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Arnold Stadler: "Am siebten Tag flog ich zurück"
Zum Kilimandscharo, trotzdem

In seinem neuen Roman „Am siebten Tag flog ich zurück“ erzählt der Büchner-Preisträger Arnold Stadler von einer Reise zum Kilimandscharo. Sein Ich-Erzähler trifft dort auf seine alten Sehnsüchte und auf die deutsche Kolonialgeschichte.

Von Christoph Schröder |
Der Schriftsteller Arnold Stadler unterhält sich während eines Interviews mit einer Redakteurin. Im Jahre 1999 erhielt der Schriftsteller den Georg-Büchner-Preis.
Der Büchnerpreisträger Arnold Stadler reiste für sein neues Buch zum Kilimandscharo (picture alliance/dpa | Felix Kästle)
In der Stube des Hauses bei Meßkirch, in dem Arnold Stadler aufgewachsen ist, hing über dem Esstisch ein Gemälde. So lesen wir gleich auf den ersten Seiten seines neuen Buchs, und so hat der Autor selbst es auch in Interviews erzählt. Das Werk des Stuttgarter Malers Fritz Lang trägt den Titel "Kibo mit Palme", und es zeigt den schneebedeckten Kipfel des Kilimandscharo. Heute schmückt das Gemälde die Wand in Arnold Stadlers Arbeitszimmer, und es findet sich auch auf dem Umschlag von "Am siebten Tag flog ich zurück" wieder.
Dieses Gemälde war einer der ersten Fernweh-Impulse im Leben Stadlers. Die ersten 19 Jahre seines Lebens kam er nicht aus dem Dorf hinaus, also imaginierte er sich in die Ferne, um später, als er begann, ausgiebige Reisen zu unternehmen, die exakte gedankliche Gegenbewegung zum Fernweh zu vollziehen:
"Die Zukunft war damals meine Sehnsucht, so wie die Erinnerung nun mein Heimweh ist."
Arnold Stadlers literarisches Werk ist ohne den Schlüsselbegriff der Sehnsucht nicht denkbar. Exakt 16mal taucht das Wort auch im neuen, rund 200 Seiten starken Roman auf. Der zitierte Satz steht bereits in vorangegangenen Büchern, als Credo und Leitmotiv all seiner Protagonisten.

Zum Kilimandscharo trotz Flugangst

Im Jahr 2016 bekommt Stadler von der Reisebeilage einer deutschen Wochenzeitung das Angebot, sich ein Ziel seiner Wahl auszusuchen, um darüber eine Reportage zu schreiben. Es wurde – natürlich – der Kilimandscharo.
Also setzt sich Stadler wider seine Flugangst und wider die Flugscham, die seinerzeit als Wort noch gar nicht existierte, am Dreikönigstag 2017 in ein Flugzeug nach Tansania. Die Erwartung, daraus sei nun konventionelle, möglicherweise satirisch aufgeladene Reiseprosa geworden, lässt Stadler gleich zu Beginn ins Leere laufen:
"Mein Leben hat keinen Plot. Mein Leben ist kein Thriller."
Sicher, es gibt einen durch die Agentur vorab festgelegten Reiseplan. Den allerdings konterkariert der Ich-Erzähler durch die Form seiner Aufzeichnungen. Das Erzählprinzip des Romans gehorcht der Assoziation und der Erinnerung. Beide werden nicht willkürlich eingesetzt, sondern folgen einem klaren musikalischen Bauprinzip.

Der zweifache Hemningway

Im ersten Teil, "Präludium" genannt, legt der Erzähler nicht nur eine Spur in seine Kindheit, in der die weißen staubigen Straßen geteert und versiegelt wurden. Zugleich entledigt er sich auf originelle Weise der Pflicht, sich an dem mit dem Kilimandscharo untrennbar verbundenen Namen Hemingway abzuarbeiten. Es ist allerdings nicht Ernest Hemingway, dem Stadlers Faszination gilt, sondern dessen Bruder Leicester, der dereinst die Mikronation "New Atlantis" gründete und sich später wie sein Bruder erschoss.
So anarchisch hüpfend Stadlers Erzählweise auch erscheinen mag, so genau sind die Motivketten im Roman durchgehalten. Dazu gehört auch die Stadt-Land-Dichotomie.

Das Leben ist kein Plot

In den 1960er-Jahren fährt in Messkirch der Landrat mit seiner Limousine vor der Dorfschule vor und beschimpft den Lehrer, weil die Kinder nur Dialekt sprechen können. In Tansania wird Stadler ein Fahrer mitsamt Jeep zur Verfügung gestellt:
"Freddy, der aus der Stadt kam, war mit den Augen eines Kolonialbeamten unterwegs, der die Rückständigen besuchte – wie damals der Landrat uns –, die noch nicht richtig sprechen konnten. Und der hatte ja auch seinen Chauffeur mitgebracht, der genauso hoheitsvoll tat und den Stadtmenschen nach außen kehrte, den Überlegenen."
So kristallisieren sich aus dem vermeintlichen Gewirr von Assoziationslinien und mäandernden Reflexionen Analogien und Kontinuitäten heraus. Das Ich, das hier spricht, ist ein in der Gegenwart präsenter, die Erinnerung aber permanent umdeutender, sich darin neu erfindender Sehnsuchtsmensch. Darauf beruhen der fiktionale Charakter des Buchs und seine Sprunghaftigkeit. Das Leben ist nun einmal kein Plot.

Die "Kaiser-Wilhelm-Spitze"

In Arusha, der Stadt am Fuße des Kilimandscharo, folgt der Ich-Erzähler dem touristischen Programm und wird bei einem Museumsbesuch mit der deutschen Kolonialgeschichte konfrontiert. Immerhin hieß der Kilimandscharo bis 1918 "Kaiser-Wilhelm-Spitze" und galt offiziell als höchster Berg Deutschlands. Eine Safari widert den Erzähler an; die Gespräche mit den anderen Gästen in den diversen Lodges, wo man ihn unterbringt, sind so amüsant zu lesen wie die unfreiwilligen Begegnungen mit der heimischen Tierwelt. Einen weiteren Sehnsuchtsort, die Momella-Farm, auf der 1962 der Film "Hatari!" mit Hardy Krüger und John Wayne gedreht wurde, bevor er von dem deutschen Altnazi Fritz Kiehn in Besitz genommen wurde, findet Freddy, der Fahrer, angeblich nicht.
Buchcover: Arnold Stadler: „Am siebten Tag flog ich zurück. Meine Reise zum Kilimandscharo“ im Hintergrund der Kilimandscharo
Arnold Stadler: „Am siebten Tag flog ich zurück. Meine Reise zum Kilimandscharo“ (Hintergrund: IMAGO / Imaginechina-Tuchong, Buchcover: S. Fischer Verlag)

Nichts wird hier bezwungen

In all diesen Reisebeschreibungen und Denkketten entwickelt Stadler, frei vom exotisierenden blick auf Afrika, in seinem unverwechselbaren Sound die für ihn typische Komik, die auch aus der Mischung von praktischer Unbeholfenheit und verbalem Erfindungsreichtum des Protagonisten resultiert. Über allem aber strahlt der Berg mit seiner im Vergleich zum Bild deutlich zusammengeschmolzenen Schneekuppe, Stichwort ökologischer Fußabdruck.
"Am siebten Tag flog ich zurück" ist auch dezidiert als Gegenstück zur klassischen Helden- und Abenteuer-Literatur angelegt. Bezwungen werden soll bei Stadler nichts und niemand:
"So ehrgeizig war ich nicht, überall oben gewesen sein zu wollen wie ein Extrembergsteiger. Sehen genügte mir meist, die Wunder auf der anderen Seite meiner Augen."

Nach Bremen ohne Smoking

So blickt der Ich-Erzähler am Abend des sechsten Tages seines Aufenthalts auf den Berg, den er seit seiner Kindheit vor Augen hat. Sein nächstes Ziel wird die Stadt Bremen sein, wo er an einer traditionsreichen Veranstaltung, der so genannten Eiswette, teilnehmen soll. Der dafür angedachte Smoking und die Lackschuhe, die er im Gepäck hatte, wurden ihm von einem Affen gestohlen. Doch das stört ihn wenig:
"Am Ziel meiner Reise konnte der Mensch, der ich war, beim Hinaufsehen einen Schimmer davon haben, wie schön etwas sein konnte, das nicht vergeht. ‚Das ist mein Bild!‘, sagte ich. Und dachte ‚Bild meines Lebens‘ dazu."
Dieses Bild, darüber ist der Ich-Erzähler sich im Klaren, wird sich unmittelbar nach seiner Abreise verwandeln: Die Sehnsucht nach dem Berg wird übergehen in das Heimweh der Erinnerung.
Nicht erst mit diesem Buch zeigt sich, dass niemand so windungs- und wendungsreich, so melancholisch und komisch über das Wechselspiel von Erwartungen und Enttäuschungen schreiben kann wie Arnold Stadler.
Arnold Stadler: "Am siebten Tag flog ich zurück. Meine Reise zum Kilimandscharo"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 240 Seiten, 23 Euro.