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Bayerischer Lehrerverband: Objektive Benotung ist ein Mythos

"Wir brauchen eine zuverlässige Rückmeldung an die Kinder", sagt Klaus Wenzel, Präsident des Bayerischen Lehrerverbands. Besser als Noten eigneten sich aber ausformulierte Bewertungen mit Analyse der Stärken und Schwächen eines Schülers. Auch die Hochschulen könnten Studienanfänger danach auswählen.

Klaus Wenzel im Gespräch mit Manfred Götzke |
    Manfred Götzke: Wie gerecht sind Schulnoten? Motivieren sie Schüler, mehr zu tun, oder forcieren sie nur unnötig den Leistungsdruck? Diese Fragen beschäftigen Lehrer und Eltern eigentlich permanent, und manchmal auch die Bildungspolitik. Die NRW-Landesregierung zum Beispiel will Schulnoten auch in der dritten Klasse demnächst abschaffen. Der Bayerische Lehrerverband, der geht noch ein bisschen weiter: Dessen Präsident, Klaus Wenzel, würde auf Schulnoten am liebsten ganz verzichten. Guten Tag, Herr Wenzel!

    Klaus Wenzel: Guten Tag, Herr Götzke!

    Götzke: Herr Wenzel, Sie halten Schulnoten grundsätzlich für ungerecht, warum?

    Wenzel: Weil sie dem einzelnen Kind nicht gerecht werden, weil sie ja nur aussagen, in welcher Position ein Kind innerhalb der Klasse ist . Also die Note zwei heißt ja nicht automatisch, das war eine gute Leistung, sondern es bedeutet lediglich, du bist innerhalb dieser Klasse an der zweiten Stelle oder in der Gruppe derer, die die zweite Position einnehmen. Wir müssten uns angewöhnen als Pädagogen, das zu tun, was Pestalozzi gesagt hat, nämlich immer nur ein Kind mit sich selber zu vergleichen. Wir vergleichen Paul mit Emma und wir vergleichen Emma mit Sofie, und wir müssten Paul mit Paul vergleichen, also: Was kann den Paul jetzt im Februar 2012, was er im September 2011 noch nicht gekonnt hat? Und dazu brauche ich dann aber keine Noten, sondern das könnte ich ganz gut beschreiben, und ich könnte auch gleich ein paar Tipps mit formulieren, wie er denn mit den Schwächen umgehen soll, die ja sicher auch noch zu beobachten sind.

    Götzke: Und da können wir gleich noch mal drauf eingehen. Mich interessiert aber Ihre Kritik, dass Noten relativ und subjektiv seien. Also klar ist das in mündlichen Fächern oder Fächern mit mündlichem Anteil sicher der Fall. Dass sie aber grundsätzlich subjektiv oder relativ sind, das würden doch die meisten Kollegen von Ihnen deutlich von sich weisen.

    Wenzel: Na ja, also, ich glaube, wenn sie sich intensiv damit beschäftigen, dann werden sie es zumindest mal etwas ernsthafter reflektieren. Ich war ja selber 34 Jahre Lehrer, und mit jedem Jahr bin ich unsicherer geworden, als ich benoten musste, weil ich natürlich ein Mensch bin mit allen Schwächen, die einen Menschen auszeichnen. Das heißt, wir machen am Tag dutzende Male Beobachtungsfehler, und aus diesen Beobachtungsfehlern werden da auch Bewertungsfehler. Und wir sind befangen, auch in unserem eigenen Wertesystem, das heißt, es sind uns bestimmte Dinge wichtiger und welche unwichtiger, und das ist dann eben der Unterschied zwischen den Kollegen Müller und Schmitt. Dazu gibt es Untersuchungen von Ingenkamp, da wurden Aufsätze, ein und derselbe Aufsatz wurde von 20 verschiedenen Lehrern korrigiert, und es kamen alle Noten zwischen zwei und fünf raus. Also es gibt viele Belege, die auch gerade erfahrene Lehrerinnen und Lehrer stutzig machen sollten. Wir müssen uns verabschieden von dieser Selbstsicherheit und von diesem Mythos, als seien Noten objektiv.

    Götzke: Aber wollen Kinder nicht auch wissen, wo sie stehen?

    Wenzel: Absolut. Also das ist eine ganz wichtige Frage: Wir brauchen eine zuverlässige Rückmeldung an die Kinder. Und das ist eben mit der Note zwei nicht, das gelingt mit der Note zwei oder drei oder vier nicht. Wenn ich in Deutsch die Rückmeldung gebe, du hast in der Rechtschreibung wesentlich aufgeholt die letzten vier Monate, mir gefällt, wie du in den Aufsätzen deine Gedanken formulierst und artikulierst, und ich beobachte, dass wir in Grammatik noch einiges zu tun haben, dann ist das etwas mehr Information als nur die Note zwei oder drei. Also nochmal: Kinder wollen Rückmeldungen, sie wollen natürlich vor allem ermutigende Rückmeldungen. Es heißt ja auch gelegentlich, Kinder wollen Noten - das stimmt nicht, Kinder wollen Einser und Zweier. Dieser Einser und Zweier ist eben eine Bestätigung, ich bin gut dabei. Und genau das müssen Kinder ganz oft erfahren. Wir Erwachsenen - egal ob Lehrer oder Eltern - müssen uns daher viel häufiger als Schatzsucher betätigen und nicht so sehr als Fehlerfahnder profilieren.

    Götzke: Diese Erklärungen, die Sie gerade schon so ein bisschen erläutert haben, die gibt es ja zum Beispiel schon bei Arbeitszeugnissen. Das führt aber dort letztlich oftmals dazu, dass bestimmte Floskeln eigentlich nur ein Ersatz für Noten sind und auch für bestimmte Noten eigentlich stehen.

    Wenzel: Also da müssen wir uns wirklich verabschieden von der Vorstellung, dass pädagogische Zeugnisse in der Schule gleichzusetzen sind mit Arbeitszeugnissen. Das hat ja juristische Hintergründe, also ich darf eben nicht reinschreiben, der Kollege hat ein Alkoholproblem, sondern ich umschreibe das dann, indem ich formuliere: Er hat viel zur Gefälligkeit in der Firma beigetragen. Und jeder Chef weiß, aha, ich weiß, wie ich dran bin. In der Schule ist das ja was ganz anderes, da heißt die Formulierung "Thomas bemühte sich intensiv" etwas sehr Positives. Im Arbeitszeugnis heißt, er bemühte sich: Er ist ziemlich plemplem, aber er tut wenigstens ab und zu mit. Also bitte nicht die Arbeitszeugnisse, die eine ganz andere Funktion haben, als Schulzeugnisse vergleichen mit dem, was hier in der Schule passiert.

    Götzke: Spätestens wenn Abiturienten sich für einen Studienplatz bewerben, die ja heute fast immer zulassungsbeschränkt sind, braucht die Universität klare, objektive - oder vermeintlich objektive - Auswahlkriterien. Wie kommt man da ohne Noten aus?

    Wenzel: Ja, sie haben ja gerade schon relativiert, vermeintlich objektive. Also die sind eben nicht objektiv. Ich glaube, wir werden über kurz oder lang, wahrscheinlich eher über kurz, zu einer Situation kommen, bei der die Universitäten sich ihre Studierenden dann selber aussuchen. Das heißt, die Noten des Zeugnisses geben ja eine Groborientierung. Also ich will ja gar nicht verleugnen, dass es durchaus Annäherungswerte gibt. Aber sie sagen eben ganz wenig aus und sie sind eben nicht objektiv. Also ich vermute, dass wir in fünf, spätestens zehn Jahren die Situation haben, dass die Universitäten sich diejenigen, die sich um einen Studienplatz bewerben, ganz genau unter die Lupe nehmen. Das hat auch durchaus Vorteile, man kann dann schon auch Hinweise geben - ich habe den Eindruck, das ist jetzt nicht genau das Richtige, wofür du dich entschieden hast -, und die Abiturzeugnisse werden an Bedeutung verlieren.

    Götzke: Und einige Universitäten machen das ja jetzt schon.

    Wenzel: Genau.

    Götzke: Der Präsident des Bayerischen Lehrerverbandes, Klaus Wenzel, hält Schulnoten für ungerecht und subjektiv und würde sie am liebsten abschaffen. Danke schön!

    Wenzel: Vielen Dank für Ihr Interesse, Wiederhören!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.