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Auszeichnung für Nadia Murad
Der Stuttgarter Anteil am Friedensnobelpreis

Für ihr Engagement gegen sexuelle Gewalt als Waffe in Kriegen erhält die Jesidin Nadia Murad am 10. Dezember den Friedensnobelpreis. Nach ihrer IS-Gefangenschaft fand die heute 25-Jährige über eine einmalige Rettungsaktion Schutz in Baden-Württemberg - und mit ihr 1.000 verfolgte jesidische Frauen und Kinder.

Von Uschi Götz | 09.12.2018
    Die irakische Menschenrechtsaktivistin Nadia Murad bei einem Besuch im Elysée-Palast in Paris im Oktober 2018
    Die irakische Menschenrechtsaktivistin Nadia Murad engagiert sich unter anderem als UN-Sonderbotschafterin für die Würde der Opfer von Menschenhandel (picture alliance/ZUMA Press)
    "Ich bitte Sie, besiegen Sie den IS. Ich bin wegen der Terroristen durch die Hölle gegangen, ich habe gesehen, was sie kleinen Mädchen und Jungen angetan haben. Alle, die diese Verbrechen, den Völkermord begangen haben, müssen vor Gericht gestellt werden, damit Frauen und Kinder in Syrien und im Irak sicher leben können. Diese Verbrechen müssen aufhören."
    Wie viele Jesidinnen wurde Nadia Murad von Terroristen des sogenannten Islamischen Staates verschleppt, gefoltert und monatelang in Gefangenschaft vergewaltigt. Im Sommer 2014 war das, im Nordirak. Doch ihr gelang die Flucht. Und kaum war sie entkommen, begann die junge Frau, öffentlich von den Gräueltaten an ihrem Volk zu berichten. Sie fordert die Welt dazu auf, nicht länger wegzuschauen.
    Die heute 25-Jährige engagiert sich mittlerweile als UN-Sonderbotschafterin für die Rechte von Opfern von Menschenhandel. Dafür wird sie am 10. Dezember in Oslo mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet - gemeinsam mit dem kongolesischen Arzt Denis Mukwege. Die beiden Menschenrechtsaktivisten hätten sich in herausragender Weise gegen sexuelle Gewalt als Waffe in Kriegen und Konfliktgebieten eingesetzt, lautet die Begründung des norwegischen Nobelkomitees.
    Die Fotomontage zeigt die beiden Friedensnobelpreisträger, die irakische Menschenrechtsaktivistin Nadia Murad und den kongolesischen Arzt Denis Mukwege.
    Die Fotomontage zeigt die beiden Friedensnobelpreisträger Nadia Murad und Denis Mukwege (Montage Deutschlandradio / dpa / AFP)
    Einmalige humanitäre Rettungsaktion
    In Oslo dabei sein wird der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Denn Nadia Murad kam 2015 über ein Sonderkontingent der Landesregierung nach Stuttgart. Eine bislang einmalige Rettungsaktion in der Geschichte eines deutschen Bundeslandes. Eine Initiative, die vor rund vier Jahren mit einem Treffen des Ministerpräsidenten mit dem Zentralrat der Jesiden ihren Anfang nahm. Dem grünen Politiker wurde eine Fotomappe vorlegt mit Bildern, die die IS-Terrormiliz zum Teil selbst verschickt hatte:
    "Ich konnte das Buch gar nicht zu Ende anschauen. Das war wie in einem Horrorfilm. Geköpfte Menschen und Köpfe, die da auf der Erde lagen. Unglaublich. Also wie aus dem Mittelalter. Und da war dann klar, da müssen wir einfach etwas machen."
    Allerdings mussten Auswärtiges Amt und Bundesinnenministerium für dieses Vorhaben ihr Einverständnis geben. In Berlin hielt man damals die Idee aus Stuttgart für wenig aussichtsreich. Und doch bekam die baden-württembergische Landesregierung grünes Licht zur Umsetzung ihres humanitären Plans. Auch aus den Reihen der zu dieser Zeit oppositionellen CDU im Landtag kam Kritik. Doch die damals noch grün-rote Landesregierung setzte sich durch, im Oktober 2014 fand eigens ein Flüchtlingsgipfel statt:
    "Auf dem Flüchtlingsgipfel haben damals alle Fraktionen im Landtag zugestimmt. Die Städte haben gesagt, wir machen mit, die Kirchen haben gesagt, wir machen mit."
    Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann
    Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) (imago)
    "Es gab keine Blaupausen"
    Der Religionswissenschaftler Michael Blume ist Referatsleiter in Kretschmanns Staatsministerium. Der beauftragte Blume nach dem Gipfel, exakt 1.000 Frauen und Kinder aus dem Nordirak nach Baden-Württemberg zu holen. Blume hatte damals nur eine Bitte, er wollte sich das Team für diese Mission selbst zusammenstellen:
    "Man weiß, man geht in die Situation, die gefährlich ist, und man braucht Leute, auf die man sich verlassen kann. Es war alles unter Geheimhaltung, also habe ich einzeln die Leute aufgesucht. Beispielsweise die ersten Übersetzerinnen gefunden, indem ich an der Universität Tübingen geschaut habe, wer dort bei den Archäologen übersetzte."
    Eine zentrale Rolle in Blumes Team hatte Professor Jan Ilhan Kizilhan inne. Der Psychologe und Orientalist gilt international als Experte in den Bereichen Transkulturelle Psychiatrie und Traumatologie. Er lehrt in Baden-Württemberg und leitet in Bodenseenähe eine Klinik.
    "Es gab keine Blaupausen. Weder die UN noch das UNHCR hat solche Projekte bisher gemacht."
    Der Traumatologe Jan Ilhan Kizilhan
    Der Traumatologe an Ilhan Kizilhan hilft Terroropfern aus dem Nordirak (picture alliance / dpa / Stefanie Järkel)
    "Wir lassen euch nicht im Stich"
    Im Frühjahr 2015 kamen Blume und Kizilhan sowie eine Beamtin, Dolmetscher und Sicherheitsleute schließlich in der Stadt Dohuk im Norden des Iraks an. Über zwei Millionen Menschen waren zu dieser Zeit in der Gegend auf der Flucht. Viele von ihnen waren in riesigen Lagern untergebracht. Unter ihnen auch Frauen und Kinder, die sich aus der Gefangenschaft des IS befreien konnten oder frei gekauft wurden. Auch Nadia Murad war mit ihrer Schwester in einem dieser Lager:
    "Die Leute waren in diesen Zelten, es lag Schnee, sie hatten keine Heizungen, es war kalt, das ist schon sehr beeindruckend, sehr depressiv. Eine Form von Hilflosigkeit, wie man sie hautnah erlebt. Aber hat mich eher - das kann ich, glaube ich, auch für Herrn Blume sagen - uns sehr motiviert, ja, das ist ein richtiges Projekt. Wir müssen versuchen, den Menschen zu helfen."
    Ihr Auftrag: Sie sollten traumatisierte Frauen und Kinder auswählen, denen sie eine neue Heimat, einen Zufluchtsort und dort medizinische Hilfe und psychologische Betreuung anbieten konnten.
    "Man tut symbolisch etwas, um den Leuten auch zu signalisieren: Wir lassen euch nicht im Stich, wir sind da."
    "Man will in so einer Situation auch etwas Bemerkbares und Kräftiges tun, natürlich auch etwas, dass man nachher auch gestemmt bekommt", begründet Ministerpräsident Kretschmann das Engagement seines Landes.
    Kosten von mindestens 80 Millionen Euro
    Für die mehrjährige Versorgung der Frauen und Kindern rechnete die Landesregierung damals mit Kosten von insgesamt mindestens 80 Millionen Euro. Die humanitäre Aktion fand Unterstützer: Schleswig-Holstein und Niedersachsen nahmen ebenfalls jesidische Frauen und Kinder auf.
    "Aber bei den anderen Bundesländern sind wir da nicht so durchgedrungen, wie wir das eigentlich erhofft hatten. Es haben sich ersten nur wenige Länder daran beteiligt und natürlich in bescheidenerem Umfang, das will ich auch gar nicht kritisieren. Aber es hätten sich schon auch mehr Bundesländer daran beteiligen können."
    Vor Ort im Nordirak begann der Traumaexperte Kizilhan im Frühjahr 2015 mit der Untersuchung der ersten Frauen für das baden-württembergische Sonderkontingent.
    "Es war von Anfang an klar, wir wollten schutzbedürftige Frauen, die in den Händen der IS waren. Es ging uns nicht darum, Familien nach Deutschland zu bringen. Wir sind 2014 davon ausgegangen, dass vor allem bei den Jesiden die Frauen, die vergewaltigt worden sind, auch möglicherweise von ihre Gesellschaft nicht angenommen werden, wenn sie zurückkehren. Weil die Jesiden ein Kastensystem haben und eine sexuelle Beziehung zu Nicht-Jesiden automatisch der Ausschluss aus dieser Gesellschaft bedeutet."
    IS-Kämpfer brach das Rückgrat einer Zweijährigen
    Kizilhan ist als Kurde in der Türkei aufgewachsen. Der Traumaexperte hat viel Erfahrung im Umgang mit Folteropfern und mit in Kriegen sexuell missbrauchten Frauen. Er wusste, dass die Zeit drängt. Denn in den Lagern im Nordirak nahmen sich immer mehr aus der IS-Gefangenschaft zurückgekehrte Frauen das Leben. Er untersuchte die Frauen und Mädchen, schrieb Gutachten und beriet mit dem Team um Michael Blume, wer nach Baden-Württemberg ausreisen darf.
    Diese Kinderzeichnungen zeigen, was die jesidischen Kinder auf der Flucht vor dem IS gesehen und erlebt haben.
    Diese Kinderzeichnungen zeigen, was die jesidischen Kinder auf der Flucht vor dem IS gesehen und erlebt haben. (Deutschlandradio / Veronika Wawatschek)
    Kizilhan hörte sich viele schreckliche Geschichten an: Vor ihm saßen Kinder, darunter ein achtjähriges Mädchen, das von Mitgliedern der Terrormiliz vergewaltigt wurde. Frauen berichteten ihm von unvorstellbaren Gräueltaten. Er erinnert sich etwa an eine junge Mutter:
    "Der Ehemann und die gesamte Familie, auch der Großvater wurden vor ihren Augen erschossen worden, sind exekutiert worden gleich bei der Gefangenschaft. Sie wurde mehrfach vergewaltigt und ihre zweijährige Tochter ist nach mehreren Wochen von Folter durch einen IS-Kämpfer so umgebracht worden, dass er ihr das Rückgrat gebrochen hat. Ein zweijähriges Mädchen."
    Nadia Murat hat überlebt, um zu berichten
    Die Mutter des Kindes lebt heute in Baden-Württemberg. Im Frühjahr 2015 durften die ersten Jesidinnen aus dem Nordirak nach Deutschland ausfliegen. Anfang 2016 landete die letzte Maschine in Stuttgart. Die 1.000 Frauen und Kinder erhielten im Rahmen des Sonderkontigents aus humanitären Gründen eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. In einem der Flugzeuge saß auch Nadia Murad. Dem Traumaexperte Kizilhan und dem Teamleiter Blume war die junge Frau bereits in einem Flüchtlingslager nahe Dohuk aufgefallen. Denn im Unterschied zu den meisten anderen Frauen sprach sie offen über das, was ihr in IS- Gefangenschaft widerfahren war: "Und sie war damals schon fest entschlossen‚ ich will meine Geschichte erzählen."
    "Nadia Murad hatte schon im Irak gefragt, ob sie schweigen muss in Deutschland. Das weiß ich noch, weil ich erst einmal verblüfft war, und dann ihr gesagt hab: Nein, in Deutschland gilt Meinungs- und Pressefreiheit für alle Menschen. Sie hatte das Gefühl, sie hat überlebt, um zu berichten, denn ihr Dorf Kocho ist ja faktisch komplett ausgelöscht worden."
    "Wir haben die am Flughafen abgeholt, die Frauen und die Kinder waren unglaublich still."
    "Nach Deutschland zu kommen, dazu gehört auch Mut"
    Drei Jahre lang begleitete Manuela Zendt eine Gruppe von Jesidinnen auf ihrem Weg in ein neues Leben. In einer schwäbischen Stadt leitete sie eine Hausgemeinschaft, in der die Frauen mit ihren Kindern in ihrer ersten Zeit in Deutschland geschützt untergebracht waren:
    "Sie haben sich stabilisiert, alle miteinander. Es gibt Frauen, die machen auch Therapie, die sie unterstützt. Und insgesamt sagen die Frauen auch, dass es ihnen gut geht. Mit der Traurigkeit, die bleibt, dass ihre Angehörigen entweder getötet wurden oder noch im Irak sind."
    Die kleinen Kinder besuchen längst Kindergärten, die großen gehen zur Schule. Eine Tagesstruktur sei gerade für traumatisierte Menschen besonders wichtig, betont Manuela Zendt. Die Hausgemeinschaft ist mittlerweile aufgelöst, einige Frauen leben in eigenen Wohnungen. Zendt leitet inzwischen ein interkulturelles Mehrgenerationenhaus, hat aber bis heute dadurch Kontakt zu den Frauen.
    "Diese kulturellen Unterschiede sind natürlich groß und dazu noch dieses Trauma, was sie erlebt haben. Also wenn man überlegt, sie kommen aus einem kleinen Ort im Irak, werden gefangen genommen, sind mutig genug, nach Deutschland zu kommen, weil dazu gehört auch Mut. Und dann sich auf ein neues System, auf neue Sprache, neue Kultur einzulassen, da - finde ich - haben die Frauen sehr, sehr viel geleistet. Sie wurden auch unterstützt, aber die Frauen mussten auch mitmachen, und das haben sie getan."
    Angst vor Racheakten begleitet die Frauen
    21 Städte und Gemeinden in Baden-Württemberg haben traumatisierte Frauen und Kinder aus dem Nordirak aufgenommen. Lange Zeit blieben die genauen Aufenthaltsorte geheim, die einzelnen Unterkünfte wurden von Sicherheitskräften bewacht. Denn die Angst vor Racheakten ihrer Peiniger begleitet die Frauen bis heute. Zumal sie nicht sicher sein können, ob diese vielleicht auch als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind.
    Noch immer werden einige der Frauen medizinisch und psychologisch betreut. Menschen in einer so konkreten Weise helfen zu können, das freue ihn immer wieder aufs Neue, sagt Ministerpräsident Winfried Kretschmann:
    "Dass man dadurch, dass man eben so ein Amt hat und da eine gewisse Macht hat, einfach auch mal helfen kann in so einer schlimmen Situation. Wo Menschenrechte nicht nur in Sonntagsreden vorkommt. Sondern, wo man das wirklich auch konkret umsetzt."
    Zu helfen - das ist gerade für den praktizierenden Katholik eine Selbstverständlichkeit. Jesiden sind Kurden, sie gehören einer religiösen Minderheit an und dürfen nur innerhalb dieser Religionsgemeinschaft heiraten. Seit Jahrhunderten werden sie als Minderheit verfolgt, immer wieder kam es auch zu Genoziden.
    Diese Kinderzeichnungen zeigen, was die jesidischen Kinder auf der Flucht vor dem IS gesehen und erlebt haben.
    Beobachtungen jesidischer Kinder auf der Flucht vor dem IS. (Deutschlandradio / Veronika Wawatschek)
    "Deutsche Frauen haben uns sehr geholfen"
    Der IS sieht in den Jesiden Ungläubige, damit rechtfertigt die Terrormiliz ihre menschenverachtende Ideologie. Bis heute fehlt noch von schätzungsweise 1.300 Frauen jede Spur. Der sogenannte Islamische Staat sei längst noch nicht besiegt, das betonen die Jesiden dann auch immer wieder. Die sexualisierte Kriegsgewalt ist dabei jedoch ein großes Tabuthema. Nicht nur unter den Jesidinnen, die meist aus Scham über ihr Martyrium schweigen.
    So auch viele junge Jesidinnen, die in Baden-Württemberg Schutz gefunden haben. Eine junge Frau sagt, sie würde den Ministerpräsidenten, der sie zu sich ins Land holte, so gerne einmal kennenlernen. Sie und ihre Leidensgenossinnen wissen, welches Glück sie hatten und allen sind sie heute unendlich dankbar:
    "Es war für uns sehr schwierig, wir waren alleine. Aber deutsche Frauen haben uns sehr geholfen. Wir sind in die Schule gegangen, in den Sprachkurs."
    Vier Frauen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren berichten von ihrer ersten Zeit in Deutschland. Zwei von ihnen haben mittlerweile einen Hauptschulabschluss. Alle können sich bereits sehr gut auf Deutsch verständigen.
    "Ich wohne jetzt in einer eigenen Wohnung seit zwei Wochen. Wir waren alle zusammen in einem Haus, das war schwierig. Und jetzt Gott sei Dank haben wir jede eine eigene Wohnung."
    Murad - Sprachrohr ihres gepeinigten Volkes
    Die jungen Frauen stammen aus Kocho, einem Dorf nahe der nordirakischen Stadt Sindschar. Aus diesem Dorf kommt auch Nadia Murad, sie kennen sich natürlich alle. Die Stimmung unter den jesidischen Frauen in Baden-Württemberg jedoch ist geteilt, was das Engagement von Nadia Murad betrifft. Einige fürchten, die große Öffentlichkeit um sie könnte den vielen noch vermissten Frauen möglicherweise schaden. Diese Meinung teilen die jungen Frauen aus dem Dorf Kocho allerdings nicht:
    "Es ist gut, dass Nadia spricht überall. Ich finde es toll, weil die nicht wissen, was Jesiden sind. Und wenn ich jetzt sage, ich bin Jesidin, die kennen sofort, ah Jesidin, ja!"
    Nadia Murad ist zum Sprachrohr ihres gepeinigten Volkes geworden. Für ihre Botschaft findet die diesjährige Friedensnobelpreisträgerin weltweit Gehör. Murad in einer Dokumentation des Bayerischen Rundfunks:
    "Der IS hat mir eine Lektion erteilt, ich habe gelernt, was ich zu sagen habe. Manchmal erinnere ich mich an die Zeit vor 2014, als der IS kam. Ich war damals ein Kind, ich war ein Kind. Ich wusste nichts von alledem, aber der IS hat mir beigebracht, was ich heute sage."
    Die UN-Sonderbotschafterin für die Würde der Opfer von Menschenhandel, Nadia Murad (l), und Lamiya Aji Bashar, die zusammen mit Murad mit dem Sacharow-Preis ausgezeichnet 2016 wurde, stehen am 01.12.2016 in Stuttgart (Baden-Württemberg) im Landtag. 
    Das Europäische Parlament verlieh Preise an Nadia Murad (l), und Lamiya Aji Bashar, (picture-alliance/ dpa/ ranziska Kraufmann)
    "Nur Daesh und deren Freunde haben ihre Ehre verloren"
    44 Angehörige von Nadia Murad haben die Terroristen umgebracht, darunter ihre Mutter und sechs Brüder. Die zierliche Frau mit den dunkelbraunen Augen habe nicht mehr viel zu verlieren, sagen Menschen, die ihr nahe stehen. Kaum war sie Ende 2015 in Baden-Württemberg angekommen, begann sie öffentlich darüber zu reden, was ihrem Volk angetan wurde.
    Samantha Power, damals Botschafterin der Vereinigten Staaten bei den Vereinten Nationen, erkundigt sich zu dieser Zeit bei dem Traumaexperten Kizilhan, wer aus dem baden-württembergischen Sonderkontingent für die Rolle einer UN-Sonderbotschafterin in Frage kommen könnte. Denn die UN wollte auf das Schicksal der Jesiden aufmerksam machen.
    "Und da fiel mir auch sofort die Nadia ein. Und sah kam sie auch zur UN und dann entwickelte sie ihre Geschichte bis eben zu dem Nobelfriedenspreis."
    2016 wurde Nadia Murad UN-Sonderbotschafterin für Opfer des Menschenhandels. Im selben Jahr erhielt sie von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates den Václav-Havel-Menschenrechtspreis sowie gemeinsam mit der Jesidin Lamija Adschi Baschar den Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments. Auch im baden-württembergischen Landtag hielt sie eine Rede:
    "Nicht wir haben unsere Ehre verloren, sondern nur Daesh und deren Freunde haben ihre Ehre verloren."
    Dank an Helfer, besonders in Baden-Württemberg
    Daesh, das ist das kurdische Wort für den sogenannten Islamischen Staat. Wann immer die junge Menschenrechtsaktivistin öffentlich auftritt, bedankt sie sich bei allen Helfern, in diesem Fall bei Sozialarbeiten, Dolmetschern und Ehrenamtlichen, die im Rahmen des Sonderkontingents geholfen haben.
    "Ich danke besonders Ihnen, dem Land Baden-Württemberg. Denn wir haben in der Gefangenschaft von Daesh gefürchtet, dass die Welt uns vergessen haben könnte und nicht unterstützen werde."
    Nadia Murad wird juristisch von der Menschenrechtsanwältin Amal Clooney vertreten. Die Ehefrau von Hollywoodstar George Clooney wurde gemeinsam mit Murad 2016 in Stuttgart von Ministerpräsident Kretschmann empfangen. Bei diesem Gespräch ging es vor allem um das Ziel der beiden Frauen, die IS-Terroristen vor den Internationalen Strafgerichtshof in den Den Haag anzuklagen.
    "Wir wissen das ja aus der eigenen Vergangenheit, der eigenen barbarischen Vergangenheit unter den Nazis, wie wichtig es ist, dass die Täter nachher nicht ungeschoren davonkommen. Sondern dass sie vor Gericht kommen und entsprechend bestraft werden. Aber auch das Verbrechen der Weltöffentlichkeit deutlich wird. Denn das dient ja auch immer dazu, in Zukunft so etwas zu vermeiden."
    Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann mit der der Jesidin Nadia Murad (Mitte) und der Menschenrechtsanwältin Amal Clooney
    Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann mit der der Jesidin Nadia Murad (Mitte) und der Menschenrechtsanwältin Amal Clooney, die Murad vertritt (picture alliance/ dpa/ Bernd Weißbrod)
    "Preis an alle Frauen und Opfer sexualisierter Gewalt"
    Die 25-jährige Nadia Murad lebt mittlerweile in den USA und wird in Kürze einen Landsmann, einen Dolmetscher, heiraten. In einem Interview kündigte sie an, auch zukünftig immer wieder Zeit in Baden-Württemberg verbringen zu wollen. Wenn ihr am Montag in Oslo der Friedensnobelpreis verliehen wird, wird auch der Traumaexperte, Professor Ilhan Kizilhan, im Publikum sitzen.
    "Dieser Preis ist an alle Frauen und Opfern sexualisierter Gewalt gegangen. Das heißt, man hat damit endlich auch die Frauen weltweit, nicht nur die Jesiden, gewürdigt und gesagt, das ist ein Thema, dem wir uns auch widmen müssen."
    Deutsches Ausbildungskonzept für den Irak
    Ein Friedensnobelpreis, an dem auch Baden-Württemberg Anteil hat. Das Engagement des Landes wird damit nicht enden. Die Landesregierung hat im vergangenen Jahr das Hilfsprogramm für die jesidischen Frauen verlängert. Die ursprünglich veranschlagten Kosten dafür - 80 Millionen Euro - wurden nämlich bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Was unter anderem daran lag, dass viele zunächst nicht therapiert werden wollten. Auch blieb die Zahl der traumatisierten Frauen, die in Kliniken untergebracht werden musste, weit unter den befürchteten Prognosen.
    Seit knapp zwei Jahren hat Baden-Württemberg auch die Hilfe vor Ort im Nordirak ausgebaut. So wurde in der nordirakischen Stadt Dohuk mit Geld aus dem Land das Institut für Psychotherapie gegründet. Nach deutschem Vorbild werden auf dem Gelände der dortigen Universität Psychotherapeuten ausgebildet. Die Dozenten kommen aus Deutschland, das Ausbildungskonzept haben das Psychologische Institut der Universität Tübingen sowie die Duale Hochschule Baden-Württemberg geliefert.