Dienstag, 19. März 2024

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Band Erregung Öffentlicher Erregung
Kurze Zündschnur mit langer Geschichte

Die Band Erregung Öffentlicher Erregung bezieht sich begeistert auf Musik der frühen 80er-Jahren, von Ideal, Nina Hagen und Palais Schaumburg oder Malaria!, aber auch auf aktuelle Bands wie Messer oder Trümmer. Und klingt dabei doch ganz eigenständig.

Von Anja Buchmann | 12.07.2020
    Drei Männer in violetten Overalls sitzen auf einer Fahrbahn. Eine Frau und ein Mann in orangen Overalls stehen daneben.
    Ihre Songs tanzen zwischen Gesellschaft, Politik, Emotion und Banalem: Erregung Öffentlicher Erregung. (Rosanna Graf)
    Musik: "Kreuzen Kompetenzen"
    "Sonnenuntergang über den Ruinen von Klatsch" heißt die zweite EP, die die Hamburg-Berliner Formation 2017 veröffentlicht hat. Also, nach der ersten namens "Farbfernseher" mit vier Stücken, die ebenfalls in ihrem Proberaum aufgenommen wurde. In der Zeit als ‚die beiden Michis‘ - der Gitarrist und der Schlagzeuger – überlegten, eine Band zu gründen. Mit den erwähnten Ideen: Postpunk, DIY und Energie der 80er.
    "Leitspruch war: Hemmungslos und wertvoll. Also Freiheit zu machen, worauf man Lust hat, ohne sich Gedanken zu machen, ist das jetzt aktuell oder ist das cool oder ist das wertvoll auf eine Art und Weise."
    Anja ist studierte Künstlerin, kennt den Schlagzeuger von ihrer gemeinsamen Zeit an der Kunsthochschule in Kassel. Und wurde von ihm gefragt, ob sie nicht mitmachen wolle, als Sängerin.
    "Kunst machen wird dann irgendwann... naja, war für mich sehr anstrengend, weil ich ständig in einer starken Kritik mit mir selber war. Und ist das jetzt gut, und dann brauche ich irgendwie diesen Unterbau, um, um das um dem Output sozusagen, dem irgendwie eine Wichtigkeit zu geben. Und bei den beiden innerhalb dieser Band gab es das nicht, da war das sozusagen verboten. Und das das fand ich total toll. Und das hat mir wieder so viel Spaß an einem kreativen Schaffen gegeben. Was ich davor so ein bisschen verloren hatte in dieser Kunstwelt."
    Musik: "Flamingo und Drogen / Anthropozän"
    Sie wird gern mit der frühen Annette Humpe in ihrer Zeit bei Ideal verglichen, Sängerin Anja von Erregung Öffentlicher Erregung: Das leichte Überschlagen der Stimme zum Ende einer Phrase, das Rufende, manchmal Wütende. Dabei hat sie sich nicht bewusst daran orientiert.
    "Vom Gesangs-Style habe ich mich, glaube ich, eher an so britischen Frauen Punk Bands tatsächlich orientiert. Und ich kann mir vorstellen, dass die Annette das bestimmt auch gemacht hat."
    Philipp: "Ich glaube, dass es bei Anja so dadurch, dass sie da nicht eh schon herkamen von diesem Musik-Ding..."
    Philipp "...das, was man so im Hinterkopf hat, im kulturellen Gedächtnis und das hat sich dann so als passende Schablone raus kristallisiert."
    "Wo soll ich hin?"
    Ihre erste EP haben die fünf 2015 im Proberaum aufgenommen, um sie dann auf die Netz-Plattform Bandcamp zu stellen. Auch ihre erste Hit-Single "Wo soll ich hin" war da zu hören. Und die fiel dann Benito, dem Schlagzeuger bei Der Ringer auf. Er teilte ihre Musik in seiner Hamburger Community und so sprang auch das Label Euphorie Records darauf an, bei dem sie immer noch ihre Musik veröffentlichen.
    "Wo soll ich hin" jedenfalls hat zu Recht große Aufmerksamkeit bekommen: Ein Song, der sich auf einem ostinaten Gitarren-Picking, gleichmäßig pulsierendem Schlagzeug und dezentem Bass langsam ausbreitet, dabei immer dringlicher, fragender und verzweifelter wird. Ein überzeugendes Zusammenspiel von Musik, Text und Atmosphäre. Textschreiberin Anja:
    "Ich dachte: Es gibt so die Wahrheit in der Welt, aber dann habe ich rausgefunden: Nee. Irgendwie scheint es das nicht zu geben. Es gibt nicht klar schwarz und weiß, sondern es ist alles gemacht. Die Menschen, die Gesellschaft, die Systeme können sich es im Prinzip gestalten, wie sie das möchten. Dann ist die Aufgabe da und ist auch sehr groß, vielleicht ist auch eine Überforderung dann da, die man fühlt, weil: Ich kann halt sagen: Wie möchte ich die Welt gestalten?"
    Selbst wenn nicht jede und jeder diese philosophischen Gedanken beim Hören des Liedes im Kopf hat: Das grundsätzliche Gefühl von Überforderung bei einer persönlichen Lebens-Sinnsuche vermittelt sich direkt.
    "Es gibt kein richtig oder falsch, es gibt keine Toleranz oder Gewalt - dieser Gewaltbegriff, der war dann bei mir auch so wichtig, und ich habe überall gesehen, dass man sehr schnell auch in den kleinsten Sachen Gewalt anderen Menschen zufügt, auch wenn es nur in ganz kleinen Sachen ist, dass es da total gilt, das zu sehen und zu versuchen, eben nicht gewaltvoll, sondern tolerant zu sein und nicht immer sein eigenes. Auch anderen aufzudrücken, sondern einfach die Freiheit im Auge zu behalten. Umso eine große Sphäre dreht sich dieser Text, und ich versuche immer sehr komplexe Sachen in sehr einfache Worte zu packen, und wenn mir das gelingt, finde ich es etwas ganz tolles ist."
    Musik: "Wo soll ich hin"
    Rock et cetera im Deutschlandfunk mit einem Portrait der Berlin-Hamburger Band Erregung Öffentlicher Erregung. Übrigens: Eine politische Band? Ja und nein.
    Zwischen Politischem und Banalem
    "Ich glaube, es ist ein Thema in der Band, in dem Maße, wie es halt für uns persönlich eins ist, weil eigentlich viel von dem, was wir machen, schon auch ganz schön diese Biographien dann in sich drin hat. Was halt so bei uns in den Leben passiert als Themen, was man so gelesen hat, das kommt da alles in den Texten vor, die Lebensumstände formen auch wie die Musik gemacht wird. Ich denke schon, dass wir alle sagen würden, dass es wichtig ist, dass man eine Position beziehen kann und dass man sich für Positionen einsetzt, dass man eben nicht falsch verstandene Toleranz gegenüber allem möglichen übt, damit es recht bequem ist und man sich nicht kümmern muss. Das ist so eine Grundhaltung, die ist dann da einfach auch mit drin, weil es so ein wie so eine Art Querschnitt, ein Spiegel ist."
    Anja: "Zum Beispiel Schlagzeug-Michi und ich, wir sind halt die Feministinnen, und das ist uns wichtig, ist so ein wichtiges Thema für uns. Jeder hat einfach Themen, die sind wichtiger. Gleichberechtigung einfach, das ist für mich einfach ein wichtiges Thema. Also nicht nur zwischen Mann und Frau, sondern zwischen irgendwie allen Menschen. Und ich versuche, das schon auch in Texten unterzubringen und ich finde, wir machen so Musik, wo dieser Geist dessen einfach drin ist, hoffe ich."
    Musik: "Ich tanze rüber"
    "Ich glaube, da legen wir dann, oder legt Anja auch immer Wert darauf, dass es immer auch wieder mit dem Banalen quer gekreuzt wird, damit es nicht so abhebt und nicht diese Schwere bekommt."
    Und so tanzen die Songs von Erregung Öffentlicher Erregung zwischen Gesellschaft, Politik, Emotion und Banalem.
    "Weil das auch eine Ebene ist, auf der man über diese Dinge nachdenken kann. Dadurch kriegt es seine praktische Komponente, und es sollen nicht um eine nur schöngeistige Überlegung gehen oder nur eine politische Forderung, sondern es hat eben immer auch etwas damit zu tun, wie man da drin dann lebt und wie man es halt macht. Frühstücksei spielt halt im Leben genauso eine Rolle wie die Frage: wie wollen wir denn hier unseren Haushalt führen und unsere Rollen bestimmen? Und das fällt dann alles so zusammen.
    Das gilt auch für ihre EP "TNG" aus dem Jahr 2018 – der Titel knüpft an "The Next Generation" der Serie Startrek an. Auch wenn die Verbindungen nicht sehr offensichtlich sind.
    "Captain Picard und Captain Janeway, Star Trek, ist eine von den mega Erzählungen, die so ne ganz pure Utopie sind. Und wenn man da schon mal so verloren war, dann ist das so ein bisschen ein Anker, wo man denkt: Es kann ja doch schön sein und am Ende Abspann und alles. Daher kommt es, glaube ich, so ein bisschen."
    "Tatsächlich eine Serie, die sich damit beschäftigt, was den Menschen ausmacht. Da gibt es die oberste Direktive, das sind dann so moralische Regeln, und dann sind sie ständig in dem Konflikt: An die muss ich mich ja halten, aber auf einmal gibt es eine Situation: Vielleicht ist es dann besser, mich doch nicht dran zu halten. Das find ich das Spannende an dieser Serie. Also Freiheit und Bürger in Uniform."
    Musikalische Entwicklungen
    Musik: "Lügen und Archive / Was das was das"
    "Es hat sich ein bisschen aus einer sehr schräbbeligen, brodelnden, krachigen Sache entwickelt."
    - Keyboarder Philipp von Erregung Öffentlicher Erregung über die Veränderungen im Klangbild der Band von den Anfängen bis heute -
    "Das hat sich so ein bisschen gelegt, das ist da noch irgendwo, und das macht uns immer noch Spaß. Aber es haben sich andere Sachen noch dazu gesellt, die wir dann auch entdeckt haben und dass es dann auch mal schöner klingen darf oder oder dann fast schon balladiger werden kann oder getragener und und sphärischer. Und da sind Dinge dazugekommen. Ich glaube, es ist auch so viel ‚songwritiger‘ geworden. Und zu dieser Farbfernseher-Zeit..."
    - Also die erste EP aus dem Jahr 2015 -
    "...war das ja noch noch viel mehr rohe Energie, gib ihm und dann Aufnahme drücken, stopp drücken, auf laut drehen und fertig. Also wenn es gut läuft und ich Recht habe, dann ist es vielleicht ein bisschen versierter gewonnen."
    Dazu trug auch bei, dass die EP "TNG" in einem richtigen Studio und nicht im Proberaum aufgenommen wurde. Nach dem Gewinn des Hamburger Musikpreises "Krach & Getöse" konnten sie in das renommierte Studio im Hamburger Stadtteil Rothenburgsort gehen. Bassist Laurens:
    "TNG war die erste im Studio aufgenommene EP. Da haben wir dann im Endeffekt eine Woche Studio im Clouds Hill Studio gewonnen, also da waren wieder konfrontiert mit dem krassesten Studio Norddeutschlands, wahrscheinlich. Und mussten da so eine Idee entwickeln, was wir denn machen wollen und wie es klingen soll."
    Und so klingt die Erregung (wie sich die Band selbst liebevoll abkürzend nennt) schon auf TNG weniger schrammelig, klarer, die einzelnen Instrumente sind besser heraus zu hören. Der klare Einschlag in Richtung 1980er Jahre bleibt aber, ebenso wie die stoischen Rhythmen, das Krautrockige und der lakonische, halb gesprochene Gesang.
    Musik: "Florales"
    Im Watt‘n Sound Studio
    Ihr neues und erstes offizielles Album nach diversen EPS, "EÖE", haben sie wieder in einem professionellen Studio aufgenommen - nicht wie früher in ihrem Probenraum. Und haben dennoch darauf geachtet, dass die Örtlichkeit und Technik nicht dominierend war:
    "Also das Studio heißt Watt en Schlick." "Watt‘n Sound!"
    "Oh Gott, ja Watt‘n Sound."
    Watt en Schlick gibts auch, ist aber ein Festival in Niedersachsen. Watt‘n Sound wiederum ist ein Studio in Emmelsbüll-Horsbüll – einem Örtchen in Nordfriedland, nahe der dänischen Grenze.
    "Zusammen mit Johannes und Sebastian, die das produziert haben. Das ist ein total verlassenes, so ein kleiner Hof, nicht viel außen rum. Uns war es wichtig, eben jetzt nicht in so einem Full on High Class Studio zu gehen. Also wir wollten so ein bisschen, glaube ich, limitierte Möglichkeiten haben und so eine konzentrierte Zeit und eine schöne Zeit zusammen haben."
    Zudem ein Ort mit einer interessanten Geschichte, wie Anja erzählt:
    "Auf diesem Hof wohnt Meike, die verheiratet war mit dem ehemaligen Bassist von Rio Reiser, der leider verstorben ist. Und er hatte eben auf diesem Hof, die haben der zusammengewohnt, und er hatte sich da eben auch ein kleines Studio eingerichtet, hat der Musik gemacht, und nach seinem Tod haben viele Freunde dann gesagt: Meike, mach das doch weiter, das ist so ein toller Ort, gib das Studio da nicht nicht auf. Und dann hat Meike eben gesagt ja, dann, dann mache ich das weiter, und viele haben ihr denn geholfen, das auch noch ein bisschen auszubauen. Und Meike lädt auch so ein bisschen dann Leute ein, die sie gut findet oder diese kennt, um dann da in diesem kleinen Studio aufnehmen zu können."
    "Wir wollten so ein bisschen was, was uns schon die Möglichkeiten gibt, da ordentlich zu produzieren. Aber was auch nicht einen so erschlägt mit seiner Studio-Haftigkeit und dann diese Einschüchterung, diesen Rückschlag so sehr da reinbringen sondern wo wir so ein bisschen das Gefühl haben können, dass wir das hier machen und das Ding nicht so uns fährt, sondern wir das fahren. Und da war das eigentlich der ideale Ort dafür. Wir sind dahingefahren und haben uns das da eingerichtet und hatten da eine ganz hervorragende, sehr produktive Zeit. Das war wirklich schön."
    Musik: "Vermessen"
    "Vermessen", die erste Single vom Album "EÖE" der Band Erregung Öffentlicher Erregung. Eigentlich sollte es schon im Mai erscheinen, Corona bedingt wurde die Veröffentlichung auf den September verschoben. 20 Tracks finden sich darauf, allerdings nicht alles Songs, sondern auch kurze Interludes: Das klingt nach kurzen Improvisationen auf der Gitarre, nach Soundschnipseln aus Philipps Synthies, ein paar verhallten Worten von Anja.
    Musik: "Interlude Biosphären"
    "Das Album ist er wirklich so, dass es von Anfang bis Ende praktisch widerspiegelt, wirklich wie unsere Musik entsteht und wie wir arbeiten. Und zwischen den Liedern sind auch so Teile, die eine Verbindung zwischen den Liedern schafft, musikalische Stücke, die auch teilweise ganz anders sind und so ein bisschen widerspiegeln, was alles eigentlich musikalisch so einfließt in die Musik, die wir dann machen."
    Denn die Stücke entstehen durch die verschiedenen Wohnorte Hamburg und Berlin zumindest in den Anfängen in Musik-Ordnern in einer Internet-Cloud, auf die alle Bandmitglieder Zugang haben und wo sie Dinge hinzufügen oder verändern können – bis dann irgendwann die Probe im gemeinsamen Proberaum in Hamburg stattfindet. Und so ist auch eine weitere Singleauskopplung des neuen Albums entstanden: "Kein Bock auf Frühstück".
    "Es war wohl eine etwas depressive Stimmung, und das beschreibt einfach so eine Stimmung am Morgen. Und auch, "das Schlimmste, was ich zu mir nehmen kann, bin ich" also, dass man selbst meistens der Grund ist, auch, warum es dann einem nicht so gut geht. Oder dass man sich selbst oft in Spiralen hineinbegibt, in denen es einem einfach nicht gut geht. Und ich habe manchmal depressive Phasen, in denen ich einfach dann weiß: ich darf mich jetzt selber nicht so ernst nehmen. Und ich darf diesen Zustand nicht so ernst nehmen, weil der ist einfach ein grundnegativer. Und dazu kommt eben dann so schlechte Laune. Morgens ist es eh bei den meisten Leuten nicht so gut und auch so inspiriert an anderen - zum Beispiel Philipp hasst Frühstück, er will morgens immer nur Kaffee und sonst nichts. Und ich frühstücke eigentlich gerne.
    Musik: "Kein Bock auf Frühstück"
    "EÖE" ist ein Album, auf dem Themen wie Älterwerden, Langeweile, Selbstbezogenheit, Blaue Zähne und gelbe Finger, Hohe Schuhe, Feminismus oder Jugenderinnerungen verhandelt werden. In der Band typischen Mischung von Banalem und Philosophischem, musikalisch noch ein bisschen weniger rau und schräbbelig als in den Anfängen, mit differenzierteren Gitarren- und Basslinien, spannenden Synthie-Klängen und dennoch nicht glattpoliert. Am 4. September wird es veröffentlicht, das erste richtige Album von Erregung Öffentlicher Erregung. Und im Herbst soll es auf Tour gehen. Hoffentlich.
    "Die Hoffnung stirbt zuletzt. Aber das Album, denke ich, das kann man schon sagen, das bringen wir jetzt auf jeden Fall raus."
    Kurze Zündschnur mit langer Geschichte.
    "Das haben wir jetzt einmal verschoben, weil wir die Tour verschieben mussten und wollten das so gemeinsam haben."
    Die Band Erregung öffentlicher Erregung.
    "Aber jetzt glaube ich, will auch keiner mehr warten. Sonst liegt es ja so ewig rum, und wir freuen uns sehr, dass wir es haben."
    "Jetzt muss es auch mal mit der Welt geteilt werden."
    Musik: "Jugendlich / Langeweile"