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Auflösungserscheinungen

Brüssel am 12. September 1990. Abschiedsstimmung. Nach 293 Spielen sagt die Fußball-Nationalmannschaft der DDR Adieu. Die Gesamtbilanz: 86 Niederlagen und stolze 138 Siege. Entsprechend gemischt sind die Gefühle. Einige trauern, andere freuen sich auf den Neubeginn im Westen.

Von Michael Barsuhn | 12.09.2010
    "Sammer ist ein Riesenspieler und jetzt geht er wieder auf und davon und macht das 2:0. Sage ich ihnen doch, da ist es. Katastrophaler Abwehrfehler. Und jetzt laufen sie auf ihren Trainer zu, auf Eduard Geyer zu und fallen ihm um den Hals."

    Es läuft die 89. Minute. Das 2:0 ist der Schlussakkord eines historischen Abends. Die DDR hat das letzte Länderspiel ihrer Geschichte gewonnen. Aus sportlicher Sicht aber handelt es sich um einen Freundschaftskick ohne Wert. Große Namen wie Andreas Thom, Ulf Kirsten und Thomas Doll sind gar nicht erst angetreten. Denn bereits seit Monaten befindet sich der DDR-Fußball in Auflösung. Spitzenspieler heuern bei Bundesligavereinen im Westen an, während ostdeutsche Klubs um ihre nackte Existenz kämpfen. Einzig Matthias Sammer lässt sich nicht entschuldigen, er spielt - und wie. Der gebürtige Dresdener mit den feuerroten Haaren gilt als einer der besten offensiven Mittelfeldspieler seiner Generation. Längst hat er einen gut dotierten Vertrag beim VfB Stuttgart unterzeichnet. Dem untergehenden SED-Staat trauert er nicht hinterher. Dass die Belgier die Nationalhymne der DDR zum Abschied aber gleich dreimal abspielen, lässt ihn schmunzeln:

    "Sie ist ja gleich dreimal gespielt worden, also das war sicherlich ein gutes Gefühl, aber ich glaube, früher wollte man uns einreden, wenn die Nationalhymne gespielt wird, dann muss es prickeln. Bei mir hats bei dieser Hymne nie geprickelt, weil ich mit diesem Land DDR im Prinzip viel zu viele Widersprüche hatte, auch persönlich. Ich habe für die Auswahl des Landes gespielt. Ich habe immer versucht, mein bestes zu geben und letzten Endes ist es jetzt vorbei und es geht auf ein Neues in Deutschland."

    Nationaltrainer Eduard Geyer blickt hingegen wehmütig zurück:

    "Wir haben uns als Fußballverband, als Mannschaft wirklich sehr, sehr gut verabschiedet. Und es ist eigentlich sehr, sehr schade, dass jetzt eigentlich die Fußballära zu Ende geht, dass jetzt auch für viele Spieler erst mal für die Nationalmannschaft Schluss ist. Wir haben dieses Jahr gegen fünf attraktive Gegner gespielt, haben kein Länderspiel verloren. Umso schöner ist es eigentlich, dass uns hier noch mal so ein Sieg gegen eine sehr sehr prominente Mannschaft, wo ich auch echten Respekt hatte vorher, vor der Begegnung, dass hier so ein Sieg heraussprang."

    Doch die Freude hält nicht lange an. Im Gegensatz zu Sammer und Co. hat Eduard Geyer zunächst Schwierigkeiten sich zu etablieren. Wie viele andere hat er eine Stasivergangenheit. Seine Versuche bei einem westdeutschen Spitzenverein Fuß zu fassen scheitern, denn die alteingesessenen Bundesligaklubs interessieren sich nicht für ostdeutsche Trainer. Zur Kultfigur wird er später dennoch: als knorriger Übungsleiter von Energie Cottbus. Für andere ehemalige Staatsdiener verläuft der Übergang ins neue Deutschland hingegen nahezu reibungslos. Als die Fußballverbände Ost und West am 21. November 1990 in Leipzig feierlich die Einheit vollziehen, spielen politische Verstrickungen keine Rolle. Auch der treue SED-Genosse Wolfgang Riedel bekommt einen Posten beim DFB. 1979 hatte Riedel als Delegationsleiter der DDR-Juniorenauswahl bei einem Spiel in Jugoslawien versucht, die Flucht von Trainer Jörg Berger zu verhindern. Mit einem Foto in der Hand heftete sich Riedel damals an die Fersen des Republikflüchtlings, um diesen noch vor der Grenze zu stellen. So schildert es Jörg Berger in seiner 2009 veröffentlichten Autobiographie:

    "Tja, wie war das. Das war für mich nach der Wende erschreckend, erschreckend wie schnell sich diese Leute gewandelt haben und wie eigentlich auch leicht das war für diese Leute, sich wieder in neue Positionen zu bringen. Man muss sich das vorstellen, wenn's umgedreht gewesen wäre: die DDR wäre als Sieger hervorgegangen, ich sag das mal so, dann hätte auch niemand von Leuten, die im Westen waren eine Chance bekommen. Also, dass hat mich schon sehr geärgert und vor allen Dingen auch Leute, die mich noch zu DDR-Zeiten schikaniert haben und die auch versucht haben mich in die DDR zurückzuholen als sie gemerkt haben, dass ich geflüchtet bin."

    Bis 2004 arbeitet Wolfgang Riedel als Schatzmeister im Nordostdeutschen Fußballverband. Er ist Träger der DFB-Ehrennadel in Gold. Für seine NS-Aufarbeitung rühmt sich der größte Sportverband der Welt inzwischen zu Recht, die Aufarbeitung der DDR-Fußballgeschichte steht noch aus. In den unmittelbaren Nachwendewirren beherrschen andere Sorgen den Alltag. Viele Vereine stehen vor dem Aus. Das Geld kommt nicht mehr vom Staat, es muss nun selbst erwirtschaftet werden, durch Transfererlöse und Werbeeinnahmen. Nicht alle bewältigen diesen rasanten Übergang in die freie Marktwirtschaft. Hasardeure aus dem Westen nutzen die Umbruchszeit und übernehmen das Ruder bei Traditionsklubs wie Dynamo Dresden. Nach einem kurzen Intermezzo im gesamtdeutschen Profifußball ist Dynamo 1995 bankrott. Weitere Insolvenzen folgen. Städte wie Zwickau und Leipzig verschwinden zeitweise von der Fußballlandkarte. Der ehemalige DDR-Nationalspieler Hans-Jürgen Dörner, der zunächst in Zwickau, später in Leipzig als Trainer angeheuert hat, erinnert sich:

    "Es konnte niemand ahnen, als ich da begonnen hab bei beiden Vereinen, dass die Finanzen so negativ sich gestalten werden. Aber das ist natürlich auch ein Zeichen gewesen, dass die Wirtschaft damals und natürlich auch heute in den neuen Bundesländern nicht so stabil gewesen ist, um alles in die Fußballschwerpunkte hinein zu bekommen, um da auch solide zu arbeiten."

    Auch 20 Jahre nach der Wiedervereinigung hat sich die Situation im Fußballosten nicht wesentlich stabilisiert: Lediglich drei ehemalige DDR-Klubs: der 1. FC Union Berlin, Energie Cottbus und Erzgebirge Aue tummeln sich in der Zweiten Bundesliga. Der große Rest darunter. Erstligafußball ist für den Osten der Republik derzeit nur ein Traum.