Der neue Roman von Dirk Kurbjuweit beginnt etwas überraschend mit dem Ende der Geschichte: Der Vater des Erzählers hat den Stalker umgebracht, der der Familie das Leben zur Hölle machte:
"Ich wollte ja keinen Krimi schreiben und Spannung war nicht der Effekt, auf den ich gesetzt habe oder den ich unbedingt herstellen wollte. Natürlich ist es auch schön, wenn ein Buch spannend ist. Ich wollte aber keine billige Spannung entstehen lassen. Deshalb habe ich gedacht: Naja, dann bringe ich den Ausgang direkt an den Anfang, dann weiß der Leser so ungefähr, was passiert. Und dann erfährt er die Geschichte, warum es passiert ist, erst danach und dann ist ja trotzdem immer noch Raum für Überraschungen."
Obwohl Kurbjuweit also das Ende vorwegnimmt, ist der Roman tatsächlich alles andere als langweilig. Ausgehend vom im Gefängnis sitzenden Vater, erzählt er dreierlei: eine typische Stalking-Geschichte (übrigens grundiert durch autobiographische Erfahrungen), eine typische Ehe-Entfremdungs-Geschichte und eine typische Vater-Sohn-Geschichte. Alles zusammen ist wiederum nicht so typisch.
Der Erzähler, Randolph Tiefenthaler, hat alle Insignien eines gelingenden bürgerlichen Lebens: Eine schöne, kluge Ehefrau, zwei Kinder und Erfolg als selbständiger Architekt. Als dann auch noch die Eigentums-Altbauwohnung in Berlin dazukommt, könnte das Glück perfekt sein. Doch da ist der Nachbar von unten, Herr Tiberius, der erst nur Kuchen auf die Fußmatte stellt, später aber Tiefenthalers Frau erotische Gedichte schreibt und die Eltern beschuldigt, ihre Kinder zu missbrauchen. Und obwohl sie sich dagegen stemmen, entgleitet den Tiefenthalers die Ungezwungenheit ihres Familienlebens:
Ich habe erst gar nicht gemerkt, dass ich begonnen hatte, meine Kinder nicht mehr mit größter Selbstverständlichkeit meiner Nacktheit auszusetzen. Ich zog mich im Bad aus, und ich zog mich im Bad an. Beim Kuscheln achtete ich darauf, dass ich meine Kinder nicht dort berührte, wo ich sie ohnehin niemals berührte, außer beim Waschen, aber auch das machte ich nicht mehr. Es ist furchtbar, aber ich kann es nicht anders sagen: Beim Waschen meiner Kinder stand in gewisser Weise Herr Tiberius an meiner Seite und sah mir auf die Finger.
Die Familie schaltet Polizei, Anwälte, Sozialamt ein, um sich gegen den Stalker zu wehren, doch niemand kann eingreifen, solange Herr Tiberius nicht physische Gewalt anwendet.
"Für mich ist es eine Geschichte über bedrohte Bürgerlichkeit. Der Randolf Tiefenthaler ist ein Aufsteiger, der aus relativ einfachen Verhältnissen kommt und hat sich hoch gearbeitet, ist Architekt und relativ wohlhabend. Er hat eine Frau, er hat Kinder und es geht ihm eigentlich gut. Aber diese Bürgerlichkeit ist ja auch immer prekär, die ist bedroht. Er hat auch keine Sicherheit aus seiner Familie. Ich wollte darüber erzählen, wie das ist, wenn in eine solche saturierte Welt eine Bedrohung eindringt und alles verändert. Ich glaube, dass das ja für bürgerliche Welten ein Grundproblem ist, dass man sich nie sicher sein kann, also anders als zum Beispiel bei einer adligen Familie. Da hat man eine tausendjährige Geschichte und den Familienzusammenhalt. Der Bürger ist in seiner Existenz eigentlich immer bedroht, auch in seiner emotionalen Welt und das war eigentlich das, worüber ich erzählen wollte."
Sagt Dirk Kurbjuweit. Eine Möglichkeit, dem Stalker zu entkommen, wäre ein Umzug, aber diesen Gedanken verwerfen die Tiefenthalers: Sie wollen nicht klein beigeben.
Heute denke ich, dass dies der Fehler meines Lebens war. Ich hätte unsere Wohnung hergeben sollen, mein Vater säße dann jetzt nicht im Gefängnis, und wir als Familie hätten nicht einen Mord auf dem Gewissen. Wir hätten den Kampf gegen Herrn Tiberius verloren, zu Unrecht verloren, doch was machte das schon? Ich hänge nicht der männlichen Ideologie an, dass Niederlagen ausgeschlossen sind. Gleichwohl wollte ich nicht weichen. Ich war da schon tief in den Gedanken verstrickt, dass einer, der im Recht ist, dieses Recht auch bekommen muss, ein Kohlhaas'scher Wahn.
In diesem Wahn fällt Randoph Tiefenthaler schließlich nur noch Selbstjustiz ein. Er ist der Sohn eines Waffennarrs, weshalb ihm der Vater bis heute fremd ist. Die Waffen des Vaters hat der Sohn in der Kindheit als permanente potentielle Bedrohung wahrgenommen. Und diese Angst trägt der Sohn immer noch in sich.
Und vielleicht auch deshalb weiß er sich nicht mehr anders zu helfen, als seinen Eltern von dem Stalker zu erzählen. Der Vater versteht die Botschaft, erschießt Herrn Tiberius und geht dafür ins Gefängnis.
Der Sohn schreibt diese Geschichte auf, um sich über einiges klarzuwerden. Zum Beispiel darüber, wie seine Ehe vor der Tiberius-Geschichte im Sande verlaufen konnte. Statt mit seiner Frau, verbrachte Tiefenthaler die Abende in teuren Restaurants und täuschte vor zu arbeiten.
Unsere Ehe war in einem schwierigen Zustand, um es vorsichtig auszudrücken, und ich fürchte, dass dies vor allem an mir lag. Es gab keine Zerrüttung im engeren Sinn, keine endlosen Streitereien, kein Türeschlagen, kein Davonlaufen, keinen Hass, nein, nichts davon, es war einfach so, dass ich mich mit den Jahren aus dieser Ehe zurückgezogen hatte. Ich meine damit nicht die Kinder, ich bin ein Vater, der seine Kinder abgöttisch liebt, der mit ihnen spielt, mit ihnen redet, der nie glücklicher ist als mit seinen Kindern. Ich meine die Ehe, das Verhältnis zu meiner Frau. Ich weiß nicht, wie es begann, man weiß nie, wie es beginnt, denke ich, außer wenn eine Bombe platzt, eine Affäre auffliegt oder etwas Ähnliches, aber das war es nicht bei uns. Am besten kann man es wohl so ausdrücken: dass ich mich aus meiner Ehe hinausgeschlichen habe, in einem langen Prozess.
"Ich glaube auch, dass es gar nicht so selten ist, dass ein Unglücksfall oder eine kleine Katastrophe oder vielleicht auch eine größere dann Familien wieder zusammen führt. Oder ein heftiger Streit, dass man mal in den Abgrund geblickt hat. Das empfinde ich dann als so traurig, dass man in diesen Momenten eigentlich auf den Gedanken kommt: Meine Güte und das brauchte ich jetzt, um jetzt in meine Ehe wieder rein zu finden, in eine berufliche Gemeinschaft, oder was auch immer, dass die Katastrophen oft helfen. Wobei man sich auch vorher überlegen könnte: Ich darf es nicht soweit kommen lassen, ich könnte eher kämpfen für die Dinge, die mir was Wert sind, die mir lieb sind. Das hat er einfach versäumt."
Künftig wird Tiefenthaler mit der Schmach leben müssen, dass er seinem Feind, also dem Stalker Tiberius, die Rettung seiner Ehe verdankt. Überhaupt – Tiberius. Kurbjuweit stellt ihn keinesfalls als das Monster dar, das die Familie in ihm sieht. Man erfährt wenig über Herrn Tiberius, aber doch genug, um zu ahnen, dass hier ein Opfer zum Täter wird: einer, der eben keinen hat, der ihm Kuchen backt.
Kurbjuweit deutet die Täter-Psychologie nur ganz vorsichtig an, weil es ihm nicht darum geht. Vielmehr ist Herr Tiberius bei ihm eine Allegorie auf den kleinen Auslöser, den es manchmal nur braucht, um das Böse in uns zu wecken:
"Was mich sehr geprägt und erschüttert hat, war der Bosnienkrieg. Ich denke, der ist für mein Denken und Empfinden ganz entscheidend. Ich war früher Pazifist und zutiefst davon überzeugt, dass der Mensch an sich friedlich ist und wenn man ihn friedlich lässt, dann wird alles gut. Das war so ein naiver Gedanke und Bosnien war für mich Mitteleuropa: Ich war oft dort, in Sarajevo und das war eine mitteleuropäische Stadt. Dann bricht dort die Barbarei aus mit Konzentrationslagern, mit Massenvergewaltigungen und diesem brutalen Krieg. Das hat mein Menschenbild doch sehr erschüttert, wo ich dachte, diese Zivilität, von der wir dachten, dass wir sie wieder errungen haben nach dem zweiten Weltkrieg und dem Holocaust, die ist dann doch eben eine nur sehr, sehr dünne Schicht, hinter der der Barbar lauert. Das kann es eben zwischen den Völkern geben, aber zwischen den Menschen kann dieser Barbar auch immer wieder hervor treten."
"Angst" ist ein vielschichtiger Roman, erzählt in einer schnörkellosen und präzisen Sprache. Die ausgiebige Schilderung der Vater-Sohn-Beziehung hätte es vielleicht nicht gebraucht, denn der Typ kriegstraumatisierter, anwesend-abwesender Vater ist hinlänglich bekannt, und Kurbjuweit gewinnt ihm auch keine neuen Seiten ab.
Aber die Schilderung der Mechanik, mit der die Familie des Erzählers unaufhaltsam ins "Panikleben" abgleitet, ist psychologisch tiefgründig und absolut realistisch. Ein beklemmender Roman darüber, was Angst mit Menschen macht. Und in gewisser Weise ist "Angst" die Fortsetzung von Kurbjuweits vorigem Roman "Kriegsbraut".
"Diese beiden Bücher hängen ja eigentlich zusammen. 'Kriegsbraut' ist ein Roman über das Böse zwischen den Völkern und auch der Versuch, sich miteinander zu verständigen. Ein Roman über Krieg und die Versuche, einen Frieden herzustellen. In 'Angst' geht es eigentlich um die inneren Krisengebiete. Das ist das, was mich tatsächlich am meisten interessiert. Die Frage, warum es so wahnsinnig schwer ist für Menschen, miteinander auszukommen."
Dirk Kurbjuweit: "Angst"
Rowohlt Berlin, 256 Seiten, 18,95 Euro
"Ich wollte ja keinen Krimi schreiben und Spannung war nicht der Effekt, auf den ich gesetzt habe oder den ich unbedingt herstellen wollte. Natürlich ist es auch schön, wenn ein Buch spannend ist. Ich wollte aber keine billige Spannung entstehen lassen. Deshalb habe ich gedacht: Naja, dann bringe ich den Ausgang direkt an den Anfang, dann weiß der Leser so ungefähr, was passiert. Und dann erfährt er die Geschichte, warum es passiert ist, erst danach und dann ist ja trotzdem immer noch Raum für Überraschungen."
Obwohl Kurbjuweit also das Ende vorwegnimmt, ist der Roman tatsächlich alles andere als langweilig. Ausgehend vom im Gefängnis sitzenden Vater, erzählt er dreierlei: eine typische Stalking-Geschichte (übrigens grundiert durch autobiographische Erfahrungen), eine typische Ehe-Entfremdungs-Geschichte und eine typische Vater-Sohn-Geschichte. Alles zusammen ist wiederum nicht so typisch.
Der Erzähler, Randolph Tiefenthaler, hat alle Insignien eines gelingenden bürgerlichen Lebens: Eine schöne, kluge Ehefrau, zwei Kinder und Erfolg als selbständiger Architekt. Als dann auch noch die Eigentums-Altbauwohnung in Berlin dazukommt, könnte das Glück perfekt sein. Doch da ist der Nachbar von unten, Herr Tiberius, der erst nur Kuchen auf die Fußmatte stellt, später aber Tiefenthalers Frau erotische Gedichte schreibt und die Eltern beschuldigt, ihre Kinder zu missbrauchen. Und obwohl sie sich dagegen stemmen, entgleitet den Tiefenthalers die Ungezwungenheit ihres Familienlebens:
Ich habe erst gar nicht gemerkt, dass ich begonnen hatte, meine Kinder nicht mehr mit größter Selbstverständlichkeit meiner Nacktheit auszusetzen. Ich zog mich im Bad aus, und ich zog mich im Bad an. Beim Kuscheln achtete ich darauf, dass ich meine Kinder nicht dort berührte, wo ich sie ohnehin niemals berührte, außer beim Waschen, aber auch das machte ich nicht mehr. Es ist furchtbar, aber ich kann es nicht anders sagen: Beim Waschen meiner Kinder stand in gewisser Weise Herr Tiberius an meiner Seite und sah mir auf die Finger.
Die Familie schaltet Polizei, Anwälte, Sozialamt ein, um sich gegen den Stalker zu wehren, doch niemand kann eingreifen, solange Herr Tiberius nicht physische Gewalt anwendet.
"Für mich ist es eine Geschichte über bedrohte Bürgerlichkeit. Der Randolf Tiefenthaler ist ein Aufsteiger, der aus relativ einfachen Verhältnissen kommt und hat sich hoch gearbeitet, ist Architekt und relativ wohlhabend. Er hat eine Frau, er hat Kinder und es geht ihm eigentlich gut. Aber diese Bürgerlichkeit ist ja auch immer prekär, die ist bedroht. Er hat auch keine Sicherheit aus seiner Familie. Ich wollte darüber erzählen, wie das ist, wenn in eine solche saturierte Welt eine Bedrohung eindringt und alles verändert. Ich glaube, dass das ja für bürgerliche Welten ein Grundproblem ist, dass man sich nie sicher sein kann, also anders als zum Beispiel bei einer adligen Familie. Da hat man eine tausendjährige Geschichte und den Familienzusammenhalt. Der Bürger ist in seiner Existenz eigentlich immer bedroht, auch in seiner emotionalen Welt und das war eigentlich das, worüber ich erzählen wollte."
Sagt Dirk Kurbjuweit. Eine Möglichkeit, dem Stalker zu entkommen, wäre ein Umzug, aber diesen Gedanken verwerfen die Tiefenthalers: Sie wollen nicht klein beigeben.
Heute denke ich, dass dies der Fehler meines Lebens war. Ich hätte unsere Wohnung hergeben sollen, mein Vater säße dann jetzt nicht im Gefängnis, und wir als Familie hätten nicht einen Mord auf dem Gewissen. Wir hätten den Kampf gegen Herrn Tiberius verloren, zu Unrecht verloren, doch was machte das schon? Ich hänge nicht der männlichen Ideologie an, dass Niederlagen ausgeschlossen sind. Gleichwohl wollte ich nicht weichen. Ich war da schon tief in den Gedanken verstrickt, dass einer, der im Recht ist, dieses Recht auch bekommen muss, ein Kohlhaas'scher Wahn.
In diesem Wahn fällt Randoph Tiefenthaler schließlich nur noch Selbstjustiz ein. Er ist der Sohn eines Waffennarrs, weshalb ihm der Vater bis heute fremd ist. Die Waffen des Vaters hat der Sohn in der Kindheit als permanente potentielle Bedrohung wahrgenommen. Und diese Angst trägt der Sohn immer noch in sich.
Und vielleicht auch deshalb weiß er sich nicht mehr anders zu helfen, als seinen Eltern von dem Stalker zu erzählen. Der Vater versteht die Botschaft, erschießt Herrn Tiberius und geht dafür ins Gefängnis.
Der Sohn schreibt diese Geschichte auf, um sich über einiges klarzuwerden. Zum Beispiel darüber, wie seine Ehe vor der Tiberius-Geschichte im Sande verlaufen konnte. Statt mit seiner Frau, verbrachte Tiefenthaler die Abende in teuren Restaurants und täuschte vor zu arbeiten.
Unsere Ehe war in einem schwierigen Zustand, um es vorsichtig auszudrücken, und ich fürchte, dass dies vor allem an mir lag. Es gab keine Zerrüttung im engeren Sinn, keine endlosen Streitereien, kein Türeschlagen, kein Davonlaufen, keinen Hass, nein, nichts davon, es war einfach so, dass ich mich mit den Jahren aus dieser Ehe zurückgezogen hatte. Ich meine damit nicht die Kinder, ich bin ein Vater, der seine Kinder abgöttisch liebt, der mit ihnen spielt, mit ihnen redet, der nie glücklicher ist als mit seinen Kindern. Ich meine die Ehe, das Verhältnis zu meiner Frau. Ich weiß nicht, wie es begann, man weiß nie, wie es beginnt, denke ich, außer wenn eine Bombe platzt, eine Affäre auffliegt oder etwas Ähnliches, aber das war es nicht bei uns. Am besten kann man es wohl so ausdrücken: dass ich mich aus meiner Ehe hinausgeschlichen habe, in einem langen Prozess.
"Ich glaube auch, dass es gar nicht so selten ist, dass ein Unglücksfall oder eine kleine Katastrophe oder vielleicht auch eine größere dann Familien wieder zusammen führt. Oder ein heftiger Streit, dass man mal in den Abgrund geblickt hat. Das empfinde ich dann als so traurig, dass man in diesen Momenten eigentlich auf den Gedanken kommt: Meine Güte und das brauchte ich jetzt, um jetzt in meine Ehe wieder rein zu finden, in eine berufliche Gemeinschaft, oder was auch immer, dass die Katastrophen oft helfen. Wobei man sich auch vorher überlegen könnte: Ich darf es nicht soweit kommen lassen, ich könnte eher kämpfen für die Dinge, die mir was Wert sind, die mir lieb sind. Das hat er einfach versäumt."
Künftig wird Tiefenthaler mit der Schmach leben müssen, dass er seinem Feind, also dem Stalker Tiberius, die Rettung seiner Ehe verdankt. Überhaupt – Tiberius. Kurbjuweit stellt ihn keinesfalls als das Monster dar, das die Familie in ihm sieht. Man erfährt wenig über Herrn Tiberius, aber doch genug, um zu ahnen, dass hier ein Opfer zum Täter wird: einer, der eben keinen hat, der ihm Kuchen backt.
Kurbjuweit deutet die Täter-Psychologie nur ganz vorsichtig an, weil es ihm nicht darum geht. Vielmehr ist Herr Tiberius bei ihm eine Allegorie auf den kleinen Auslöser, den es manchmal nur braucht, um das Böse in uns zu wecken:
"Was mich sehr geprägt und erschüttert hat, war der Bosnienkrieg. Ich denke, der ist für mein Denken und Empfinden ganz entscheidend. Ich war früher Pazifist und zutiefst davon überzeugt, dass der Mensch an sich friedlich ist und wenn man ihn friedlich lässt, dann wird alles gut. Das war so ein naiver Gedanke und Bosnien war für mich Mitteleuropa: Ich war oft dort, in Sarajevo und das war eine mitteleuropäische Stadt. Dann bricht dort die Barbarei aus mit Konzentrationslagern, mit Massenvergewaltigungen und diesem brutalen Krieg. Das hat mein Menschenbild doch sehr erschüttert, wo ich dachte, diese Zivilität, von der wir dachten, dass wir sie wieder errungen haben nach dem zweiten Weltkrieg und dem Holocaust, die ist dann doch eben eine nur sehr, sehr dünne Schicht, hinter der der Barbar lauert. Das kann es eben zwischen den Völkern geben, aber zwischen den Menschen kann dieser Barbar auch immer wieder hervor treten."
"Angst" ist ein vielschichtiger Roman, erzählt in einer schnörkellosen und präzisen Sprache. Die ausgiebige Schilderung der Vater-Sohn-Beziehung hätte es vielleicht nicht gebraucht, denn der Typ kriegstraumatisierter, anwesend-abwesender Vater ist hinlänglich bekannt, und Kurbjuweit gewinnt ihm auch keine neuen Seiten ab.
Aber die Schilderung der Mechanik, mit der die Familie des Erzählers unaufhaltsam ins "Panikleben" abgleitet, ist psychologisch tiefgründig und absolut realistisch. Ein beklemmender Roman darüber, was Angst mit Menschen macht. Und in gewisser Weise ist "Angst" die Fortsetzung von Kurbjuweits vorigem Roman "Kriegsbraut".
"Diese beiden Bücher hängen ja eigentlich zusammen. 'Kriegsbraut' ist ein Roman über das Böse zwischen den Völkern und auch der Versuch, sich miteinander zu verständigen. Ein Roman über Krieg und die Versuche, einen Frieden herzustellen. In 'Angst' geht es eigentlich um die inneren Krisengebiete. Das ist das, was mich tatsächlich am meisten interessiert. Die Frage, warum es so wahnsinnig schwer ist für Menschen, miteinander auszukommen."
Dirk Kurbjuweit: "Angst"
Rowohlt Berlin, 256 Seiten, 18,95 Euro