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Arif Anwar: "Kreise ziehen"
Roman ohne Eigenschaften

In seinem Debütroman erzählt der junge kanadische Autor Arif Anwar eine bengalische Familiensaga, vom Pazifikkrieg in Burma 1942 bis in die USA der 2000er-Jahre. Eine fugenlose Belletristik von tadelloser handwerklicher Professionalität, aber ohne spezifische Eigenschaften.

Von Florian Felix Weyh | 11.06.2019
Zu sehen ist der Autor Arif Anwart und das Cover seines Romans "Kreise ziehen".
Arif Anwar wurde in Chittagong (Bangladesch) geboren und lebt heute als promovierter Erziehungswissenschaftler in Toronto (Autorenfoto: Michael Tan/ Cover: Wagenbach Verlag)
Muss man eigentlich bestimmte Voraussetzungen mitbringen, wenn man ein Familienepos aus einem fremden Kulturkreis liest? Reicht es beispielsweise zu wissen, dass Indien mal unter den Briten litt, bis ein Mann namens Gandhi Schluss damit machte?
"Ein Jahr bevor Indien in drei strikt getrennte Flügel zerbrach, überquerten seine Eltern die Grenze von der einen zukünftigen Nation in die andere, aus Indien in das, was zunächst Ostpakistan werden sollte und später dann Bangladesch. Sie waren schon in ihren besten Jahren, als sie Shar bekamen, einundzwanzig Jahre später."
Die Eltern "bekamen" den kleinen Jungen namens Shahryar tatsächlich – doch nicht auf dem Wege der Geburt, sondern infolge einer Naturkatastrophe: Er ist ein Waisenkind, wie ihn im November 1970 ein gigantischer Tropensturm zu Hunderttausenden hinterließ; die Toten gingen in die Million. Im Gefolge dieser Katastrophe, die sich in einer gespannten politischen Atmosphäre ereignete, kam es zu einem Krieg, aus dem der Staat Bangladesch hervorging; zuvor war er eine pakistanische Provinz gewesen.
Teilung Indiens nach 1945 ist zentral für die Handlung
Zwischen ihr und dem Mutterland Pakistan schob sich allerdings wie ein Keil der indische Staat mit einer Breite von 1.800 Kilometern. Eine explosive Situation, entstanden mit der Unabhängigkeit Indiens 1947. Zeitgeschichte dies – doch wer kennt sie hierzulande?
Im Roman "Kreise ziehen" von Arif Anwar kommen die politischen Verwerfungen der Region als scheinbare Privatsache daher:
"Angesichts einer möglichen geopolitischen Spaltung haben Hindus, die das zukünftige Ostbengalen verlassen wollen, und Muslime, die wiederum dort hinzuziehen gedenken, Vereinbarungen zum Häusertausch getroffen, was beiden Seiten die Auswanderung erheblich erleichtert. Allerdings bedeutet der Mangel an geeigneten Partnern nicht selten, dass die eine Seite zuletzt eine wesentlich bessere Unterkunft erwirbt als die andere. Er selbst steht in Kontakt mit einem reichen Hindu, einem Grundbesitzer im Süden von Ostbengalen, der bereit ist, seinen Landsitz am Meer gegen Rahims Heim einzutauschen. (…) Rahim müsste jetzt nur noch einen Scheck senden, um das Geschäft abzuschließen."
Moslems und Hindus im Streit ums koloniale Erbe der Briten
Der begüterte Muslim Rahim aus Kalkutta hat immerhin mit Zahira eine Frau aus Ostbengalen geheiratet, so dass ihm 1947 die Flucht aus Indien nicht nur als Haustausch gelingt, sondern auch kulturell keinen Schock auslöst. Längst hat er sich in seiner neuen Heimat etabliert, als ihm 1970 der erwähnte Tropensturm den späten Sohn Shahryar beschert.
Doch der Roman greift zeitlich noch weiter aus: Er beginnt im Pazifikkrieg in Burma 1942 und endet mit zeitnahen Episoden 2004 in den USA. Das alles, vor dem Hintergrund der Probleme, die der indische Subkontinent stets mit seinen vielen Völkern hatte und hat: "In mancher Hinsicht gleichen die Engländer den Moguln, die sie einst entthronten: Sie sind der Kitt, der dieses Land der vielen Sprachen, Kulturen und Religionen zusammenhält."
Als die Briten gingen, brach Indien blutig auseinander. Hindus und Muslime wollten, sollten, mussten voneinander separiert werden, doch Separation erhöht die Fremdheit, trennt von gemeinsamen Wurzeln und verhindert eine Identitätsbildung, die auf mehr denn auf Religionszugehörigkeit basiert.
Ist eine bürgerliche Identität jenseits von Religion möglich?
Genau dies ist das Meta-Thema des Romans "Weite Kreise", denn so wie der kanadische Autor Arif Anwar selbst bengalischer Abstammung ist, steckt sein Hauptprotagonist Shahryar im luftleeren Raum zwischen Washington – wo er studiert und ein Kind gezeugt hat – und dem heimischen Bangladesch fest. Seine Identität ist so westlich wie bengalisch, zusätzlich allerdings belastet von jenem Familiengeheimnis der im Sturm verschollenen echten Eltern, das sich erst im Laufe des Romans lüftet.
Während die zeitgenössische Handlung – Kampf um ein Dauervisum in den USA – noch realistisch daherkommt, obschon sie mit einer Kriminalstory aufgepeppt wird, lässt Anwar in den historischen Episoden allen Unwahrscheinlichkeiten freien Lauf. Da entpuppen sich 1942 in Burma japanische Soldaten als christliche Philosophie-Studenten mit angedeutet kantianischem Denkhintergrund, die mit einem dortigen buddhistischen Mönch deutsch reden können – weil der Mönch im selben Ort wie Hitler geboren ist:
"Ichiro nickt. ‚Bemerkenswert, dass zwei Männer, die aus demselben Ort stammen, solch unterschiedliche Lebenswege wählen.‘" Und der Mönch entgegnet lehrbuchgerecht buddhistisch: "Er wird getrieben von Angst und Verlangen. Das führt zu Zerstörung und Leid. Nach meinem Tod wird sich niemand an mich erinnern. Und genau das ist mein Ziel."
Fugenlose Belletristik ohne Eigenschaften
Es ist eine Art multikultureller Weltversöhnungssound, mit dem Anwar die vielen religiös motivierten Konflikte seines Erzählraumes erträglich machen will. Dabei vermeidet er tunlichst irgendwo anzuecken, wie das ganze Buch einer universalen Bauanleitung für Familienepen zu folgen scheint: Im Finale lösen sich alle auffälligen Details unter restloser Verarbeitung aller wesentlichen Figuren in einem harmonischen Ganzen auf. Das ist fugenlos gearbeitete Belletristik!
Als Kaleidoskop mit Rückblenden und Zeitsprüngen konzipiert, ließe sich freilich deren erzählerische Konventionalität sehr leicht mittels einer Schere nachweisen: Auseinandergeschnitten und chronologisch hintereinander aufgereiht, würden die exotischen Episoden noch augenfälliger wie Kreuzfahrtdekor wirken denn als historische Reminiszenz, während die amerikanische Beziehungsgeschichte von Shahryar überdeutlich an der Blässe oft gelesener Alltagsbanalität krankte. Die dramaturgische Mehrfachfaltung verdeckt diese Schwächen, und so wie es "Weltmusik" gibt, die an jedem Ort als Musik funktioniert, scheint sich allmählich ein literarisches Pendant des "Weltromans" herauszubilden.
Dank handwerklicher Professionalität liest er sich gefällig, ohne spezifische Eigenschaften zu haben. Dazu gehört auch – wie bei "Kreise ziehen" – weiterführende Exkurse zu vermeiden. Wissbegierige Leser greifen dann irgendwann zur elektronischen Unterstützung namens Wikipedia. Denn tatsächlich vermag man in diesem Familienepos die historische Nachhilfe nicht gänzlich zu entbehren – was ex negativo beweist, dass zeitgeschichtliche Erklärungen in Romanen doch etwas Gutes haben können. Ihre Abwesenheit allein verleiht jedenfalls kein literarisches Prädikat.
Arif Anwar: "Kreise ziehen", aus dem kanadischen Englisch von Nina Frey
Wagenbach Verlag, Berlin. 330 Seiten, 24 Euro