Samstag, 27. April 2024

Wikileaks-Gründer
Der Fall Assange vor dem Obersten Gericht in London

Julian Assange darf gegen seine geplante Auslieferung an die USA in Berufung gehen. Das entschied der High Court in London. Ein Überblick über Hintergründe des Gerichtsprozesses und aktuelle Entwicklungen.

Text: Anh Tran | Georg Mascolo im Gespräch mit Benedikt Schulz | 26.03.2024
Vor dem High Court in London hält eine Unterstützerin mit Maske ein Plakat hoch. Zu sehen ist eine Bleistift-Zeichnung von Wikileaks-Gründer Julian Assange und die Forderung "FREE ASSANGE".
Seit Jahren demonstrieren Menschen für die Freilassung von Whistleblower Julian Assange. Der Fall steht aktuell vor dem Obersten Gericht in London. (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Frank Augstein)
Er hat Kriegsverbrechen aufgedeckt und sitzt dafür nun seit April 2019 in britischer Haft: Julian Assange. Der Wikileaks-Gründer und Whistleblower wird von den USA der Spionage bezichtigt. Sie fordern die Auslieferung Assanges.
Das Oberste Gericht in London, der High Court, verhandelt über den Fall und räumte ihm am 26. März 2024 die Möglichkeit ein, Berufung gegen die Auslieferung einzulegen. Damit kann Assange nicht unmittelbar an die USA überstellt werden. Danach wäre aber der Rechtsweg in Großbritannien ausgeschöpft. Assange bliebe dann nur noch der Gang vor den Europäischen Gerichtshof. Ein Überblick zum Fall:

Der Vorwurf

Diese Bilder wollten die USA der Welt vorenthalten: US-Kampfhubschrauber greifen im Sommer 2007 Zivilisten in der irakischen Hauptstadt Bagdad an. Es sterben mindestens 12 Menschen, darunter zwei Mitarbeitende der Nachrichtenagentur Reuters. Die US-Armee spricht nach dem Vorfall von einem "Feuergefecht mit Aufständischen". Reuters widerspricht dieser Darstellung fordert damals eine Untersuchung des Falls. Die kam - allerdings drei Jahre später. 2010 stritten die USA jegliches Fehlverhalten ab.

Der Leak

Im April 2010 dann die Überraschung: Die vier Jahre zuvor gegründete Whistleblower-Plattform "Wikileaks" veröffentlicht das Video der Bordkamera. Die Informationen herausgegeben hat die damalige Soldatin und IT-Spezialistin beim US-Militär Chelsea Manning. Neben dem Video hat Manning auch tausende weitere vertrauliche Dokumente an Wikileaks weitergegeben. Dafür wird sie 2013 von den Vereinigten Staaten zu 35 Jahren Haft verurteilt. 2017 erlässt US-Präsident Barack Obama einen großen Teil ihrer Haftstrafe.

Die Verhaftung

Seit den Veröffentlichungen auf Wikileaks ermittelte die USA gegen Julian Assange. Hinzu kam ein schwedischer Haftbefehl wegen des Verdachts einer Sexualstraftat. Assange floh daraufhin 2012 in die ecuadorianische Botschaft in London, auch um einer möglichen Auslieferung an die USA zu entgehen. Der schwedische Haftbefehl wurde später fallen gelassen.
2018 wird in den USA Anklage gegen ihn erhoben, unter anderem wegen Verschwörung und Veröffentlichung von sensiblen Daten der US-Verteidigung. Rund neun Jahre nach den Videoveröffentlichung aus Bagdad und einem Regierungswechsel in Ecuador verlor der Wikileaks-Gründer allerdings seinen Asylstatus und wurde in London festgenommen. Seit dem sitzt er in einer sechs Quadratmeter großen Zelle im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, in der er 21 Stunden am Tag allein ist.

Das Verfahren

Über seine Auslieferung entscheidet derzeit der High Court in London. Assange hatte nach einer Entscheidung 2021, die seine Auslieferung an die USA billigte, Berufung eingelegt. Sollte sein Antrag abgelehnt werden, droht ihm eine zeitnahe Auslieferung in die USA. Nur ein Gang vor den Europäischen Gerichtshof könnte diesen Schritt dann noch verhindern.
Seine Ehefrau Stella Assange warnt indes, dass es ihrem Mann psychisch und physisch in Haft immer schlechter gehe und ihm bei einer Auslieferung der Tod drohe. Dabei beruft sich Stella Assange immer wieder auf eine 2021 erschienene Recherche von Yahoo News, wonach der US-Geheimdienst CIA eine Entführung Assanges aus der ecuadorianischen Botschaft und Ermordung erwogen habe.

Kritik und Reaktionen

Während Julian Assange für die USA als Spion und Staatsfeind gilt, der die innere Sicherheit bedroht, bezeichnen ihn seine Unterstützer als Journalisten und Kämpfer für die Pressefreiheit. Zu Beginn der Verhandlungen am High Court haben weltweit Menschenrechtsorganisationen und Journalistenverbände, wie beispielsweise Amnesty International, Reporter ohne Grenzen und der Verein Digitale Gesellschaft zu Protesten aufgerufen:

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Wenig Chancen für einen Erfolg im Berufungsverfahren sieht Zeit-Journalist Holger Stark im Deutschlandfunk Kultur. Zwar spreche die Faktenlage für Assange, aber der Fall sei höchst politisiert. Die zuständigen Richter müssten viel Mut aufbringen sich - trotz Menschenrechtsverletzungen und Assanges Rolle als Journalist - gegen die eigene und US-amerikanische Regierung zu stellen. Stark hat in der Vergangenheit mit Assange und anderen Medien geleakte Informationen aus geheimen US-Akten veröffentlicht.
Der Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck geht im Deutschlandfunk von einem "unfairen Verfahren" für Julian Assange in den USA aus: "Eigentlich dürften die Briten den (Anmerkung der Redaktion: Assange) gar nicht ausliefern, weil es sich um eine politische Straftat handelt." Eine Verteidigung sei durch das Spionagegesetz aber nur sehr eingeschränkt möglich. Zudem meint Kaleck 175 Jahre Haftandrohung, dazu Isolationshaft und spezielle Maßnahmen gegen Menschen, die Geheimnisträger seien für einen Rechtsstaat unwürdig. Spätestens der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte müsse dies anerkennen.
2023 forderten Prominente, wie die Außenminister a.D. Gerhart Baum (FDP) und Sigmar Gabriel (SPD), in einem offenen Brief Hilfe für Julian Assange von der Bundesaußenministerin Annalena Baerbock. Auch der Deutsche Journalisten-Verband hat die Haltung der Bundesregierung im Fall Assange kritisiert: "Annalena Baerbock scheint ihr politischer Kompass verloren gegangen zu sein. Sie sollte sich endlich an ihre Wahlkampfversprechen erinnern. Bevor es für Julian Assange zu spät ist." DJV-Bundesvorsitzender Mika Beuster betont: "Wikileaks hat maßgeblichen Anteil daran, dass die Weltöffentlichkeit die schmutzige Seite der US-Kriegseinsätze erfuhr." Dafür verdiene er Auszeichnung und keine Haft.

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Auch die Schriftstellervereinigung PEN Berlin zeigt sich solidarisch mit dem Wikileaks-Gründer: "Der Fall Assange ist ein Akt der Justizwillkür und bereits jetzt eine schwere Niederlage für die freiheitliche Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa. Trotz all der weltweiten Proteste, trotz der Eingeständnisse führender Politiker wie Annalena Baerbock, trotz all seiner Preise und Ehrenmitgliedschaften scheint sich das Schicksal von Julian Assange wie eine Naturkatastrophe vor aller Augen zu vollziehen."

Ausblick

Julian Assange selbst kann - so sein Anwalt - aus gesundheitlichen Gründen an der Anhörung nicht teilnehmen. Für eine Freilassung ihres Staatsbürgers hat sich das australische Parlament ausgesprochen. Es fordert von den USA und Großbritannien in einem Beschluss, die Strafverfolgung von Assange zu beenden. US-Außenminister Antony Blinken hat solchen Forderungen allerdings bisher abgelehnt.
In der Anhörung zum Berufungsantrag argumentieren Assanges Anwälte, die US-amerikanischen Behörden würden Assange dafür bestrafen, dass Wikileaks Verbrechen der Regierung aufgedeckt habe. Sie befürchten kein gerechtes Verfahren für ihren Mandanten in den USA. Im Raum steht eine Haftstrafe von bis zu 175 Jahren.
Die Gegenseite sagt, die Veröffentlichungen von Wikileaks hätten "eine ernste und unmittelbare Gefahr geschaffen" für die US-Sicherheit, von der unschuldige Menschen betroffen sein könnten. Assange habe damit deutlich mehr getan als ein Journalist, der Informationen beschaffe.

Journalistische Prinzipien verteidigen

Zeit seines Lebens sei Assange Vieles gewesen, so der SZ-Redakteur Georg Mascolo im Deutschlandfunk: "Er war ganz sicher zwischendurch ein Aktivist, er hat auch zwischendurch eine politische Karriere angestrebt". Entscheidender sei aber, wofür die US-Regierung Julian Assange aktuell vor Gericht stellen wolle: "Das ist für die Publikation dieser geheimen Dokumente", was besonders brisant sei, weil so ein Verfahren auch jeder Journalistin oder jedem Journalisten drohen könnte, die ebenfalls brisante Informationen in Zukunft veröffentlichen wollten.
Man verteidige ein Prinzip und keine Person bei diesem Verfahren. Zwar halte Journalist Mascolo viele Entwicklungen bei Wikileaks nach 2010 für problematisch, dennoch sei die Anklage wegen Spionage kritisch zu beurteilen. Außerdem sei unstrittig, dass veröffentlichte Daten, wie das Video der Boardkamera, mögliche Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen dokumentiert haben, die man prüfen müsse.