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"Autokratie überwinden"
Checks and Balances in den USA funktionieren nicht

Die Journalistin Masha Gessen zieht Parallelen zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und US-Präsident Donald Trump. Um deutlich zu machen, dass die US-Bürger bei der kommenden Präsidentschaftswahl eine drohende Autokratie verhindern können.

Von Sabine Adler | 06.07.2020
Trump sagt etwas, Putin steht lächelnd daneben. Davor das Buchcover von Masha Gesen "Autokratie überwinden"
Vor allem das Lügen verbindet Trump und Putin, so die russisch-US-amerikanische Publizistin Masha Gessen (J. Nukari/dpa / Aufbau Verlag)
Was verbindet den amerikanischen mit dem russischen Präsidenten? Ihre Feind- oder Gegnerschaft? Dass sie beide Supermächte führen? Sich gegenseitig verachten oder bewundern? Die in Moskau geborene Journalistin Masha Gessen lebt seit ihrer Jugend in den USA. Als Korrespondentin ging sie für zwölf Jahre in ihre alte russische Heimat zurück. Weil sie dort als offen lesbisch lebende Frau zunehmend angefeindet wurde, kehrte sie Moskau den Rücken und schreibt seit 2013 in New York über beide Länder: die USA und Russland. Was also verbindet für sie Putin und Trump am meisten? Masha Gessen sagt: beider Vorliebe für Autokratien. Vor allem aber das Lügen.
"Vom Temperament her sind beide sehr unterschiedlich, auch in ihrer Herkunft. Als ich über Putin schrieb, habe ich mir seine Art des Umgangs mit Sprache genau angeschaut. Wie er lügt, komplett absurde Dinge von sich gibt und sie dann beliebig zurücknimmt und damit klar macht, dass er sagen kann, was immer er will. Beide lügen extrem unverschämt. Sie wollen gar nicht, dass man ihnen glaubt. Es geht darum, zu zeigen: Mein Mikrofon ist größer. Ich kann machen, was ich will. Und du kannst dich entscheiden: Dich mit der Unwahrheit in meinen Lügen auseinanderzusetzen oder dich auf meine Seite zu stellen, dich meiner Sicht auf die Dinge anzuschließen, die völlig losgelöst von den Fakten ist."
Masha Gessen nimmt die Facetten von Fake News und Lügen beider Staatsoberhäupter genau unter die Lupe. Und sie thematisiert die direkten Folgen: die Erschöpfung der Menschen, deren Intellekt permanent beleidigt wird, und beschreibt die Versuchung, den Kampf gegen das Dauerfeuer der Lügen zu beenden. Doch das hieße aufzugeben. Was nicht in Frage komme.
Die US-Bürger haben Zugang zu allen relevanten Informationen
An dieser Stelle profitieren Leser vielleicht am meisten von der Kenntnis der Autorin, die selbst in einer Diktatur lebte. Trumps Agieren in der Coronakrise vergleicht sie mit der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl 1986, wo den Menschen ebenfalls lebensnotwendige Informationen vorenthalten wurden. Doch im Unterschied zu den Sowjetbürgern damals hätten die Amerikaner heute Zugang zu den Fakten.
Auch deswegen hütet sich die amerikanische Journalistin davor, das politische System der USA mit dem russischen zu vergleichen. Für ihre Analyse der Gesellschaft unter Trump hält sie sich lieber an den ungarischen Soziologen und Politologen Bálint Magyar und dessen Autokratie-Modell.
"Er unterteilt drei Stadien zur Errichtung einer Autokratie: den Versuch, den Durchbruch und die Konsolidierung. Ich sehe uns in dem Stadium des Versuches, eine Autokratie zu errichten, was bedeutet, dass er immer noch zurückzudrehen ist. Zum Beispiel bei den Wahlen im kommenden November."
Konzentriert fasst Gessen zusammen, warum jemand wie Trump ins Weiße Haus einziehen konnte.
"Weil wir seit rund 20 Jahren, seit dem 11.September 2001, quasi in einem Ausnahmezustand leben, in dem Bewusstsein von Belagerung und eines nie endenden Krieges. Dazu die Macht-Konzentration in der Exekutive. Und die Verbindung von Geld und Politik, die zwar schon sehr lange problematisch ist, die aber in den letzten 20 Jahren groteske Formen angenommen hat. Auch mit Hilfe des Supreme Courts, der erlaubt hat, Wahlkämpfe mit unbegrenzt hohen Geldbeträgen zu finanzieren. Die Ausgaben dafür sind so überdurchschnittlich gestiegen, die Kampagnen immer länger geworden. Und schließlich das Komplett-Versagen der Demokratischen Partei, die das alles nicht problematisiert."
Die Institutionen funktionieren erst durch die Gesellschaft
Masha Gessens Buch "Autokratie überwinden" liest sich als Beitrag zu der von Timothy Snyder angestoßenen Demokratie-Debatte. Wie bereits der Historiker nimmt auch sie die US-Bürger in die Mitverantwortung. Deren fast blindes Vertrauen in die "Checks and Balances" amerikanischer Demokratie findet sie irreführend, unbegründet und gefährlich.
"Die Amerikaner hegen einen geradezu religiösen Glauben an ihre Regierungsinstitutionen, in die die Gründungsväter vor 250 Jahre angeblich einen automatischen Reparaturmechanismus eingebaut haben. Dem ist aber nicht so, auch wenn es eine brillante Idee ist. Aber das Land war damals ein völlig anderes. Was aber noch wichtiger ist: Institutionen funktionieren nicht in einem Vakuum, sondern erst durch die Gesellschaft selbst. Somit kann man sie nicht einfach laufen lassen, als wären sie Maschinen. Denn dann erledigen sie nicht ihren Job."
Die USA erlebten nach Ansicht der Autorin vielmehr ein Versagen der Kontrollmechanismen, was Trump, wie auch andere Präsidenten vor ihm, weidlich ausnutze. Die 53-jährige Publizistin fügt mit diesem hochaktuellen Band kein weiteres reines Trump-Buch hinzu, wenngleich es auch für sie genügend Anlass für Kritik gibt. Sein Rassismus, Fremdenhass, seine Frauenverachtung fallen als Stichworte.
Gessen benennt Trumps Steigbügelhalter
Doch sie geht einen Schritt weiter, wenn sie die Verantwortlichen nennt, die Trumps Wahl ermöglicht haben und dank derer er sich so lange im Amt halten kann.
"Letzten Herbst, der eine Ewigkeit her ist, hat der Kongress für das Impeachment-Verfahren eine Reihe von amtierenden und früheren Vertretern des Weißen Hauses vorgeladen, um auszusagen, was das Weiße Haus nicht erlaubte. Was es gar nicht darf. Der Kongress wiederum hat die gesetzliche Macht, Personen, die einer Vorladung nicht folgen, zu inhaftieren. Der Kongress tat das nicht, was umso verwunderlicher war, weil keiner derjenigen, die die Aussage verweigerten, aktuell im Amt war."
Das herausragendste Beispiel ist für Masha Gessen der frühere Sicherheitsberater John Bolton, der zum Zeitpunkt des Impeachment-Verfahrens bereits seinen Job verloren hatte und statt vor dem Kongress auszusagen, lieber ein Buch schrieb, gegen ein vermutlich lukratives Honorar. Sonderermittler Robert Mueller und Justizminister William Barr sind für sie das personifizierte Versagen der demokratischen Institutionen. Der Ex-FBI-Chef Mueller, der die russische Einmischung in den US-Wahlkampf und die Rolle des Trump-Teams dabei untersuchte, hatte sich gescheut, den Präsidenten wegen des Verdachts der Justiz-Behinderung zu einer persönlichen Anhörung vorzuladen.
Justizminister Barr billigte Trumps Verweigerung der Anhörung, wie zuvor schon den von ihm verfügten Einreisestopp für Muslime.
"Im Wesentlichen argumentierte Barr [...], der Präsident besitze die Rechtsgewalt, zu tun oder zu lassen, was ihm beliebe. [...] Damit legte Barr gewissermaßen das juristische Fundament für autokratische Machtausübung."
So wenig sich Gessen scheut, Namen und Hausnummern zu nennen, so schonungslos kritisiert sie die eigene Zunft, die US-Medien: Das Nationale öffentliche Radio, NPR, lege eine völlig unnötige Zurückhaltung an den Tag.
"NPR spricht nach wie vor nicht von Lüge. Aus Rücksicht auf die Würde des Amtes. Das ist ehrenwert, aber ehe sie etwas, was Trump sagt, eine Lüge nennen, muss er schon unglaublich dreist lügen. Und er muss etwas unglaublich Rassistisches sagen, ehe sie ihn als Rassisten bezeichnen. Damit erfahren seine kleineren Lügen und seine weniger starken rassistischen Ausfälle eine Art Normalisierung, was sicher eine unbeabsichtigte Folge ist."
Sie appelliert, nur Worte zu benutzen, wenn auch gemeint ist, was sie bedeuten. Eine Wahl ist in Russland eben keine Wahl, ein Referendum kein Referendum, wenn Alternativen fehlen und das Ergebnis vorher feststeht.
Auf gut 250 Seiten plus einem sorgfältigen Quellenregister entwirft Masha Gessen eine ebenso kompakte wie brillante Analyse der Vereinigten Staaten von Amerika, die weit über die nächste Präsidentschaftswahl hinaus Bestand haben wird.
Masha Gessen: "Autokratie überwinden",
Aufbau Verlag, 299 Seiten, 20 Euro.