheidet, die eigentlich noch gut weiterarbeiten könnte, aber weil die Umgebung oder weil andere Faktoren einfach nahelegen, dass man früh aussteigt, so wie alle anderen, auch die es tun. Und das wäre natürlich sehr schade für die Einzelnen, für die Unternehmen und natürlich auch für die Volkswirtschaft.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.