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Außenpolitik
"Das passte alles vorne und hinten nicht zusammen"

Grünen-Chef Cem Özdemir begrüßte im Deutschlandfunk die Debatte über ein verstärktes außenpolitisches Engagement Deutschlands. Deutschland sei zwar Weltmeister bei Rüstungsexporten, habe sich aber im Falle des Nato-Einsatzes in Libyen der Stimme enthalten. Viele Partnerländer seien deshalb verwirrt gewesen und hätten nicht gewusst, wofür Deutschland eigentlich stehe.

Cem Özdemir im Gespräch mit Dirk Müller | 03.02.2014
    Grünen-Chef Cem Özdemir beim Parteitag
    Der Bundesvorsitzende der Grünen, Cem Özdemir. (picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka)
    Dirk Müller: Wie eine konzertierte Aktion lief das ganze ab bei der Münchner Sicherheitskonferenz an diesem Wochenende: erst der Bundespräsident, dann die Verteidigungsministerin, dann der Außenminister. Alle drei fordern, Deutschland soll sich nicht mehr länger verstecken, nicht mehr wegducken, wenn es darauf ankommt, sondern von Beginn an mit dabei sein und eben nicht nur mitreden. Dabei sein, das heißt auch mit mehr Truppen, mit Soldaten, die auch kämpfen, wenn nötig. Vorbei mit der Scheckbuch-Diplomatie, vorbei mit der Zurückhaltung bei Militäreinsätzen wie zuletzt in Libyen beispielsweise oder gar im Irak. Diplomaten in München sprachen schon von einer Zeitenwende in der Berliner Außen- und Sicherheitspolitik. Nur die Deutschen, die wissen von dieser Zeitenwende im Moment recht wenig. Am Telefon ist nun der Chef der Grünen, Cem Özdemir. Guten Morgen!
    Cem Özdemir: Guten Morgen, Herr Müller!
    Müller: Herr Özdemir, sind wir nun endlich wieder wer?
    Özdemir: Nein. Es geht hier nicht um eine Großmannssucht, das hat der Bundespräsident sehr deutlich gemacht, sondern worum es geht, dass ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland, die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, das größte Land oder das wirtschaftlich mächtigste Land in der Europäischen Union, auch eine Verantwortung hat: eine Verantwortung nicht nur für sich selber, sondern auch für Demokratie, für Menschenrechte in der Welt. Hinter diesem Begriff der Kultur der Zurückhaltung hat sich ja nicht ein Land verborgen, das Blumen in die Welt verteilt hat, sondern ein Land, das Weltmeister war bei Rüstungsexporten, es nach wie vor ist, wie die Weltmeister Rüstungsexporte in die ganze Welt, darunter nach Saudi-Arabien, angefertigt hat, ein Land, das, als Frau Merkel Oppositionsführerin war, Truppen in den Irak schicken wollte, aber als es darum ging, Herrn Gaddafi das Handwerk zu legen in Bengasi, als er angedroht hat, die eigene Bevölkerung zu massakrieren, sich der Stimme enthalten hat. Das passte alles vorne und hinten nicht zusammen. Viele unserer Nachbarländer, unserer Verbündeten waren verwirrt, wofür Deutschland eigentlich jetzt steht. Und wenn wir jetzt eine Debatte bekommen in Deutschland über die Rolle Deutschlands, über die deutsche Außenpolitik innerhalb der EU, innerhalb der NATO, innerhalb der Vereinten Nationen, dann ist das gut.
    Müller: Wollen Sie mehr Soldaten?
    Özdemir: Auch darum kann es erst mal nicht gehen, denn wir haben ja jetzt gemeinsam beschlossen, dass wir die Wehrpflicht abschaffen, dass die Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee verwandelt wird. So einfach ginge das gar nicht, denn ein großer Teil der Soldaten, die wir bei der Bundeswehr haben, eigenen sich gar nicht für Auslandseinsätze. Übrigens bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr muss man auch nicht immer an bewaffnete Einsätze denken, wo es darum geht, Kriege zu beenden, sondern zu den Einsätzen gehört beispielsweise auch zu helfen, dass ein Krieg beendet wird.
    Müller: Aber das machen wir doch, Herr Özdemir. Das machen wir doch weltweit ganz oft, ganz viel.
    Özdemir: Eben, und das ist nicht alles falsch, was wir da machen. Deshalb ärgert mich auch die pauschale Kritik der Linkspartei an den Äußerungen des Bundespräsidenten im Süd-Sudan, wo es darum geht, dass zwei Konfliktparteien getrennt werden, dass man dafür sorgt, dass die Zivilbevölkerung nicht Opfer wird von schlimmsten Menschenrechtsverletzungen. Das ist ein Einsatz, der auch von den Vereinten Nationen begrüßt wird, gegen den niemand in der Welt was hat, außer der Linkspartei in der Bundesrepublik Deutschland. Deshalb hat eine solche Position nichts mit progressiv oder linker Politik zu tun, sondern das ist eine linksnationalistische Position. Die sollte sich nicht hinter progressiver Rhetorik verstecken, sondern sagen, worum es geht, dass einem der Rest der Welt egal ist.
    Müller: Reden wir über die grüne Option, über grüne Positionen, Cem Özdemir. Sie als Parteichef sagen ganz klar, auch die Militäroption ist eine Option und sie muss ausgeräumt werden.
    Özdemir: Sie ist immer eine Ultima Ratio, und manchmal kann man eine Ultima Ratio auch zu spät anwenden, siehe den Fall Bosnien-Herzegowina. Ich erinnere daran, dass es die Amerikaner waren, die immer gesagt haben, ihr müsst euch darum kümmern, da passiert ein Völkermord, und die Antwort Europas war, das ist unsere Angelegenheit, wir machen das schon selber. Das Ergebnis waren Hunderttausende von Toten und Vertriebenen. Bis heute sind die Probleme in Bosnien-Herzegowina und im ehemaligen Jugoslawien ja nicht restlos gelöst.
    Müller: Das war ja damals auch die Wende in der grünen Außen- und Sicherheitspolitik. Joschka Fischer!
    Özdemir: Erst mal war es die Wende der deutschen Außenpolitik. Die Grünen haben damals Verantwortung übernommen im Fall vom Kosovo. Das ist ja richtig gewesen, dass man das breit diskutiert hat. Das macht Deutschland sympathisch, dass wir keine Hurra-Patrioten sind, sondern so was kritisch diskutieren wollen. Wir haben das auf Parteitagen diskutiert, andere in ihren Gremien. Dass Deutschland dieses jetzt wieder diskutiert, dazu würde für mich auch dazugehören, dass man Afghanistan auswertet, denn da hat ja nicht alles super gut geklappt, um es mal zurückhaltend zu formulieren. Auch da würde ich mir jetzt eine Debatte wünschen der Bundesregierung, lasst uns gemeinsam diskutieren darüber, hat Afghanistan geklappt, was hat geklappt, was hat nicht geklappt und was muss man vor allem daraus lernen?
    "Reisediplomatie ist schön, aber reicht nicht"
    Müller: Reden wir über vergossene Milch. Libyen – Sie haben das Beispiel auch noch einmal genannt – wird jetzt in der Debatte seit diesem Wochenende genannt. Wären Sie damals für eine deutsche militärische Beteiligung gewesen?
    Özdemir: Ich habe das sehr klar öffentlich gesagt, dass ich der Meinung war, dass es falsch war, dass wir uns im Sicherheitsrat der Stimme enthalten haben. Eine militärische Beteiligung Deutschlands stand ja gar nicht zur Debatte. Niemand hat das gewollt. Deutschland hätte das gar nicht gekonnt.
    Müller: Das war jetzt die Frage: Wären Sie bereit gewesen, militärisch sich zu beteiligen?
    Özdemir: Ich kann es ja nicht, weil ich nicht dort hingehe, sondern ich schicke dort Soldaten und die Soldaten hätten wir damals nicht gehabt, um sie dort hinzuschicken. Darum wäre es auch nicht gegangen, denn es ging um eine Flugverbotszone – und die hätten wir mit unterstützen sollen.
    Müller: Die hätte aber nicht die Lufthansa kontrollieren können, sondern die deutschen Soldaten.
    Özdemir: Nein! Noch mal: Die Franzosen und die Amerikaner und die Briten wollten dieses machen, haben sich dafür ein UN-Mandat im Sicherheitsrat geholt, und bei diesem Sicherheitsrat ging es um die Geste der Solidarität. Die russische Enthaltung und die chinesische Enthaltung waren quasi als eine Art Ja gedacht. Die deutsche Enthaltung war quasi als eine Art Nein gedacht, und da darf Deutschland nicht hin. Es gehört eindeutig zu den Konstanten der Nachkriegspolitik, dass wir eine klare Westanbindung haben, dass wir eine transatlantische Solidarität haben, aber dass wir vor allem auch eine europäische Ausrichtung haben. Deutschland und Frankreich sollten auch in außenpolitischen Fragen möglichst eng zusammenstehen und nicht gegeneinander stehen.
    Müller: Herr Özdemir, ich verstehe immer noch nicht den Wechsel jetzt beziehungsweise die Zeitenwende, von der einige reden. Auch Sie sagen ja, das muss anders werden. Das heißt, wir stimmen demnächst mit Ja, machen aber, wenn es darauf ankommt und weh tut, letztendlich dann doch nicht mit. Was ist jetzt neu?
    Özdemir: Nein, darum geht es nicht. Sie machen genau den gleichen Fehler, den die Linkspartei macht, dass wir außenpolitisches Engagement auf militärisches Engagement verkürzen. Dazu gehört beispielsweise auch, dass man keine Rüstungsexporte macht in Krisengebiete. Dazu gehört beispielsweise auch, dass man die Agrarexporte nicht mehr subventioniert und damit die Märkte kaputt macht.
    Müller: Das machen wir ja trotzdem alles.
    Özdemir: Eben! Dazu gehört auch das außenpolitische Engagement.
    Müller: Deutsche Soldaten, aber das ist doch die Substanz!
    Özdemir: Aber man kann eben auch im Fall von Völkermord nicht ausschließen, dass die Vereinten Nationen sagen, hier muss man was tun, und da wünsche ich mir eine Bundesrepublik Deutschland, die sich ebenfalls engagiert mit ihren Partnern zusammen.
    Müller: Syrien ist Völkermord?
    Özdemir: Im Fall von Syrien haben wir es mit einem Bürgerkrieg zu tun. Wir haben es vor allem mit unterschiedlichen Seiten zu tun, wo man leider die Hand nicht umdrehen kann. Das gilt für die Regierung, wo wir jetzt ja wieder schreckliche Bilder gesehen haben aus den Gefängnissen, das gilt aber leider auch für den Teil der Opposition, der islamistisch ist, von al-Kaida und der Nusra-Front, wo man sich nicht wünschen kann, dass die regieren. Man kann sicherlich diskutieren, ob man in der Frühphase des Konflikts nicht hätte was tun können. Heute sind wir in der Situation, wo der Verhandlungstisch der richtige Weg ist. Auch da wünsche ich mir eine Bundesrepublik Deutschland, die mit verhandelt. Kennen Sie eine Initiative der Bundesregierung aus den letzten Jahren, was den Nahen Osten angeht? Die letzte war von Joschka Fischer, das ist ein bisschen wenig für die Bundesrepublik Deutschland.
    Müller: Die Außenminister besuchen immerhin regelmäßig den Nahen Osten. – Aber, Herr Özdemir, lassen wir noch einmal auf die Liste gucken: Afghanistan!
    Özdemir: Reisediplomatie ist schön, da sammelt man viele Meilen, aber ich glaube, das reicht nicht. Was wir brauchen ist eine Bundesrepublik Deutschland, die in der Region aktiv ist, wahrgenommen wird als ein Partner, der sich dafür einsetzt, dass es Frieden gibt. Wir müssen uns daran gewöhnen, die Amerikaner werden sich künftig auf wenige Hotspots konzentrieren, wo sie ein eigenes sicherheitspolitisches Interesse haben oder ein außenpolitisches Interesse haben, wie Israel, wie Syrien, wie Iran. Alles andere – dazu gehört beispielsweise auch Nordafrika – spielt für die Sicherheitspolitik der Amerikaner eine untergeordnete Rolle. Da muss sich Europa engagieren, nicht indem es die Grenzen dicht macht für Flüchtlinge, sondern indem es hilft, dass es dort Frieden, Demokratie, Marktwirtschaft gibt.
    "Wir sind am Limit dessen, was die Bundeswehr im Ausland leisten kann"
    Müller: Afghanistan, Syrien, Libyen, jetzt Zentralafrika, Mali – das sind Konfliktherde, wo etwas "getan" wird, wo auch Soldaten präsent sind. Die Franzosen sagen, wenn ihr uns helfen wollt, dann brauchen wir Soldaten und keine Bundeswehrsoldaten im Rote-Kreuz-Hemd. Das heißt: Warum gehen wir dieser Diskussion immer wieder aus dem Weg zu sagen, wenn, dann müssen wir auch militärisch helfen, wenn sich etwas ändern soll?
    Özdemir: Na ja, ich sitze ja im Bundestag. Da führen wir diese Diskussionen, und das ist gut so. Zu diesen Diskussionen gehört allerdings auch, dass man ein Konzept hat, dass man weiß, wohin geht man. Reingehen ist ja immer einfacher, als wieder rausgehen. Was will ich in dem Land, was kann ich in dem Land, wer sind meine Partner, wie sieht es aus mit der Beteiligung der Nachbarländer? All diese Konzepte sind da ganz entscheidend. In Afrika haben wir den Vorteil, dass wir mit der Gemeinschaft Afrikanischer Staaten Partner haben. Das hatten wir in Afghanistan nicht. Und wir haben vor allem das Backing der Vereinten Nationen. Aber auch da müssen wir uns sehr genau überlegen, wenn man reingeht: worin gerät man da, was ist das Konzept, was ist die Absicht. All diese Fragen, die müssen in Deutschland breit diskutiert werden. Wir haben in Deutschland Gott sei Dank eine Parlamentsarmee. Das heißt, der Bundestag ist gefragt. Das ist der richtige Weg.
    Müller: Jetzt habe ich immer noch nicht verstanden, ob das mit dem Militär künftig in Ordnung ist.
    Özdemir: Das kann man nicht so entscheiden, indem man ein Interview führt beim Deutschlandfunk, sondern man muss es in jedem Einzelfall prüfen. In jedem Einzelfall muss man sich die Frage stellen. Da ist es beispielsweise richtig, gerade weil wir die Verteidigungsetats immer weiter runterführen und runterführen müssen, dass wir uns überlegen, was kann wer in Europa, wie können wir hier so zusammenarbeiten, dass es künftig auch zu einer gemeinsamen Außenpolitik, aber auch zu einer gemeinsamen Sicherheitspolitik in der Europäischen Union kommt. Da sind wir noch ein sehr, sehr großes Stück davon entfernt bislang, dass die Europäische Union auch hier mit einer Stimme spricht. Auch da wünsche ich mir ganz in der Tradition Helmut Kohls und Adenauers und wie sie alle heißen, dass wir eine Bundesregierung bekommen, die sich wieder stärker auch auf europäischer Ebene engagiert.
    Müller: Herr Özdemir, jetzt haben wir Sie aber auch zum Abschluss des Interviews richtig verstanden, wonach die Bundeswehr das gar nicht leisten kann?
    Özdemir: Zum jetzigen Zeitpunkt sind wir, glaube ich, am Limit dessen, was die Bundeswehr im Ausland leisten kann. Aber auch da werden wir sicherlich die Bundeswehr bei dem Umbau weiterentwickeln müssen. Ich wünsche mir eine Bundeswehr, wo die Soldaten so ausgebildet sind nach schwedischem Vorbild, dass sie sich gut auskennen, dass sie was von Kultur verstehen, dass sie was von Konfliktschlichtung verstehen. Alles das gehört in die Ausbildung rein.
    Müller: Ist bis jetzt nicht drin?
    Özdemir: Das ist natürlich drin, aber eben nur für einen kleinen Teil der Soldaten, die wir bislang einsetzen können. Und ich wünsche mir vor allem eine Bundesregierung, die sich tatkräftig engagiert, runter mit Rüstungsexporten, gerade jetzt aktuell nach Saudi-Arabien, hoch mit der Entwicklungshilfe und ein starkes Engagement in den Ländern, in denen wir gefragt sind, beispielsweise durch eine großzügige Visa-Vergabe, beispielsweise aber auch dadurch, dass wir ihnen helfen, dass sie ihre Agrarprodukte in Europa verkaufen können. So verhindern wir die Konflikte von morgen.
    Müller: Grünen-Chef Cem Özdemir heute Morgen im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch, auf Wiederhören nach Berlin.
    Özdemir: Gerne! – Tschüß!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.