Donnerstag, 18. April 2024

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ARTE-Themenabend
Brexit – EU auf dem Prüfstand

Im Januar 1972 setzt Premierminister Edward Heath sein Jawort unter den Ehevertrag Großbritanniens mit der Europäischen Gemeinschaft. Kommt es nun – kurz vor der Goldenen Hochzeit – zur Trennung? Ein Themenabend auf ARTE analysiert – erfrischend wie ein guter Ehetherapeut - warum die große Liebe von Anfang an fehlte.

Von Silke Lahmann-Lammert | 14.06.2016
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    Laut Churchill würde Großbritannien das offene Meer Europa vorziehen (picture alliance / dpa / Franz-Peter Tschauner)
    Winston Churchill brauchte nur einen Satz, um das Misstrauen der Briten gegen die Festlandeuropäer auf den Punkt zu bringen: "Wenn Großbritannien sich zwischen Europa und dem offenen Meer entscheiden müsste, würde es immer das offene Meer wählen.
    Churchills Landsleute haben sich 1972 trotzdem für die Europäische Gemeinschaft entschieden. Ein Fehltritt in der glanzvollen Geschichte der Kolonialmacht?
    Kurz vor der Volksabstimmung über den Brexit zeichnet der Dokumentarfilmer Don Kent ein vielschichtiges Bild der britischen Befindlichkeit. Kent ist ein Insider – mit dem nötigen Abstand. Als Schotte in London aufgewachsen, arbeitet er seit Langem für Fernsehsender auf dem europäischen Festland. Egal, wen der Filmemacher fragt: "Politiker, Wirtschaftswissenschaftler, Historiker, Schriftsteller, Landwirte, Musiker, Schauspieler, Choreografen, Journalisten, Filmemacher, Unternehmer" ... die Meinungen gehen diametral auseinander. Passanten widersprechen sich. Experten liefern Ergebnisse, die im krassen Gegensatz zu den Prognosen ihrer Kollegen stehen.
    "Wir gehen davon aus, dass ein Brexit das Bruttosozialprodukt Großbritanniens senken würde. Im schlimmsten Fall bis zu drei Prozent. Drei Prozent würde für jeden Haushalt eine Einkommensminderung von durchschnittlich 2.000 Pfund – ca. 2.500 Euro – bedeuten", meint der Ökonom Thomas Sampson.
    "Nonsens", entgegnet Philip Davies, Abgeordneter der Tories: "Wir könnten weiterhin freie Handelsbeziehungen zu den EU-Staaten pflegen. Ich denke, Deutschland würde uns weiterhin seine BMW und Mercedes verkaufen und Frankreich seinen Wein und seinen Käse!"
    Großbritanniens Kulturschaffende einhellig gegen den Brexit
    So gespalten Bevölkerung, Politiker und Unternehmer sind, so einhellig beantworten Großbritanniens Kulturschaffende Kents Fragen zum Brexit: Sie wollen den Austritt aus der EU unbedingt verhindern. Der 60-jährige Peter Kosminsky – Regisseur der preisgekrönten BBC-Serie "Wölfe" - schämt sich für den Unwillen seiner Landsleute, Macht und Reichtum zu teilen.
    "Margaret Thatcher hat den Egoismus in unserem Land gesellschaftsfähig gemacht. Als ich klein war, war es verwerflich, egoistisch zu sein. Aber Margaret Thatcher hat uns beigebracht, dass die Gemeinschaft nicht zählt. Es sei in Ordnung, nur an sich zu denken. Und so denken die Briten bis heute. Und die Politiker haben diese Haltung immer unterstützt."
    Die Schauspielerin und Labour-Abgeordnete Glenda Jackson ist 80. Sie sieht in dem Wunsch nach britischem Alleingang alte Fantasien von der verlorenen Weltmacht aufglimmen:
    "Als ich klein war, wurde mir vermittelt: Das größte Geschenk, das Gott dir machen kann, ist, dass du als Engländerin geboren bist."
    "Diese Einstellung hat sich mit der Zeit zum Glück geändert. Wir sind heute eine multikulturelle und multinationale Gesellschaft. Und das ist gut so!"
    Aber genau diese Realität möchten viele Briten gern zurückdrehen. Brexit-Befürworter wie Nigel Farage von der UK-Independence Party oder die Tory-Abgeordnete Andrea Leadsom schüren in ihrer Kampagne die Angst vor Einwanderern aus Osteuropa und Flüchtlingen aus dem Nahen Osten:
    "Die Arztpraxen sind voll, es gibt zu wenige Schulen. Der Wohnungsmarkt ist überlaufen. Die Einwanderung ist für die Briten ein echtes Problem. Und sie wird beim Referendum sicher eine große Rolle spielen."
    Viele Arme und sozial Benachteiligte Pro-Brexit
    Besonders punktet die Konservative Leadsom mit diesem Thema bei denen, die von ihrer Partei am Wenigsten zu erwarten haben: Bei den Armen und sozial Benachteiligten. "Mein Sohn findet in unserer Gegend keine Wohnung. Die sind alle von Ausländern besetzt!"
    Don Kent – und sein Co-Autor, der Musikjournalist Jean-Daniel Beauvallet – haben alles andere als eine staubtrockene Politdokumentation gedreht. Ihr Film liefert nicht nur Stimmungsbild, historische Betrachtung und hintergründige Analyse der britischen Gegenwart, er reist auch quer durch die multikulturelle Kultur- und Popgeschichte der Insel.
    Ein Plädoyer für Liebe, Respekt und Annäherung, das zeitweise im Gewand eines shakespeareschen Dramas daherkommt: "In der Rolle des Königs: David Cameron. In der Rolle des Thronanwärters: Boris Johnson, ehemaliger Bürgermeister von London, Pro-Brexit."
    Oder besser: Einer Tragikomödie, bei der uns das Lachen im Halse stecken und das Ende offenbleibt: gehen oder nicht gehen? Das ist hier die Frage!
    "Goodbye Britain?" wird wiederholt am 23. Juni, dem Tag des Referendums, um 9:25 Uhr, und ist außerdem bis zum 13.8.2016 in der arte-Mediathek zu sehen.