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Artur Dziuk: "Das Ting"
Freiheit ist nur eine Anwendung

Was passiert, wenn eine App darüber entscheidet, was zu tun und zu lassen ist? Artur Dziuk hat für seinen futuristischen Debütroman „Das Ting“ erfunden. Das ist eine Optimierungs-App, die ihre Anwender mit klugen Lebensratschlägen versorgt - ihnen aber auch schleichend Denken und Fühlen abnimmt.

Von Jörg Magenau | 12.11.2019
Ein Smartphone mit angeschlossenen Kopfhörern liegt auf einem Dielenboden. Auf dem Display ist die Oberfläche einer Podcastapp zu sehen.
Artur Dziuk erzählt davon, wie das Handy zum Lebenstyrann wird (imago images / Panthermedia)
Ein Ting ist kein Ding. So wenig, wie jede App ein Ding ist. Und doch greift es substantiell ins Leben ein. Das Ting, das Artur Dziuk sich für seinen Debütroman ausgedacht hat, dient der Lebensoptimierung. Seine Erfinder haben es nach der germanischen Versammlungsstätte benannt, wo in grauer Vorzeit innerhalb eines Germanenstammes rechtsverbindliche Entscheidungen getroffen wurden. Denn auch das, was das hypermoderne Ting sagt, soll verbindlich sein.
"Das Ting insistiert. Linus fühlt sich an die Empfehlung erinnert, die ihm riet, seine Promotion abzubrechen, auch da ließ die App nicht locker. Bis heute hat er ein schlechtes Gewissen, Kira seine wahren Beweggründe verschwiegen zu haben. Verschwiegen zu haben, dass er sein gewohntes Leben änderte, weil ihm ein unfertiges und fehlerhaftes Tool dazu riet. Kira hätte nicht verstanden, worauf er von Anfang an hoffte: Dass das Ting ihm half, den richtigen Weg für sich zu finden. Nochmal möchte er seine Freundin jedenfalls nicht anlügen."
Die App befiehlt, eine ineffektive Beziehung zu beenden
Linus ist einer der Erfinder und der Entwickler des Ting. Später wird es ihm diese hochmoderne Lebensoptimierungs-App raten, seine Freundin Kira, die er eigentlich liebt, zu verlassen. Das Ting ist unbestechlich. Es ist über zahlreiche Sensoren mit dem Körper des Anwenders verbunden und sammelt Daten wie Herzfrequenz, Hormonspiegel, Körpertemperatur. Es reagiert aber auch auf die Umwelt, erkennt Personen und gleicht das außen Wahrgenommene online mit allen verfügbaren Informationen ab.
Aus diesem Material errechnet das Ting mit einem sich immer mehr verfeinernden Algorithmus die beste Handlungsoption. Das klingt als Vision des Möglichen so verlockend wie gruselig. Es mag harmlos sein, wenn das Ting Flüssigkeitsmangel feststellt und zum Trinken auffordert oder bei erhöhter Transpiration zum Duschen rät. Manchmal aber klingen die Vorschläge weniger plausibel, sondern so rätselhaft wie das Orakel von Delphi:
"Empfehlung: Für Alternativkurs einen alten Freund kontaktieren."
Aus der nicht allzu futuristisch wirkenden Grundidee, dass eine App umfassend unser menschliches Leben reguliert, entwickelt Artur Dziuk einen klassischen Existenzgründer-Roman. "Das Ting" ist keine Science-Fiction, sondern allenfalls eine Technik-Phantasie mit Zukunftsapplikation. Ort der Handlung ist das durchaus gegenwärtige und wiedererkennbare Berlin.
Vier junge Leute aus Berlin gründen ein Start-up
Im Mittelpunkt stehen vier junge Leute, die für Entwicklung und Vermarktung des Ting ein Start-up gründen. Alle vier stecken gerade in einer schwierigen Umbruchsituation. Erfinder Linus hat nicht nur Probleme mit seiner Freundin Kira, weil er viel mehr Zeit für das Ting als für sie aufbringt. Er ist zudem als Informatiker wiederholt bei Einstellungstests gescheitert, also stellenlos. Sein Studienkollege Adam, der aus Polen stammt, hat Linus damals an der Uni die Idee des Ting geklaut, um damit seine Abschlussarbeit zu bestreiten. Jetzt ist Adam gerade in einem Consulting-Unternehmen wegen Betrugs entlassen worden und muss all seine Hoffnung erneut auf Linus und dessen Erfindung setzen.
Als Sachkundige stößt außerdem die nerdige Niu zu den beiden jungen Männern. Sie ist ein echter Hacker, hat Adam geholfen, illegal an Daten zu gelangen und sitzt die meiste Zeit vor dem Computer, weil sie lieber mit Maschinen kommuniziert als mit Menschen. Ohne die technische Versiertheit von Niu wäre es unmöglich, das Ting zu einem selbstlernenden und sich permanent verbessernden Prinzip zu machen.
Der Vierte im Bunde des Start Up-Teams ist schließlich Kaspar, Sohn einer Familiendynastie, der vergeblich hoffte, in der Consulting-Firma, die Adam entlassen hat, die Nachfolge des Vaters anzutreten. Nach dieser Demütigung hat Kaspar das Bedürfnis, es seinem Vater zu zeigen und schon deshalb aus dem Ting ein großes Ding zu machen. Er ist gewissermaßen der Betriebswirt, der sich fürs Management zuständig fühlt.
"Das Vorhaben ist ehrgeizig und riskant. Aus Investorenperspektive wäre das Risiko vertretbar, denn der mögliche Gewinn ist überproportional hoch. Als erstes Produkt dieser Art auf dem Markt könnte das Ting mehrere Generationen von Konsumenten prägen. Vorausgesetzt natürlich, es erreicht jemals Marktreife. Und genau daran hegt Kasper großen Zweifel, wenn er das Team bedenkt. Ein halbkrimineller Geschäftsführer mit aufgeblasenem Ego, ein unambitionierter Ingenieur und eine postpubertäre Studienabbrecherin werden keine Probleme lösen, die Silicon Valley nicht lösen kann."
Die Optimierungs-App wird ein Riesenerfolg
Das Ting wird ein Riesenerfolg, der seine vier Entwickler und Vertreiber zu überfordern droht. So verlangen es die Gesetze des Genres, die Dziuk akribisch befolgt. Schließlich sind Schwierigkeiten in der Welt der Start-ups dazu da, überwunden zu werden. Wie in den goldenen Existenzgründerzeiten der New Economy zur Jahrtausendwende wachsen auch hier mit dem Erfolg irrsinnige Begehrlichkeiten, was schließlich zum Verkauf des jungen Unternehmens, zum obszönen Reichtum der Protagonisten, aber auch zu einer seltsamen inneren Leere und Ratlosigkeit führt. Auf dieser Ebene ist der Roman wenig überraschend.
Der eigentliche Clou besteht jedoch darin, dass die vier Firmengründer beschließen, sich selbst bedingungslos den Ratschlägen ihrer App zu unterwerfen. Schließlich, so die Argumentation, könnten sie nichts überzeugend vermarkten, dem sie selbst misstrauen. Vertraglich legen die vier "Ting"-Macher darum fest, dass jeder von ihnen bedingungslos den Ratschlägen der App Folge leisten muss – und bei Weigerung und Verstoß gegen diese Regel seinen Anteil am Unternehmen sofort verliert. Das führt zu einigen Komplikationen und schließlich direkt in die Ausweglosigkeit für einen der Helden. Dziuk spielt auf diese Weise durch, was es in letzter, grausiger Konsequenz bedeutet, wenn man seine Lebensentscheidungen vollständig der Computerlogik überlassen würde.
"Aus Gründer- und Investorenperspektive ist es natürlich ein moralisch diffiziles Unterfangen, Menschen die Kontrolle über ihre Entscheidungen aus der Hand zu nehmen und die Verantwortung einem Algorithmus zu überlassen. Genau wie die Orientierung mithilfe von Navigationsgeräten dazu verleitet, der Umgebung weniger Beachtung zu schenken, kann das Ting dazu führen, dass sich Anwender weniger mit sich selbst und ihrem Leben auseinandersetzen. Eine weitere Herausforderung ist die Erfassung und Speicherung der vielen sensiblen Daten. Ganz zu schweigen von der Macht, die der Algorithmus über Nutzerinnen und Nutzer hat."
Allerdings bleibt der Roman in diesen Fragen eher an der Oberfläche. Wie das Ting seine Anwender verändert, gerät nicht in den Blick. Zwar erfährt man, dass die App am Ende nicht mehr auf dem Handy läuft, sondern direkt mit der eigenen Stimme aus dem Inneren spricht, also Teil des Bewusstseins geworden ist. Ich und Maschine sind damit nicht mehr zu unterscheiden und eins geworden. Doch an dieser Stelle, wo der Horror eigentlich erst wirklich anfangen würde, geht es dann nicht mehr weiter im Roman. Der Grusel wird beschworen, aber nicht auserzählt, die moralischen und gesellschaftlichen Konsequenzen eines Lebens mit der Lebensoptimierungs-App werden nicht wirklich ausgelotet. Dafür sind die vier Protagonisten zu sehr mit sich selbst und miteinander beschäftigt. Dennoch ist Artur Dziuk mit "Das Ting" ein anregendes, unterhaltsames und spannendes Debüt gelungen.
Artur Dziuk: Das Ting.
DTV, München, 444 Seiten, 18,- Euro