Montag, 13. Mai 2024

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Auftakt zum Djindjic-Mordprozess in Belgrad

Silvia Engels: Am Telefon ist nun zugeschaltet Jens Reuter, Balkanexperte beim Schweizerischen Forum Ost-West. Wir erreichen ihn in Thessaloniki, guten Morgen, Herr Reuter.

Moderation: Silvia Engels | 22.12.2003
    Jens Reuter: Guten Morgen, Frau Engels.

    Engels: Ist der Prozessbeginn gegen die mutmaßlichen Djindjic-Mörder heute ein Zeichen dafür, dass Serbien den Sprung zum Rechtsstaat geschafft hat, oder haben Sie Zweifel?

    Reuter: Ja, also da sind wirklich Zweifel angebracht, denn also im Vorfeld jetzt die ganzen Ermittlungen, diese Operation Säbel, wo Tausende verhaftet worden sind, die war alles andere als rechtsstaatlich. Da wurde oft verfahren nach dem Motto: Okay, wir werden also diese Leute erst einmal in das Gefängnis bringen, und dann werden wir vielleicht schon irgendetwas finden, was sie tatsächlich begangen haben. Auch jetzt der Prozess selbst ist ja ein Mammutprozess. Man muss sich vorstellen, dieser Gerichtssaal, der hat 900 Quadratmeter. Allein für die Anwälte der Beschuldigten sind 112 Plätze reserviert. Das Ganze findet also in einem gigantischen Maßstab statt, und man kann sich also nur sehr schwer vorstellen, dass unter den dort gegebenen Umständen jetzt wirklich die Dinge aufgeklärt werden und man zur Wahrheit durchstoßen kann. In mancher Hinsicht erinnert die ganze Sache auch an den Mord am amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy. Es gibt schon jetzt in den entscheidenden Dingen widersprüchliche Aussagen, wie viele Schüsse gefallen sind, wie viele Attentäter es gegeben hat. Und dann natürlich die Kernfragen, wer steckt eigentlich hinter diesen Dingen, wer hat das geplant. Auch dort gibt es offensichtlich wieder diese Verfilzung zwischen krimineller und politischer Sphäre. Es scheint unwahrscheinlich, dass es diesem Prozess gelingen kann, hier Klarheit und Aufklärung zu schaffen.

    Engels: Der Prozess selbst ist schon heikel. Lassen Sie uns über die Folgen für Serbien sprechen. Welche Folgen hatte die Ermordung Zoran Djindjic für den Reformweg von Belgrad?

    Reuter: Mit Djindjic gab es dann die entscheidende Reformfigur nicht mehr. Es war sozusagen der Motor für den Reformprozess in Serbien selbst zerstört, und gleichzeitig hat der Westen den entscheidenden Ansprechpartner im Lande selbst verloren, dem man vertraut hat, der zahlreiche Verbindungen hatte, von dem man sagte, der schafft das, der bringt das Land nach vorne, der verfügte eben auch über die Mittel, den politischen Prozess in seinem Land selber so zu beeinflussen, wie er das wollte. Sein Nachfolger hat das nicht geschafft. Man steht jetzt eigentlich in Serbien vor einem Trümmerhaufen. Die Koalition ist zerfallen, es gibt praktisch kein Parlament, das Land hat keinen Präsidenten, es macht einen führerlosen Eindruck wie ein Boot, das im Meer treibt, aber nicht gesteuert wird. Man merkt immer deutlicher, dass die Lücke, die Djindjic hinterlassen hat, nicht nur nicht geschlossen werden konnte, sondern dass sie im Grunde genommen immer größer geworden ist und sich in eine Art politisches Vakuum ausgeweitet hat.

    Engels: Sie haben es angesprochen, Serbien steckt in einer Verfassungskrise. Derzeit gibt es beispielsweise keinen gewählten Präsidenten, da die Wahlen an mangelnder Wahlbeteiligung scheiterten. Ist das darauf zurück zu führen, dass die Menschen auch nach der Ermordung Djindjics der Politik schon gar nicht mehr vertrauen, oder sind das getrennte Entwicklungen?

    Reuter: Das sind zum Teil getrennte Entwicklungen. Ich glaube, diese totale Politikverdrossenheit und dieses absolute Misstrauen gegenüber der Politik, das dann eben auch in dieser Haltung einer Abstinenz, einer politischen Abstinenz einmündet, das hat ganz wesentlich zu tun mit der Perspektivlosigkeit dieses Landes, dessen Wirtschaft sich einfach nicht entwickeln will. Da fehlen die ausländischen Direktinvestitionen, da gibt es kein Licht am Ende des Tunnels. Viele Menschen flüchten sich in das Private, andere flüchten sich in Zynismus, aber es gibt im Grunde genommen so einen Konsensus darüber: Na ja, also die Politik wird uns aus diesem Schlamassel auch nicht heraus helfen, und im Grunde genommen hat es überhaupt keinen Zweck, sich politisch zu betätigen oder auch nur zu Wahlen zu gehen.

    Engels: Am kommenden Sonntag sind Parlamentswahlen in Serbien angesetzt. Sie haben ein eher düsteres Bild gezeichnet. Sehen Sie dennoch irgendwo eine Chance für einen Neuanfang?

    Reuter: Bei den Wahlen scheint es auch wieder so zu sein, dass es sehr, sehr schwierig sein wird, nach den Wahlen eine handlungsfähige Regierung zu bilden. Sollte das, man muss schon fast sagen: wider Erwarten doch gelingen, dann könnte man natürlich davon ausgehen, dass jetzt tatsächlich ein neuer Anfang gesetzt wird und dass man mit Unterstützung des Westens versucht, auch Signale der Hoffnung zu geben. Wenn allerdings die Wahlen so ausgehen sollten, dass sich die politische Zersplitterung eventuell noch verstärkt und dass man nicht in der Lage ist, eine überzeugende und handlungsfähige Regierung zu bilden, dann wird aus alledem nichts werden.

    Engels: Von westlichen Beobachtern wird bei diesen Parlamentswahlen besonders kritisiert, dass auch der mutmaßliche Kriegsverbrecher und frühere Präsident Milosevic kandidiert. Wird er eine Chance haben?

    Reuter: Nein, er wird keine Chance haben. Es gibt in Serbien nur eben alte Leute, so Nostalgiker, die bereit sind, ihn zu wählen, oder es sind ein paar Protestwähler, aber das alles zusammen wird nicht dazu führen, dass er irgendwie die Dinge beeinflussen kann beziehungsweise dass man sagt, er wird eine Rolle bei diesen Wahlen spielen.

    Engels: Sehen Sie ein dreiviertel Jahr nach der Ermordung von Zoran Djindjic irgendeinen Menschen, der die Lücke in Serbien ausfüllen kann?

    Reuter: Nein, das ist eigentlich das Hauptproblem, dass er keinen Nachfolger gefunden hat, dass alle Leute, von denen man damals meinte, sie könnten eventuell in seine Fußstapfen treten, das nicht geschafft haben. Man sieht also, der politische Anzug von Zoran Djindjic ist für alle ein paar Nummern zu groß, die versucht haben, da hinein zu schlüpfen. Es sind im Grunde genommen alles Politiker, die mehr oder weniger durchschnittlich sind, die nicht an diese herausragenden Fähigkeiten von Zoran Djindjic heran reichen, die auch nicht in der Lage sind, eben genau das zu schaffen, was ihm damals gelungen ist, nämlich selber im Lande den politischen Prozess zu beherrschen und sich gleichzeitig im Ausland dieses ernorme Vertrauen zu erwerben. Davon sind diese, sagen wir einmal, Möchtegern-Nachfolger meilenweit entfernt.

    Engels: Kann die Europäische Union etwas tun, um Serbien zu stabilisieren oder kann sie nur hilflos zuschauen?

    Reuter: Also, sie könnte etwas tun, und zwar ist ja das Kernproblem der serbischen Wirtschaft und damit aber eigentlich auch der serbischen Politik, dass es keine ausländischen Direktinvestitionen gibt. Die könnten eventuell den Motor zu Anspringen geben, und da könnte die Europäische Union vielleicht helfen, indem sie so etwas einführen würde wie die Hermesbürgschaft in Deutschland. Das heißt, dass Unternehmer, die bereit sind, in Serbien zu investieren, über die Europäische Union ihre Investitionen bis zu einem gewissen Grad abgesichert bekommen, damit sie tatsächlich Mut haben können, dort zu investieren. Denn ohne eine solche Versicherung wird es niemand tun, weil er weiß, er wird dort sein Geld verlieren.