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"Wir reden jetzt über massiv höhere Investitionen"

Das Bildungssystem in Bestform zu bringen, das sei eine der wichtigsten Aufgaben in ganz Deutschland, sagte der frühere NRW-Ministerpräsident, Wolfgang Clement, im DLF. Das gelte ganz besonders auch für das größte Bundesland. Hier gebe es erheblichen Nachhol- und Investitionsbedarf. Kinder seien der "wichtigste Rohstoff, den wir haben".

Wolfgang Clement im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 20.05.2017
    Der frühere Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement ist tot.
    "Wir haben zu wenig investiert", sagte der frühere Ministerpräsident von NRW, Wolfgang Clement, im DLF. (imago/Lumma Foto)
    Jürgen Zurheide: Nordrhein-Westfalen bekommt eine neue Regierung. Die alte ist krachend abgewählt worden und CDU/FDP werden mit einer Stimme Mehrheit regieren müssen, wenn sie es denn zustande kriegen. Nach einigen Tagen mit ein bisschen Angst vor der eigenen Courage hat vor allen Dingen die FDP Ja jetzt gesagt zu diesem möglichen Bündnis und eigentlich zweifelt in Düsseldorf niemand, dass das zustande kommt. Wir wollen jetzt weniger über die Koalitionsarithmetik diskutieren als vielmehr die Grundfrage stellen: Ja, was braucht denn das größte Bundesland, was ja dann nicht ganz unwichtig ist für die Bundesrepublik Deutschland? Darüber wollen wir reden mit einem, der es wissen muss, weil er selbst Ministerpräsident war, in der SPD war, inzwischen eher der FDP nahesteht, Wolfgang Clement. Den begrüße ich am Telefon, guten Morgen, Herr Clement!
    Wolfgang Clement: Guten Morgen, Herr Zurheide!
    Zurheide: Herr Clement, was ist so – mal allgemein gefragt – die größte Herausforderung aus Ihrer Sicht für das größte Bundesland?
    Clement: Die größte Herausforderung besteht darin, das Bildungssystem in Bestform zu bringen. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben in ganz Deutschland, ich glaube, dass wir erheblichen Nachholbedarf haben. Aber in besonderer Weise gilt das natürlich für das größte Bundesland und ein Land, in dem es ja einige Probleme gibt, auch im Bildungsbereich.
    Zurheide: Jetzt höre ich diese Sätze – "Wir müssen mehr in Bildung investieren!" – schon ziemlich lang, ich habe auch von Ihnen solche Sätze im Ohr, sogar Johannes Rau, um auf Nordrhein-Westfalen zu kommen, hat gesagt: Der größte Rohstoff ist der zwischen den Ohren unserer Kinder. Das ist ja eigentlich keine ganz neue Erkenntnis. Warum sind wir da eigentlich in den letzten 20, 30 Jahren so wenig weitergekommen? Oder ist die Beobachtung falsch?
    "Bildungsausgaben in Deutschland im internationalen Vergleich sehr rückständig"
    Clement: Ja, wir sind in ganz Deutschland wenig weitergekommen, weil die Bildungsausgaben in Deutschland im internationalen Vergleich sehr rückständig sind. Das heißt, gut Deutsch gesagt: Für die Bildungsausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden in Kindergärten, Schulen und Hochschulen liegen im OECD-Vergleich – das ist die letzte Zahl jedenfalls, die ich kenne – auf Platz 21, gleich auf mit Portugal. Das heißt, wir geben weniger als zehn Prozent unserer öffentlichen Ausgaben aus diesen drei Haushalten in, wie gesagt, Kindergärten, Schulen und Hochschulen. Der europäische Durchschnitt liegt bei elf Komma sowieso Prozent. Und wenn Sie es noch genauer wissen wollen, in der Schweiz liegt er bei über 15 Prozent und in Südkorea über 14 Prozent. Das zeigt im internationalen Vergleich: Es wird sehr viel mehr zu investieren sein, ganz einfach, an Geld. Aber damit soll natürlich auch, muss natürlich etwas zustande gebracht werden, nämlich natürlich eine ausreichende Versorgung mit Kitas und Kindergärten, aber vor allen Dingen mit einer entsprechenden Anzahl von hoch qualifizierten Erzieherinnen und Erziehern in den Kindergärten, in der Vorschule.
    Spätestens ab dem vierten Lebensjahr sollte die Vorschule beginnen wie in anderen Ländern auch, möglichst bilingual, wir brauchen eine flächendeckende Ganztagsschule, wir brauchen kleinere Klassen, ich würde sagen, nicht größer als 20 Kinder. Wir brauchen Berufsvorbereitung, spätestens drei Jahre vor Schulabschluss, Berufsberatung im Übergang von der Schule in den Beruf, weil das nicht funktioniert in Deutschland. Denn an all dem steht, dass bisher in Deutschland – und in Nordrhein-Westfalen liegt das bei über sechs Prozent – 50.000 Kinder im Schnitt pro Jahr keinen Schulabschluss erreichen, keinerlei Schulabschluss, und wir über eine Million zwischen 20- und 30-Jährige haben, die ohne abgeschlossene Berufsausbildung bleiben. Das zeigt, unser Bildungssystem ist nicht in Ordnung.
    "Wir haben nicht genug investiert allesamt"
    Zurheide: Der Befund ist ja nicht ganz neu. Ich habe Sie gefragt: Wie kommt denn das, dass trotz aller Bekenntnisse – und die hat es ja nun nicht erst jetzt gegeben, in der jüngeren Vergangenheit –, dass Deutschland das nicht schafft? Was läuft da schief? Investieren wir zu viel in die alten und zu wenig in die neuen? Der Befund ist richtig, warum ist das so?
    Clement: Also, als Erstes würde ich für mich persönlich sagen und muss auch sagen, dass wir natürlich schon früh Fehler gemacht haben … Ich habe uns eigentlich für eine der großen Bildungsnationen der Welt gehalten, bis wir die internationalen Vergleiche bekamen. So Ende der 90er-Jahre begann das ja richtig intensiv und da begriff man, dass wir doch weit zurück sind. In Mathematik, in Sprache, in der deutschen Sprache et cetera. Wir haben einen klaren Rückstand dort und wir haben dann nicht genug investiert allesamt. In allen Ländern – das ist in Deutschland nicht ganz gleichmäßig, aber doch, pauschal gesprochen kann man das so sagen –, wir haben zu wenig investiert, wir haben uns sehr viel stärker mit der organisatorischen Auseinandersetzung herumgeschlagen zwischen der Gesamtschule beispielsweise und dem Gymnasium, wir haben Organisationsschlachten dort im politischen Bereich ausgetragen, statt uns auf die Frage zu konzentrieren, was ist denn inhaltlich notwendig, was erfordert die heutige Zeit und was muss dazu inhaltlich mehr geschehen? Und das ist in Rückstand geraten.
    Es kommt hinzu, dass wir in den Ländern keinen wirklichen Wettbewerb haben, sondern völlig unterschiedliche Strukturen, sodass auch der Vergleich zwischen den Ländern nicht funktioniert. Also, wir haben weder Kooperation noch vernünftige Konkurrenz zwischen den Ländern. Alles dies muss jetzt in Ordnung gebracht werden und dazu glaube ich, dass wir so etwas wie einen Staatsvertrag der Länder brauchen, nicht nur so etwas wie, sondern einen Staatsvertrag der Länder, der besser ist als das, was bisher in der Kultusministerkonferenz zustande gekommen ist, damit es zu einer vernünftigen, auch einigermaßen ausgewogenen Bildungsleistung in Deutschland kommt.
    "Den Übergang von der Schule ins Berufsleben erleichtern"
    Zurheide: Der Föderalismus ist hinderlich, wir haben an anderer Stelle in dieser Sendung schon über den Finanzausgleich gesprochen. Ist der Föderalismus hinderlich da oder müsste er anders ausgestaltet werden?
    Clement: Im Moment ist er aus meiner Sicht eher hinderlich. Es kann nicht sein, dass Arbeitnehmer mit Kindern es kaum wagen, von einem Land ins andere zu wechseln, weil dann ihre Kinder in Nachteil geraten können oder hier nicht mitkommen können, weil dort völlig andere Schulstrukturen sind und Vorbereitungen. Wir haben nicht einmal die Lehrerausbildung angeglichen, sie ist auch nicht auf dem bestmöglichen Stand, wir haben beispielsweise kaum Lehrerinnen und Lehrer, die eine entsprechende digitale Vorbereitung und Qualifizierung haben, um das auch an die Schülerinnen und Schüler weiterzugeben. Aber das ist eine Konfusion der Schulstrukturen, der Lehrerausbildung in Deutschland und eine mangelnde Absprache bis hin zu den Bemühungen, endlich mal zu einem gemeinsamen Abitur oder halbwegs vergleichbaren Abitur in Deutschland zu kommen. Alles das sind meines Erachtens unzureichende Leistungen der Länder, und zwar auch insbesondere der Kultusministerkonferenz. Ich habe da auch selbst Erfahrungen, die Kultusministerkonferenz hat auch in meiner Zeit schon es versäumt, sich einmal mit der Berufsausbildung vernünftig zu beschäftigen und hier zu Veränderungen zu kommen, die den Übergang von der Schule ins Berufsleben erleichtern würden.
    Ansehen der Pädagogen müsse deutlich verbessert werden
    Zurheide: Wenn ich diese Woche Martin Schulz gehört habe, der ja so ähnlich wie Sie gesagt hat, wir müssen mindestens auf das OECD-Maß in Deutschland kommen, müssten Sie jetzt zum Fan von Martin Schulz werden!
    Clement: Warum soll ich jetzt von irgendjemandem Fan werden? Ich bin schon lange auf diesem Gebiet hier unterwegs, versuche, überall zu werben dafür. Und das ist auch nicht mit ein paar Sprüchen getan, sondern wir reden jetzt über massiv höhere Investitionen. Und mich interessiert auch weniger der OECD-Durchschnitt, das ist ja nur ein Hinweis unter vielen. Wir haben nach Schätzungen, die ich für realistisch halte, mindestens 20.000 Lehrerinnen und Lehrer zu wenig. Wenn Sie denken an unsere kleinen Klassen: Wir haben Klassen heute noch von 30 Schülern, in denen dann auch noch Inklusionskinder unterrichtet werden sollen. Meistens, jedenfalls in Nordrhein-Westfalen, stehen dazu auch nicht die angekündigten Begleiter zur Verfügung. Also, wir reden über massivste Veränderungen. Und wenn man diese Veränderungen auch mit Inhalten füllen will, dann braucht man auch entsprechend qualifizierte Lehrerinnen und Lehrer. Das heißt, wir müssen auch die Ausbildung der Pädagogen verbessern, was dann auch hoffentlich dazu führen wird – da muss ich mich auch selbst ein bisschen schuldig bekennen, nicht nur ein bisschen –, dass wir das Ansehen derer, die mit unseren Kindern umgehen, das heißt mit, wie Johannes Rau gesagt hat, dem wichtigsten Rohstoff, den wir haben, … das Ansehen derer, die diese Aufgabe haben, die ja eine wirklich entscheidende ist für unser Land, deutlich verbessern. Und ich würde mir das von einer verbesserten Ausbildung und einer transparenten, erkennbaren Verbesserung der Situation auch versprechen.
    Bessere Ausstattung auch für Berufsschulen
    Zurheide: Wir schreiben zu wenig Aufstiegsgeschichten, Sie haben das ja angesprochen. Das ist am Ende dann mehr als nur Schulpolitik, das ist ja dann Gesellschaftspolitik. Da müssten wir doch eigentlich wieder hinkommen, oder?
    Clement: Ja, natürlich, das wird sich ja dann auch auswirken. Wir reden ja dann übrigens nicht nur über die Schule jetzt im engeren Sinne, sondern ich rede dann gleichzeitig, muss darüber auch reden, über duale Berufsausbildung. Auch da müssen wir natürlich besser werden, da müssen wir Anreize schaffen, beispielsweise könnte man so denken an eine Exzellenzinitiative für berufliche Bildung. Wir brauchen dort eine Ausstattung der Schulen mit digitaler Technologie. Wo gibt es das denn? Unsere Schulen sehen doch heute teilweise noch aus, dass man schon Depressionen bekommt, wenn man nur durch den Eingang geht. Und wir brauchen dort stattdessen nicht nur Schulen, die Spaß machen, dass man sie besucht, die eher Zuversicht vermitteln, sondern wir brauchen auch die entsprechenden Ausstattungen im Innern, die das Lehrmaterial zur Verfügung stellen, das man braucht, um mit den heutigen Herausforderungen umgehen zu können.
    Zurheide: Das war Wolfgang Clement, der frühere nordrhein-westfälische Ministerpräsident, mit einem Plädoyer für mehr Bildung in Nordrhein-Westfalen, aber eben auch in der Bundesrepublik. Herr Clement, ich bedanke mich für das Gespräch!
    Clement: Ich danke auch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.