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Ausbau der Kinderbetreuung "ist eine Kostenfrage"

Die Studie der Bertelsmann-Stiftung zur Ganztagsbetreuung zeigt, dass 2010 in Ostdeutschland mehr Grundschulkinder ein Betreuungsangebot besuchten als im Westen. Laut Studienleiterin Anette Stein engagieren sich alle Länder für die Kinderbetreuung, allerdings sei das mit hohen Kosten verbunden.

Anette Stein im Gespräch mit Manfred Götzke |
    Die Bertelsmann-Stiftung hat eine Studie zur Ganztagsbetreuung an Schulen veröffentlicht, in der sich Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland zeigen. Laut der Programmleiterin der Studie Anette Stein engagieren sich alle Länder für den Ausbau der Kinderbetreuung, allerdings sei das mit hohen Kosten verbunden. Es gebe außerdem "erheblichen Verbesserungsbedarf" in der Qualität.

    Manfred Götzke: Wenn im Osten Deutschlands etwas wesentlich besser funktioniert als im Westen, dann das: Kinderbetreuung. Ab 2013 können Eltern einen Kita-Betreuungsplatz einklagen, und während die Westbundesländer nun fieberhaft versuchen, annähernd genügend Betreuungsangebote mit Tagesmüttern und Last-Minute-Kitas zu ermöglichen, können sich Ostländer entspannt zurücklehnen. Tja, und das gilt nicht nur bei den Kitas, sondern auch für die Grundschulen – denn auch Grundschüler brauchen ja eine Nachmittagsbetreuung, wenn Mama und Papa arbeiten gehen. Die Bertelsmann-Stiftung hat heute eine Studie zur Ganztagsbetreuung an Schulen veröffentlicht, und da zeigen sich ganz massive Unterschiede: Im Osten haben 2010 drei Viertel der Grundschulkinder ein Ganztagsangebot besucht, in den Westbundesländern nur ein Fünftel. Anette Stein von Bertelsmann ist die Programmleiterin der Studie – Frau Stein, sind diese Unterschiede auch 20 Jahre nach der Wende auf das DDR-Bildungssystem zurückzuführen?

    Anette Stein: Es ist mit Sicherheit auf die unterschiedlichen Traditionen zurückzuführen. Der Osten hat eben seit jeher, was die institutionelle Betreuung von Kindern angeht, schon immer es sich leichter getan, in ganztägige Angebote zu gehen, aber wir erleben, dass es sehr unterschiedliche Geschwindigkeiten jetzt bei der Veränderung und beim Ausbau gibt. Da gibt es doch sehr große Unterschiede, auch zwischen den westlichen Bundesländern, aber auch im Osten ist das so.

    Götzke: Ja, schauen wir doch mal auf die westlichen Bundesländer: Schlusslichter sind – ähnlich wie bei der Kita-Betreuung – Bayern, Niedersachsen und Baden-Württemberg mit rund 15 Prozent Ganztagsbetreuung bei den Kindern. Muss man davon ausgehen, dass in diesen Bundesländern tradierte Rollen und Familienbilder stärker zementiert sind – Frau kümmert sich um die Kinder, Mann arbeitet?

    Stein: Es gibt leider keine Bedarfsuntersuchungen oder Bedarfsstudien, also es gibt keine Befragung von Eltern oder Schülerinnen und Schülern selber. Man kann aber, denke ich, davon ausgehen, dass eine Spannbreite zwischen 13 Prozent eben dann in Baden-Württemberg und fast 100 Prozent in Brandenburg nicht nur auf die unterschiedliche Nachfrage zurückgeht. Eine so große Spannbreite hat auch, denke ich, was mit dem Angebot zu tun, was es vor Ort gibt, und ich gehe davon aus, dass mit dem Angebot sozusagen auch die Nachfrage steigt.

    Götzke: Bei den Kitas kennen wir das ja so, also wenn es mehr Plätze gibt, dann werden die von den Eltern auch genutzt.

    Stein: Ganz genau.

    Götzke: Warum fällt es denn den Westbundesländern so schwer, ihre Bildungssysteme der Realität und der Nachfrage anzupassen, dass in vielen Familien beide Elternteile arbeiten gehen?

    Stein: Also wir beobachten seit Jahren in allen Bundesländern einen Ausbau, insofern würde ich auch sagen, dass alle Länder sich sehr dafür engagieren. Das ist eine Kostenfrage, das kostet eben richtig viel Geld, zumal es ja auch nicht damit getan ist, nur einfach irgendein Angebot zu schaffen, das Angebot muss auch gut sein, und auch da gibt es doch erheblichen Verbesserungsbedarf.

    Götzke: Da haben Sie natürlich verglichen die einzelnen Bundesländer, und da, bei der Qualität der Nachmittagsbetreuung, zeigt sich auch: Im Osten hui, im Westen pfui!

    Stein: Ja, im Osten haben wir die Tradition, dass Kinder in ganztägigen Schulangeboten durch die Horte betreut werden, also durch ein Angebot der Kinder- und Jugendhilfe, und dort gibt es in allen Bundesländern Qualitätsstandards, die festgeschrieben sind und die vorgegeben sind. Das gilt in der Regel nicht für die Angebote, die in Schulen gemacht werden, und da im Westen überwiegend Kinder in offenen Ganztagsschulen betreut werden, gibt es dort auch keine Standards für Qualität.

    Götzke: Was heißt das denn genau, also wozu führt das? Sind Ihnen da Beispiele bekannt von besonders schlechter Betreuung an Nachmittagen?

    Stein: Na ja, es gibt keine … In der Regel also kann man sagen – für die Hälfte aller Länder gilt das jetzt –, dass es nicht geregelt ist, ob das Personal, was dort tätig ist, eine besondere Qualifikation und Ausbildung benötigt, es ist nicht geregelt, dass Gruppengrößen nicht überschritten werden dürfen, und in dem Augenblick, wo es dafür keine Regelungen gibt, ist ganz klar, dass es vor Ort erstens große Unterschiede gibt in den Qualitätsangeboten und zweitens auch, dass dort natürlich Personen tätig sind, die keine Ausbildung haben, um mit Kindern pädagogisch zu arbeiten.

    Götzke: Das ist dann zum Beispiel der oftmals zitierte Ein-Euro-Jobber, der den Kindern was vorliest?

    Stein: Das kann so jemand sein, genau, das können Mütter sein, die sozusagen Kapazitäten freihaben und nebenbei ein bisschen was machen möchten, das können auch Sportlehrer sein, die in Vereinen tätig sind, also die Vielzahl der Menschen, die Interesse hat, aus unterschiedlichen Gründen mit Kindern zu arbeiten, die aber eben keine pädagogische Ausbildung haben.

    Götzke: Könnte man pauschal sagen, im Westen findet in der offenen Ganztagsschule Bildung am Nachmittag nicht wirklich statt?

    Stein: Das kann man so pauschal, denke ich, nicht sagen, weil es gibt auch gute Angebote und einzelne Angebote, die zeigen, es gibt dort auch ein qualitativ hochwertiges Angebot, aber es gibt eben doch sehr wenig Regelungen dort. Und gerade auf Landesseite, gerade was die Betreuung von Kindern in Schulen angeht, wo es ja wirklich auch um Bildungschancen geht, wäre doch auch eine Regulierung und eine Sicherung von Standards sehr angemessen.

    Götzke: Ein weiteres Problem, das Sie aufgetan, das Sie herausgefunden haben, ist ja, dass in einigen Westbundesländern die Ganztagsschule eigentlich gar keine Ganztagsschule ist im engeren Sinne.

    Stein: Ja, die Kultusministerkonferenz, die haben sich auf ein sogenanntes Mindestangebot verständigt, und das sind drei Tage mit jeweils sieben Zeitstunden, da sind auch die Unterrichtsstunden dann drin, und das wird wohl von niemandem, der berufstätig ist, einem Ganztagsangebot entsprechen.

    Götzke: Für die Berufstätigen ist das ja ein absoluter Witz, die können ja nicht dann Donnerstag, Freitag sagen, nee, dann arbeite ich nur bis zwölf Uhr.

    Stein: Ganz genau, sie werden sich andere zusätzliche, ergänzende Betreuungssysteme in irgendeiner Form selber stricken müssen dann.

    Götzke: Sie fordern ähnlich wie bei der Unter-Dreijährigen-Betreuung einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung auch in der Grundschule – glauben Sie, das ist durchsetzbar angesichts der Probleme, die die Länder jetzt bei der Umsetzung des Kita-Rechtsanspruchs schon jetzt haben?

    Stein: Ich glaube ja, ich glaube, das ist die Frage, will man das und ist man bereit, dazu auch das Geld auszugeben. Deutschland hat mit Sicherheit genügend Geld, um sowohl im Bereich der unter Dreijährigen als auch der Schulkinder, diese Investitionen zu tätigen. Das ist aber eine Frage der Prioritäten und auch, ob man das will.

    Götzke: Frau Stein, herzlichen Dank für das Gespräch!

    Stein: Sehr gerne!

    Götzke: Die Ganztagsschulbetreuung funktioniert in Westdeutschland so gut wie gar nicht, hat Bertelsmann in einer Studie herausgefunden. Am Ende der Sendung sprechen wir noch mal über die Kinderbetreuung, dann allerdings über die ganz Kleinen – in Nordrhein-Westfalen läuft in diesen Minuten ein Krippenkrisengipfel.


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