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Autorin Yvonne Hergane
Rückkehr nach Reschitza

Die Bilderbuchautorin und Übersetzerin Yvonne Hergane stammt aus Rumänien, kam aber schon als Jugendliche nach Deutschland. Zu den Deutschen Literaturtagen von Reschitza kehrte Yvonne Hergane jetzt nach 37 Jahren in ihre Geburtsstadt zurück. Heimat und Auswanderung sind dort bis heute die großen Themen.

Von Tanya Lieske | 22.06.2019
2 Bücher von Yvonne Hergane
Yvonne Hergane studierte Germanistik, Anglistik und Buchwissenschaft. Seit Mitte der 90er Jahre arbeitet sie als freie Übersetzerin, Lektorin - und als Autorin. (Buchcover Magellan Verlag und Peter Hammer Verlag)
"Ich heiße Yvonne Hergane, ich bin Autorin. Ich lebe in Norddeutschland und ich schreibe und übersetze hauptsächlich, aber nicht nur, Kinder- und Jugendbücher. Und jetzt sind wir gerade am Flughafen in München und auf dem Weg nach Reschitza, das ist meine rumänische Geburtsstadt. Da soll ich auf den Reschitzaer Literaturtagen, also auf den Tagen der deutschsprachigen Literatur zwei Lesungen machen, einmal für Kinder (...) und einmal soll ich eine Kurzlesung machen für Erwachsene aus einem Romanfragment, das gerade in Arbeit ist."
Von München nach Reschitza braucht man etwa sechs Stunden. Der knapp zweistünde Flug bringt Yvonne Hergane nach Temeswar, rumänisch Timisoara, und von dort aus steigt sie in einen Mietwagen.
Die Eltern waren Parteimitglieder
Es ist eine lange Reise - und für Yvonne Hergane ist sie eigentlich noch länger. Es ist 37 Jahre her, dass sie ihre Geburtsstadt zum letzten Mal gesehen hat. Es ist fast genau so lange her, dass sie eine ganze Unterhaltung auf Rumänisch geführt hat.
"Ich stelle mir möglichst wenig vor, ehrlich gesagt, weil ich gehe davon aus, dass sich so ziemlich alles verändert haben wird (...). Ich lasse es eher auf mich zukommen. Wenn man zu viele Erwartungen hat, dann wird man eher enttäuscht werden. Ich lasse mich drauf ein, wie es jetzt eben ist."
Yvonne Hergane hat die längste Zeit ihres Lebens in Deutschland verbracht, wo sie als Übersetzerin und Autorin arbeitet. Doch Kind war sie in Rumänien. 1968 wird Yvonne Hergane als einzige Tochter ihrer Eltern in der Stadt Reschitza geboren. Ihre Mutter und ihr Vater haben gute Berufe im medizinischen Bereich, und sie sind Parteimitglied, aber trotzdem reift irgendwann der Entschluss, das Land zu verlassen. Man schreibt das Jahr 1980, an eine Öffnung der Grenzen ist noch nicht zu denken.
"Oh, an diese Meilensteine kann ich mich erinnern, ich ja verrückt. Diese Kilometer-Anzeigesteine sind weiß mit einer blauen Mütze sozusagen. (…) Mein Vater ist Ende 1980 über die Donau geschwommen. Das darf man sich nicht so vorstellen wie, wir schwimmen mal einfach über einen Fluss. Sondern die Donau war damals die Grenze zwischen Rumänien und Jugoslawien. Strengstens bewacht. Ein Kilometer breit voller Stromschnellen. Wachtposten an den Ufern mit Schießbefehl, mit Stacheldraht unter Wasser, mit einem Sperrkordon entlang der Grenze, wo man eigentlich gar nicht hin durfte. Ja, er hat, denke ich, mehr Glück als Verstand gehabt, er ist geflohen und er hat es geschafft, als einer von ganz ganz wenigen. Er wurde zuerst in Jugoslawien ins Gefängnis geworfen, durfte dann doch nach Deutschland weiter. Damals wurden sehr viele, die über die Donau gingen, wieder zurück geschickt, weil man davon ausging, dass es Spione sind, rumänische Spione. Ja, aber er kam nach Deutschland, und dann durften meine Mutter und ich im Zuge der Familienzusammenführung knapp zwei Jahre später hinterherwandern."
Eine Minderheit spricht die deutsche Sprache
Eine Familiengeschichte aus der letzten Dekade des Kalten Kriegs. Fluchtgeschichten wie diese gibt es viele, immer sind sie hoch dramatisch, doch hat jeder Mensch sie etwas anders erlebt. Für Yvonne Hergane ist die Geschichte ihrer Flucht auch eine Geschichte der Sprache.
Die Familie von Yvonne Hergane kommt aus dem Land der Banater Schwaben, in ihrer Geburtsstadt Reschitza wird noch heute von einer Minderheit der Bevölkerung Deutsch gesprochen.
"Ich glaube, ich bin so eine Art sprachliches Chamäleon. Da kommt es mir natürlich zugute, dass ich zweisprachig aufgewachsen bin und mich immer aufteilen musste. Also mit meinem Vater habe ich immer Rumänisch gesprochen, mit meiner Mutter Deutsch, in dem entsprechenden Banater Dialekt, der hier herrscht. Als ich dann nach Deutschland kam, musste ich plötzlich Schwäbisch schwätzen, weil Augsburg Bayerisch-Schwaben ist. Also ich passe mich lustigerweise immer denjenigen an, mit denen ich mich gerade unterhalte. Und das macht schon was mit einem. Ich glaube, dass es ganz gut ist, wenn man im Gehirn mehrere Links angelegt hat. Sprache ist auch ein Spielmittel. Also für mich ist Sprache auch eine Art, Musik zu machen."
Die Schnecke riecht nach Himmel
Yvonne Hergane hat in Deutschland Anglistik, Germanistik und Buchwissenschaften studiert. Sie übersetzt seit vielen Jahren aus dem Rumänischen und aus dem Englischen. Bekannt wurde sie aber in jüngerer Zeit als Autorin von Bilderbüchern. "Sorum und Anders", "Einer Mehr", "Die Fünferbande", "Borst vom Forst". Sie schreibt und erzählt Geschichten für die allerjüngsten Leser. Oft geht es dabei um die Überschreitung einer Grenze, auch einer Inneren – da muss oder darf jemand was tun, was er oder sie noch nie getan hat. Borst zum Beispiel ist ein Frischling, seine Heimat ist der Wald, aber als er eine Schnecke findet, treibt ihn die Sehnsucht nach dem Meer. Yvonne Herganes Sprache bewegt sich hier knapp unterhalb des Reims, und sie schlägt Kapriolen:
"Die Schnecke riecht nach Himmel statt nach Erde. Nach Warm statt Kalt, nach Weit statt Eng. So fremdschön, weil ... Die Schnecke riecht nach Gegenteil. Borst hat noch nie so etwas Besonderes gefunden. Er lauscht. Es rauscht. Borst tauscht das Ohr. Das Rauschen strömt auf der anderen Seite raus und rollt sich in der Schnecke wieder ein."
Zunächst einmal rauscht der Regen. Yvonne Hergane nähert sich ihrer Geburtsstadt und bemerkt in ihrem Mietwagen eine Reifenpanne. Sie übt sich in Gelassenheit. Im Land ihrer Kindheit gehörte Geduld zur Währung des Alltags.
"Also, eine der prägenden Erinnerungen für jede Kindheit ist einfach, wie schwierig die Versorgungslage war. Also, an Lebensmittel zu kommen (...) es war nicht so, dass man einfach zum Bäcker geht und Brot kauft. Es gab nur Brot wenn es Brot gab, also zwei Mal die Woche oder so. Und dann ging die Kunde durch jedes Stadtviertel, heute gibt es Brot. Und dann sind alle zum Bäcker gerannt und haben sich angestellt, stundenlang. Und wenn man endlich drankam, war womöglich nichts mehr da."
Noch ist das alles total fremd
Die Landstraße beschreibt jetzt enge Kurven, der Fluß Bârzava schlängelt sich durch eine Talsohle. Es ist eine liebliche bewaldete Gegend in frischem Grün. Reschitza liegt am Fuß der südwestlichen Karpaten.
"Also noch ist mir das alles total fremd. Ich könnte jetzt nicht behaupten, dass ich heimatliche Gefühle hege, aber ich bin auch noch so ein bisschen auf Wegfindemodus, glaube ich."
Im Winter kann man in den Banater Bergen Ski fahren. Ansonsten zeugt hier viel von vergangener Größe. Seit dem frühen 19. Jahrhundert wird in Reschitza Metall gefördert und geschmolzen. Die erste Lokomotive, die 1872 auf der Weltausstellung in Wien gezeigt wurde, kam aus Reschitza, Dampfloks werden hier bis 1960 gebaut. Heute bleiben die Hochöfen kalt. Man sieht in der kleinen Stadt viel grau und bröckelnden Putz. Die Straßen sind voller Schlaglöcher und an den Bushaltestellen warten Menschen, die keine Eile haben. Reschitza liegt abseits der glitzernden Metropolen, die es heute in Rumänien natürlich auch gibt.
"Ach guck, daran kann ich mich erinnern, an das Schild. Das ist das Zeichen von Reschitza. Dieses Zahnrad, das steht eben für die Schwerindustrie, die es hier gab."
In Rumänien blüht die deutsche Literatur
Drei ganze Tage wird Yvonne Hergane in Reschitza verbringen, und es wird pausenlos regnen. Wie genau hat man sich das vorzustellen, das jährliche Treffen der deutschsprachigen Autorinnen und Autoren, die sich dem Banat und dem Siebenbürgischen verbunden fühlen? Das sind zwei Regionen, in denen seit mehreren Jahrhunderten deutschsprachige Siedler leben, Herta Müller und Oskar Pastior sind hier geboren. Die sogenannten Banater Schwaben kamen eigentlich aus Süddeutschland und Lothringen über Österreich in das heutige Rumänien. Erwin Josef Tigla ist ein vitaler Endfünfziger, 1961 wurde er in Reschitza geboren:
"Ich bin sozusagen der Vater der Deutschen Literaturtage in Rumänien. Ich habe im Juni 1991 diese Veranstaltung aus der Taufe gehoben sozusagen. Wenn es am Anfang nur ein Versuch war, dann ist es heute eine Veranstaltung, die in ganz Rumänien Anerkennung findet. Sicher, in erster Linie ist hier die Rede von Heimat. Heimatverbundenheit, Heimat verloren, Heimat wiederfinden. Heutzutage kann man wohl behaupten, dass die deutsche Literatur in Rumänien weiterhin blüht durch diejenigen Schriftsteller, die im Lande geblieben sind, aber auch durch diejenigen, die im Ausland leben, und die den Bezug zur rumäniendeutschen Literatur nie verloren haben, wenn sie auch im Laufe der Jahrzehnte ausgewandert sind."
Ein gutes Dutzend Autorinnen und Autoren sind angereist, aus Deutschland, Österreich und aus Rumänien. Rund 40 Zuhörer sitzen im Saal der Deutschen Bibliothek von Reschitza und schnell wird deutlich, dass sie beste Bekannte sind.
Die meisten Themen wiegen schwer
Wer in diesem Jahr zuhört, hat in anderen Jahren als Autor, als Autorin auf dem Podium gesessen. Kein Triumph und keine Niederlage wird hier vergessen. Dieser Raum vergisst nichts, auch nicht einen alten, vor langen Jahren preisgekrönten Schulaufsatz der jüngsten Autorin, die soeben ihr erstes Gedicht vorgelesen hat.
"Diese Inspirationsquelle eine alte Olympiade, als ‚Der Blühende Pfirsischbaum‘ Thema war. Ich weiß nicht, ob Sie nicht damals Schülerin waren. Und ich weiß, es war sehr schwer zu entscheiden, wer da die Prämie bekam."
Veröffentlichtes und Manuskripte liegen auf dem Tisch. Gelesen wird aus Romanen, Lyrikbänden, Essays. Veröffentlichtes und Manuskripte liegen auf dem Tisch. Die meisten Themen wiegen schwer, doch die Stimmung ist heiter. Die Frauen tragen helle Farben und hohe Schuhe, die Herren Schlips. Es gibt Kaffee und Kekse, hin und wieder wird ein Handkuss gesichtet und wer mit einem Zögern den Raum betreten hat, schmilzt schnell dahin. Die Gastfreundschaft ist geradezu überschwänglich, rumänische und deutsche Scherze schwirren durch die Luft.
Erwin Josef Tigla erklärt den Klang der Banater Sprache, die ein wenig an das Österreichische erinnert: "Unsere Ahnen, die der Banater Berglanddeutschen, stammen aus Bayern, aus Tirol, aus Oberösterreich, aus der Steiermark, aus Kärnten, aus Niederösterreich. Also praktisch aus der Region, die man mit den Alpen gleichstellen kann. Unsere Sprache hier im Banater Bergland in Reschitza ist kein Dialekt, sondern eine Umgangssprache. Es ist ein Gemisch der verschiedenen Dialekte, die sich hier im laufe der letzten Jahrhunderte in diesem Raum entwickelt haben. Wie hier in einem Gedicht der Berliner Autorin Edith Ottschofski:
"heumatlich ward’s mir zumute / in temeswareinmal /den leuten halt ichs zugute / den weiden, dem fluss so fahl."
Ein Star auf dem kleinen Literaturfest
Meistens geht der Blick der Anwesenden geht zurück, in der Geschichte und in ihrem Leben. Oft ist die Rede von Herkunft, von der Erinnerung – und auch von Deutschland
"Denk ich an Deutschland, denk ich an nichts. Ich bin bloß der geköpfte Turm der Gedächtniskirche in Berlin. Habe einen grünen Hut auf dem freien Rumpf, und der leere Platz ist das Loch im Strumpf."
Einen Star hat dieses kleine Literaturfest auch aufzuweisen. Es ist die gerade gehörte Dichterin und Übersetzerin Nora Iuga. 1931 wird sie in Bukarest in einen Künstlerhaushalt hineingeboren, ihr Vater war Violonist, ihre Mutter Ballerina. Die heute 88 jährige Nora Iuga ist eine beeindruckende Erscheinung mit langen weißen Haaren und wallenden Kleidern. Für ihre Verdienste um die Vermittlung der deutschsprachige Literatur ist sie bereits mehrfach ausgezeichnet worden.
Nora Iuga hat Oskar Pastior, Herta Müller, Günter Grass, Elfriede Jelinek , ETA Hoffmann ins Rumänische übersetzt. Jedes Jahr reist sie zu den Deutschen Literaturtagen in Reschitza, sie ist ein sehr geschätzter Dauergast. Neben einem Scherzgedicht, das Heinrich Heine aufs Korn nimmt, hat sie ihre eigenen rumänischen Gedichte dabei.
Wer weiß schon, wie viel Wahrheit drin steckt
Dann ist Yvonne Hergane an der Reihe. "Mütterbilder" heißt ein Romanmanuskript, an dem sie arbeitet:
"Ich hoffe meine Stimme hält. Ich finde es sehr mutig, dass Sie mich eingeladen habe, denn kein Mensch hat vorher je ein Wort von dem gelesen, was ich geschrieben habe. Es ist schon sehr mutig jemanden einzuladen, der noch keinen Roman geschrieben hat, und trotzdem darf diejenige hier lesen. Es geht in diesem Buch um vier Frauengenerationen, um vier Frauenfiguren von der Urgroßmutter über die Großmutter, die Mutter bis zur Tochter, wobei die Tochter sozusagen meine Generation dann wäre, die nach Deutschland ausgewandert ist."
Eine Erzählung, eine Lebensgeschichte, mit der alle der hier Anwesenden etwas anfangen können. Aufmerksam hört der Raum zu, man wägt ab, man lobt und kritisiert, man bedenkt sich. Vor allem ist man bemüht, diese Autorin und ihre Familie genau in Reschitza zu verorten. Erwin Josef Tigla:
"Ich liebe besonders alle Berglanddeutschen. Sie ist nämlich nicht aus Reschitz, sie ist hinter dem Wald am Ferdinandsberg zu Hause."
Yvonne Hergane: "Meine Mutter war aus Reschitz und meine Großmutter und meine Urgroßmutter. Natürlich ist dieses Buch angelehnt an meine eigene Geschichte, Es ist kein autobiografischer Roman, das soll es auch nicht sein. Aber natürlich tauchen da als Impulse immer Begebenheiten aus der Geschichte meiner eigenen Familie auf, wobei man der eigenen Erinnerung oder den eigenen Erzählungen ja nie trauen darf. Wahrheit und Wahrnehmung ist immer relativ, und natürlich wenn man über 120 Jahre erzählt, oder Geschichten erzählt bekommen hat von der Urgroßmutter oder der Mutter; wer weiß schon wie viel Wahrheit da drin steckt? Es ist immer relativ.
Eine bucklige Straße führt bergan
Während ihres Aufenthalts in Reschitza bittet Yvonne Hergane einen Taxifahrer, sie in ihre alte Wohnstraße zu bringen. Sie muss selbst ein wenig suchen, es ist lange her. Eine bucklige Straße führt bergan, in einer Seitenstraße stehen mehrstöckige Siedlungshäuser, wie man sie auch in Deutschland in den 1950er Jahren gebaut hat. In eingezäunten Vorgärten wächst Gemüse, Katzen drücken sich scheu in die Ecken. Es regnet immer noch.
"Ein bisschen Herzklopfen ist schon dabei. Hier sind wir im Winter runtergerodelt, wenn Schnee lag. Und immer schön in die Bäume gekracht. Da unten ist so eine Mauer, und wenn du über die Mauer gehüpft bist, bist du natürlich auf der Straße gelandet mit deinem Schlitten. Das war der Gemüseladen und das die Metzgerei, hier hat man sich dann Stunde um Stunde angestellt. Das ist so strange ... Da kommt eine Katze ... und das ist unser Küchenfenster. Die sind sogar zu Hause. Ich glaube das nicht."
Einige Nachbarn schauen neugierig um die Ecke, der kleinen Prozession mit Frau, Fotoapparat und Mikrofon hinterher.
Yvonne Hergane: "Und das war der einzige Zugang mit Auto hier runter, aber mein Vater hat das Auto im Garten geparkt. Oh, guck mal Flieder, das finde ich schön. Da stand ein Pflaumenbaum; und da unten im Tal da wohnte eine Frau, die war als Hexe verschrien. Aber das war eine ganz liebe alte Dame, die sich um die Katzen gekümmert hat."
Das Paket, das war eben mein Vater
Die Nachbarn halten sich in respektvollem Abstand. Yvonne Hergane findet ihre alte Wohnungstür. Sie zögert, verzichtet dann aber doch darauf, anzuklopfen.
Yvonne Hergane: "Es gab einen Anruf, der besagte, ‚das Paket ist angekommen‘. Das Paket, das war eben mein Vater. Man konnte ja auch telefonisch nicht offen sprechen. Aber meine Mutter, die gewusst hat, dass er fliehen wollte, hat das eben verstanden. Ich wusste das nicht, mir wurde wochenlang vorgegaukelt, mein Vater würde seine Mutter an der Donau besuchen ... natürlich wusste ich, dass die meisten meiner Mitschüler zum Beispiel schon ausgewandert waren oder einen Antrag gestellt hatten, aber bei uns war das nie ein Thema gewesen. Aber offensichtlich haben meine Eltern das im Hintergrund geplant, ja, und dann stand ich da.
Die Auswanderung ist bis heute ein Thema unter den verbliebenen Rumäniendeutschen. Nach einem Zensus leben derzeit noch 30.000 deutschsprachige Menschen in Rumänien, rund 800.000 waren es im Revolutionsjahr 1989. Für Erwin Josef Tigla tragen die Deutschen Literaturtage dazu bei, ein kulturelles Erbe zu bewahren:
"Leider geht es zahlenmäßig zurück, leider. Und trotzdem, wir, die wir hier geblieben sind, bemühen uns, das aufrecht zu erhalten, was wir als Identität von unseren Vorahnen als Schatz bekommen haben. Es ist unsere Pflicht. Leider die Jugendlichen ziehen nach Europa aus. Besonders seit 2007 als Rumänien praktisch ein EU-Land wurde. Wir haben Gott sei Dank eine Schicht ältere Generation, aber auch eine Schicht junge Kinder. Was uns fehlt ist die mittlere Generation. Leider."
Zurück in der Deutschen Bibliothek
Eine einzige deutschsprachige Schule gibt es noch in Reschitza. Zu Yvonne Herganes Lesung taucht gleich die ganze Unterstufe auf.
Yvonne Hergane: "Herzlich willkommen und vielen vielen Dank für die Einladung, dass ich zu euch kommen darf. Vor so vielen Kindern lese ich nicht sehr oft, deshalb ist es eine große Freude, dass Ihr alle gekommen sein. Könnt Ihr mich alle verstehen? Ja."
Einge der Kinder, die hier zuhören, sprechen deutsch noch im Elternhaus. Andere lernen Deutsch als Fremdsprache. Nicht alle kommen mit, aber am Ende bildet sich eine begeisterte Schlange vor der Autorin. Yvonne Hergane hat an Autogrammkarten gedacht.
- "Wie hat Dir die Lesung gefallen?"
- "Mir hat sehr viel die Lesung gefallen. Ich glaube, die Bücher sind sehr schön."
- "Wieso sprichst Du so gut deutsch?"
- "Von dem Kindergarten. Und ich spreche zu Hause mit meinem Vater deutsch."
Zurück in der Deutschen Bibliothek. Zum Abschluss des diesjährigen dreitägigen Lesemarathons gibt es deutsche Schlagermusik und rumänischen Rotwein. Man tauscht die letzten Umarmungen und die letzten Frotzeleien aus – bis zum Wiedersehen im Jahr 2020. Dann feiern die Deutschen Literaturtage von Reschitza ihr 30. Jubiläum. Die Vorbereitung, sagt Erwin Josef Tigla nicht ohne Stolz, beginne schon morgen.
Eine Insel in der Industriestadt
Es dauert normalerweise ein Jahr, um viel Programm mit wenig Geld auf die Beine zu stellen. Ein Hauch von Nostalgie umgibt dieses Treffen, die etwas damit zu tun hat, dass die Zeit ihr Werk tut. Niemand kann ganz sicher sagen, wie es weiter gehen wird mit der deutschen Kultur und Sprache in Rumänien. Eine Zuhörerin will unbedingt noch etwas loswerden, sie flüstert verlegen in das Mikrofon:
"Es ist wirklich eine Insel in dieser trostlosen, heruntergekommenen Industriestadt. Eine Insel der Seligen, kann man sagen."
Yvonne Hergane packt ihren Koffer. Diesmal hält der Mietwagen, was er verspricht. Es hat aufgehört zu regnen:
"Es ist natürlich ein bisschen Wehmut bei. Es ist ganz schön, wieder diesen Banater Dialekt zu hören. Es ist bis zu einem gewissen Grad natürlich aber auch fremd. Es ist eben nicht mehr meine Heimat. Das Einordnen und das Sortieren kommt glaube ich viel später."
Yvonne Hergane: "Borst vom Forst"
illustriert von Wiebke Rauers
Magellan Verlag, Bamberg, 2017, 32 Seiten, 14 Euro
Yvonne Hergane: "Sorum und Anders"
illustriert von Christiane Pieper
Peter Hammer Verlag, Wuppertal, 2017, 24 Seiten, 14 Euro
Yvonne Hergane: "Die Fünferbande"
illustriert von Christiane Pieper
Peter Hammer Verlag, Wuppertal, 2015, 24 Seiten, 13,90 Euro
Yvonne Hergane: "Einer mehr"
illustriert von Christiane Pieper
Peter Hammer Verlag, Wuppertal, 2011, 24 Seiten, 12,90 Euro
Dagmar Dusil: "Auf leisen Sohlen. Annäherungen an Katzendorf"
Traian Pop Verlag, Ludwigsburg, 2019, 286 Seiten, 18,50
Nora Iuga: "Gefährliche Launen. Ausgewählte Gedichte"
übersetzt von Ernest Wichner mit einem Nachwort von Mircea Cartarescu
Klett Cotta Verlag, München, 2009, 134 Seiten 14,79
Michèle Mattusch: "Kulturelles Gedächtnis – Ästhetisches Erinnern. Literatur, Film, Kunst in Rumänien"
Frank & Timme Verlag, Berlin, 606 Seiten, 79,80 Euro
Edth Ottschofski: "Im wohlklang unverhohlen"
Gedichte illlustriert von Ilse Hehn
Traian Pop Verlag, Ludiwgsburg 2018, 108 Seiten, 18 Euro
Horst Samson: "Heimat als Versuchung. Literarisches Lesebuch"
Traian Pop Verlag, Ludwigsburg, 2018 / 2019, Band I 532 Seiten, 25 Euro / Band II 486 Seiten, 24,50 Euro