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Behandlung von Staatsfeinden
Das Haftkrankenhaus der Stasi

In Berlin betrieb die Stasi ein Haftkrankenhaus, in dem beispielsweise Menschen behandelt wurden, die auf ihrer Flucht aus der DDR angeschossen wurden. Ex-Häftlinge berichten heute von sexuellen Übergriffen und Verhören am Krankenbett. Für eine wissenschaftliche Aufarbeitung fehlt bislang das Geld.

Von Timo Stukenberg | 23.08.2020
Besucher gehen am "Tag der offenen Tür" in der Stasiopfer-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen durch das sogenannte "U-Boot". Dort waren zu DDR-Zeiten Häftlinge unter menschenunwürdigen Bedingungen inhaftiert.
Die inhaftierten Patienten im Haftkrankenhaus der Stasi wurden voneinander isoliert (dpa / Paul Zinken)
Ein flaches, zweistöckiges Gebäude auf dem Gelände des ehemaligen Untersuchungsgefängnisses in Berlin-Hohenschönhausen. Rund 450.000 Besucherinnen und Besucher kommen jedes Jahr in die Gedenkstätte, um zu erfahren, wie das Ministerium für Staatssicherheit der DDR seine Häftlinge behandelte. Tausende waren hier inhaftiert, die mit dem Gesetz der DDR, oder besser gesagt, mit der Stasi in Konflikt geraten waren. Nicht alle waren gesund: Denn darunter waren auch fast alle DDR-Bürger, die versucht hatten zu fliehen und dabei verletzt wurden – etwa weil sie auf eine Mine getreten waren oder angeschossen wurden. Wer zu krank war, um die Untersuchungshaft in seiner Zelle zu überleben, kam in das Haftkrankenhaus in Hohenschönhausen.
"Im Haftkrankenhaus wurden von 1959 bis 1989 insgesamt 2.694 Personen, also Häftlinge, medizinisch versorgt, davon 377 mehrfach. Die kamen entweder aus dem Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen, also hier praktisch gegenüber. Die kamen direkt von der Grenze, wo sie sich die Verletzungen zugezogen haben. Oder sie kamen aus anderen Untersuchungsgefängnissen des MfS. Aus der gesamten DDR."
Stefan Donth ist Forschungsleiter der Gedenkstätte. Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall seien viele Fragen rund um das Haftkrankenhaus offen, sagt er. Was hat die ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter motiviert? Wie sind die Gefangenen medizinisch versorgt worden? Und nicht zuletzt: Wurde die Medizin im Haftkrankenhaus als Verhörmethode eingesetzt?
"Wir können bisher nicht überprüfen, ob das MfS gezielt medizinische Fehlbehandlungen durchgeführt hat oder ob in einem überdurchschnittlich hohen Ausmaß aufgrund des mangelnden Ausbildungsstands des Personals Kunstfehler passiert sind. All diese Dinge stehen im Raum. Die werden von ehemaligen Häftlingen auch immer wieder sehr vehement vorgetragen."
Nicht genug Geld für Aufarbeitung
Es habe bislang nicht genug Geld für die Aufarbeitung gegeben, sagt Donth. Dazu komme, dass die Aktenlage schlecht sei. Nur verhältnismäßig wenige Dokumente des Zentralen Medizinischen Dienstes der DDR sind für die Forschung aufbereitet. Auf die Hilfe ehemaliger Stasi-Leute konnte die Gedenkstätte bislang nach eigenen Angaben nicht zählen. Kontaktanfragen an Medizinerinnen und Mediziner hätten diese rundweg abgelehnt, sagt Donth.
Die Erinnerungen der ehemaligen Häftlinge sind teils sehr detailliert – aber nach 30 Jahren teils eben auch verschwommen, manchmal widersprüchlich. Nicht zuletzt, weil im Haftkrankenhaus wie im Zellentrakt nebenan höchste Geheimhaltung galt, sagt Stefan Donth.
"Auch um solche Dinge gegenüber der übrigen DDR-Bevölkerung und dem medizinischen Dienst der DDR geheim zu halten. Dass möglichst wenig über diese grausamen Verletzungen, die an der Grenze geschehen sind, dass davon möglichst wenig nach außen gedrungen ist."
Ein Behandlungszimmer im Haftkrankenhaus der Stasi in Berlin Hohenschönhausen. Im Haftkrankenhaus wurden von 1959 bis 1989 insgesamt 2.694 Personen, also Häftlinge medizinisch versorgt, davon 377 mehrfach.
Eine ehemalige Inhaftierte berichtet von sexuellen Übergriffen und Erniedrigungen während ihres Aufenthaltes (imago images / Charles Yunck)
Die Geheimhaltung begann schon bei der Einlieferung. Vom Zellentrakt bis zum Haftkrankenhaus sind es zwar nur ein paar Schritte. Doch die Gefangenen einfach über den Hof zu führen, genügte den Ansprüchen an die Geheimhaltung nicht, wie das Beispiel von Hans Schulze zeigt. Er wurde im September 1986 in Hohenschönhausen inhaftiert. Zwei Tage nach seiner Einlieferung in das Untersuchungsgefängnis wurde er wieder in einen Gefangenentransporter, einen sogenannten Barkas, geführt.
"Ich wurde aus meiner Zelle wieder in den Barkas gebracht und dachte, die bringen mich von hier aus in die Charité oder so was. Und dann ist der Barkas hier so zehn Minuten übers Gelände gefahren. Ich dachte, die sind auf dem Weg zur Charité, aber nein. Man wollte wohl irgendwie tarnen, wo das ist, und ist dann hier vor die Einfahrt gefahren. Und dann wurde ich nur schnell durch diese Tür ins Haftkrankenhaus gebracht."
Ehemaliger Häftling beklagt schlechten Standard
Hans Schulze war kein DDR-Bürger. Er lebte in Westberlin und betreute als Pharmareferent das DDR-Geschäft für einen westdeutschen Chemiekonzern. Zweimal jährlich besuchte er dafür die große Leipziger Messe – problemlos, mit einem Dauervisum für die DDR. Doch der Kontakt zu einer Frau – einer Agentin, wie sich später herausstellen sollte – wurde ihm zum Verhängnis. Bei der Wiedereinreise nach Westberlin wurde er an der Grenze verhaftet und in Hohenschönhausen eingesperrt. Drei Wochen nach seiner Inhaftierung notierte ein Stasi-Mitarbeiter in seiner Akte:
"Und hier steht eben, ‚meldet sich mit Schmerzen in der linken Brustseite‘."
Hans Schulze wurde im Haftkrankenhaus lediglich ambulant untersucht. Seine Schmerzen seien laut der Ärzte auf die nervliche Belastung der Haft und Vitaminmangel zurückzuführen. Er habe daraufhin ein Vitamin-Präparat bekommen, sagt er. Letztlich sei er froh gewesen, dass er nicht stärker auf die medizinische Behandlung angewiesen war.
"Das war hier wirklich wie im tiefsten Mittelalter, wenn man das hier gesehen hat. Also da war ein Riesenunterschied. Wenn man Kliniken in Westberlin oder in der Bundesrepublik gesehen hat, das war ein ganz anderer Standard als hier. Das war hier alles noch viel provisorischer, viel älter. Also das war schon komisch gewesen. Also da hat man auch nicht so das Zutrauen gehabt, muss ich sagen."
Wer heute durch das Haftkrankenhaus geht, kann nur noch Überreste des damaligen Betriebs besichtigen. In den Behandlungszimmern im Erdgeschoss stehen große silberne Metallwannen. Ein paar Zimmer weiter die Überreste eines Röntgengeräts und ein Gynäkologiestuhl mit einem Fixiergurt an der Beinablage. Darunter sammelt sich eine kleine Ölpfütze. Über allem liegt der markante, muffige Geruch eines alten DDR-Krankenhauses.
Ein Stockwerk darüber befindet sich ein hellblau gekachelter Operationssaal. In der Mitte steht ein OP-Tisch, über den eine große, runde Lampe ragt.
Der Operationssaal des ehemaligen Stasi-Haftkrankenhauses in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Zum Tag des offenen Denkmals am 14. September 2008 macht die Gedenkstätte das Krankenhaus des DDR-Staatssicherheitsdienstes erstmals für Besucher zugänglich. Schätzungsweise 2000 Häftlinge des Ministeriums der Staatsicherheit (MfS) sollen in diesem Raum behandelt
Hans Schulze fürchtete sich davor, in der Stasi-Anstalt operiert zu werden (dpa / Rainer Jensen)
"Genau die Lampe, da hab ich Horror vor gehabt. Also schon wenn man das sieht, also das ist so wie der schlimmste Gruselfilm, den es gibt. Nee, also operiert werden wollte ich nicht. Da hatte ich ganz, ganz dolle Angst vor."
Sexuelle Übergriffe und Erniedrigungen
Eike Radewahn wurde 1985 in das Haftkrankenhaus in Hohenschönhausen eingeliefert. Dem vorausgegangen war eine monatelange Leidensgeschichte. Sie begann mit ihrer Festnahme in Rumänien. Mit ihrer damals großen Liebe, wie sie sagt, und einem Freund wollte die gelernte Krankenschwester kurz nach ihrer Ausbildung Ende November 1984 durch die Donau in die Freiheit schwimmen. Mitten in der Nacht sollte es losgehen.
"Also wir waren schon in der Donau gestanden und wir wollten schon losschwimmen. Ich hatte nur noch eine Flosse anzuziehen. Die Männer waren schon bis zum Hals drin. Nur ich so bis zur Hüfte. Und dann wurde auf uns geschossen. Und dann war es vorbei."
Rumänische Grenzsoldaten nahmen sie fest. Stundenlang hätten sie barfuß an einen Zaun gekettet in der Kälte gestanden, berichtet Radewahn. Die damals 20-Jährige wurde in die Untersuchungshaftanstalt nach Potsdam überführt. Von dem Fluchtversuch und der psychischen Belastung gezeichnet, erkrankte sie schwer. Doch statt einer medizinischen Behandlung war sie über Wochen und Monate hinweg Erniedrigungen und sexuellen Übergriffen ausgesetzt.
"Ich habe eine ganz schlimme Erkältung bekommen, dann so eine Woche und das wurde halt nie behandelt. Ich habe dann Nierenkoliken gehabt, ich habe eine Blasenentzündung gehabt, das Ohr war entzündet - oder die Ohren."
Über Wochen habe sich ihr Kopf angefühlt, als würde er jeden Moment zerspringen, sagt sie. Irgendwann platzte das entzündete Trommelfell und Eiter lief aus dem Ohr heraus.
"Und dann haben sie begriffen, also jetzt müssen wir wirklich was machen. Weil ich glaube - sterben lassen wollten sie mich dann auch nicht."
Inhaftierte Patienten wurden isoliert
Eike Radewahn wurde in das Haftkrankenhaus in Hohenschönhausen überstellt. Sie kam anfangs alleine in eine Doppelzelle, nur mit Glasbausteinen statt Fenstern, einem Waschbecken und einem Bett. Erst Jahre später erfuhr sie, wohin sie gebracht worden war.
"Also mir fehlen einfach drei Wochen in meinem Leben - wo ich mich da aufgehalten habe. Also das ist ein komisches Gefühl, heute immer noch. Nicht zu wissen, wo war ich drei Wochen."
Wie in der Stasi-Untersuchungshaft üblich, wurde Eike Radewahn auch im Haftkrankenhaus vollkommen isoliert. Ihr einziger Kontakt bestand aus den Stasi-Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in weißen Kitteln. Doch die blieben ihr gegenüber größtenteils stumm. Von anderen Gefangenen sah und hörte sie nichts. Lediglich ein Geräusch erkennt sie wieder. Es stammt von einem Brett, das an Schienen an der Wand gegenüber den Zellen befestigt ist und sich heute nur noch schwer von Zelle zu Zelle schieben lässt.
Ein Behandlungszimmer des Haftkrankenhauses der Stasi in Berlin Hohenschönhausen. In dem blau gekachelten Untersuchungsraum stehen mehrere Metallwannen.
Im Haftkrankenhaus der Stasi wurden Inhaftierte aus der ganzen DDR medizinisch behandelt. (imago images / Charles Yunck)
"Das hat man dann in der Zelle gehört, aber wo ich hier neu war, dachte ich, ‚was ist denn das?‘, und da haben die das so geschoben über den Gang und haben die Medikamente verteilt oder Verbandsmaterial, oder wo sie ihre Akten so drauf hatten, wo sie so reingeschrieben hatten, was sie gemacht haben oder was sie an Medikamenten gegeben haben."
Tatsächlich konnte sich Eike Radewahn ein Stück weit erholen, bevor sie zurück in die Untersuchungshaft Potsdam geschickt wurde.
"Ich hatte zu Anfang die ersten Tage immer noch diesen Reflex, wenn die Zellentüren hier aufgingen, dass ich gleich saß und aufstehen wollte, und dann es hat ein paar Tage gedauert, weil das machte ich ja schon wochen- und monatelang, dieses sofort Aufspringen. Und nee, wir durften hier liegenbleiben."
Aufzuspringen wäre für Ralf Wolfensteller zumindest in den ersten Tagen seiner Haftzeit im Haftkrankenhaus keine Option gewesen. Der damals 22-jährige Grenzsoldat hatte 1967 versucht, bei einem Patrouillengang in den Westen zu fliehen. An einer Grenzsäule an der innerdeutschen Grenze im Harz rannte er los. Er war bereits auf dem Gebiet der Bundesrepublik, da wurde Wolfensteller von seinem Vorgesetzten, der ihm nachgerannt war, niedergeschossen, zurück auf das Gebiet der DDR geschleift und an Mitarbeiter der Stasi übergeben.
Nach einer Notversorgung wurde er mit vier Schusswunden in das Hohenschönhausener Haftkrankenhaus gebracht. Er bekam am Krankenbett allerdings nicht nur medizinisches Personal zu Gesicht.
"Da sind zwei Herren gekommen, natürlich auch in zivil, ohne sich vorzustellen oder sonst was. Aber in jedem Fall bei der ersten unserer Begegnung haben sie mir den Haftbefehl vorgelesen. Und bei diesen Punkten, die da verlesen wurden, bin ich natürlich nach der Verlesung zu Boden gegangen - also ich meine, ich lag schon. Das habe ich nicht erwartet, was da massiv mir angedroht wurde oder beziehungsweise vorgeworfen wurde."
Häufige Vernehmungen am Krankenbett
Von da an sei er alle zwei Tage am Krankenbett vernommen worden. Die Anklagepunkte waren so schwerwiegend wie konstruiert: Er habe als Spion für den Feind gearbeitet und mit seinem Fluchtversuch die beiden deutschen Staaten an den Rand eines Krieges gebracht. Die Vernehmer drohten ihm mit jahrelanger Haft. Unter dem Einfluss welcher Medikamente er bei den Vernehmungen stand, das weiß er bis heute nicht.
"Ich bin unter Schmerztabletten, ich weiß nicht, wie lange das gewesen ist; ich weiß überhaupt nicht, nie habe ich erfahren, was man mir da alles so alles verpasst hat, was ich habe schlucken müssen. Da konnte ich mich ja gar nicht wehren. Auf Fragen wurde mir gar nicht geantwortet, sondern das war eine Begegnung, die vollkommen ohne Worte vor sich ging."
Eine vergitterte Tür steht in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen in einem Trakt des ehemaligen Stasi-Haftkrankenhauses etwas offen. Zum Tag des offenen Denkmals am 14. September 2008 macht die Gedenkstätte das Krankenhaus des DDR-Staatssicherheitsdienstes erstmals für Besucher zugänglich.
Oft war den Häftlingen nicht klar, wo sie sich genau befanden (dpa / Rainer Jensen)
Immerhin, sagt er heute, seine Schusswunden seien zufriedenstellend versorgt worden. Doch der Fall von Ralf Wolfensteller wirft die Frage auf, ob und inwiefern das medizinische Personal den Vernehmern zugearbeitet hat. Die medizinischen Maßnahmen seien Teil der Vernehmungsstrategie gewesen, sagt Forschungsleiter Stefan Donth.
"Das heißt, hier wurde nicht eine medizinische Behandlung den Kranken zuteil, sondern sie wurden hier nach den Maßgaben des MfS behandelt. Das konnte im Einzelfall einen Unterschied ausmachen, dass eben doch nicht die medizinische Behandlung zur Verfügung gestellt wurde, die man einem Kranken außerhalb von Hafträumen hätte zuteilwerden lassen."
Auskunft über Abläufe, Absprachen und die eigene Motivation könnte das ehemalige Personal geben – und somit wesentlich zur Aufarbeitung des Kapitels "Haftkrankenhaus" beitragen. Etwa 28 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehörten laut der Gedenkstätte zum ärztlichen Personal. Zusätzlich beschäftigte das Ministerium für Staatssicherheit laut einer Personalakte regelmäßig auch medizinisches Personal aus anderen Krankenhäusern.
Gelernter Maurer als Leiter des Krankenhauses
Informationen über die Ausbildung und Hinweise auf die Einstellung der Festangestellten geben die sogenannten Kaderakten. Darin berichten Mitarbeiter und Vorgesetzte über ihre Kolleginnen und Kollegen im Haftkrankenhaus. Darin heißt es etwa über Bernhard Landes, der von 1969 bis 1974 das Haftkrankenhaus leitete, er sei gelernter Maurer und habe eine Sanitäterausbildung.
Landes vermerkt im Jahr 1975 wiederum über einen anderen Kollegen, den Arzt Herbert Vogel:
"In seiner bisherigen Dienstzeit hat Genosse Dr. Vogel wiederholt unter Beweis gestellt, dass er sich in der Aufgabenerfüllung stets primär von der Erfüllung politisch-operativer Aufgaben leiten lässt."
Zwei Jahre später heißt es in einem "streng geheimen" Vermerk über den Arzt:
"Bei allen Entscheidungen (medizinische Maßnahmen in Diagnostik und Therapie) räumt er den politisch-operativen Aspekten stets den Vorrang ein."
1986 wird der mit zahlreichen Orden, Prämien, Armbanduhren und Titeln versehene Arzt zum Leiter des Haftkrankenhauses und verfasst laut seiner Akte selbst Beurteilungen. Mit den Gutachten eines Psychiaters, der bereits seit 1978 im Haftkrankenhaus arbeitet, ist Vogel offenbar sehr zufrieden. Der Genosse sei sich der politischen Bedeutung seiner Arbeit bewusst, schreibt er.
"Das zeigt sich auch in seiner Mitarbeit zur Lösung operativer Fragestellungen im Zusammenwirken mit der Linie IX und anderen operativen Diensteinheiten."
Für die sogenannte Linie IX arbeiten die Vernehmer des Ministeriums für Staatssicherheit. Einen anderen Psychiater, der 1988 an das Haftkrankenhaus berufen und ein Jahr später zum Referatsleiter für Begutachtungen ernannt worden ist, kann der Deutschlandfunk ausfindig machen.
Häftlinge sollten nicht gesund, sondern vernehmungsfähig werden
Ein Interview lehnt der heute 75-Jährige am Telefon strikt ab. Nach der Wende sei die Berichterstattung von einer Hysterie geprägt gewesen, sagt der Mediziner. Der Reporter solle sich keine Mühe geben. Er sei überdies nur kurz im Haftkrankenhaus gewesen, und das sei alles so lange her, sagt er. Nach 1989 habe er zudem ein neues Leben angefangen.
Ein Haftraum des ehemaligen Stasi-Haftkrankenhauses in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Die Gefangenen wurden in der Haft meist isoliert, wie es in der Stasi-Untersuchungshaft üblich war.
Eine typische Zelle im Stasi-Haftkrankenhaus Hohenschönhausen (dpa / Rainer Jensen)
In dem Gespräch beantwortet er aber dann doch einige Fragen. Er selbst habe keine Gutachten geschrieben, sagt er. Warum in seiner Stasi-Akte steht, dass er in den letzten Monaten des Haftkrankenhauses Referatsleiter für Begutachtungen war, könne er nicht sagen. Und die Zusammenarbeit mit den Vernehmern? Im Haftkrankenhaus habe selbstverständlich die ärztliche Schweigepflicht gegolten, sagt er. Mit den Vernehmern hätten lediglich seine Vorgesetzten, nicht aber die Ärzte selbst, Kontakt gehabt. Darüber hinaus sei das Haftkrankenhaus ja nicht dazu da gewesen, die Gefangenen gesund zu pflegen, sondern lediglich wieder vernehmungsfähig zu machen.
Verifizieren lassen sich diese Aussagen nicht, aber sie stehen im Gegensatz zu den Erfahrungen vieler ehemals Inhaftierter.
Was bleibt von dem Krankenhaus, das die Stasi so geheim halten wollte? Tatsächlich blättert an vielen Stellen die Tapete von den Wänden - die Feuchtigkeit, sagt Forschungsleiter Stefan Donth. Rund neun Millionen Euro haben Bund und Berliner Senat zuletzt für die Sanierung der gesamten Gedenkstätte zur Verfügung gestellt. Davon soll auch das Haftkrankenhaus renoviert werden, um es weiterhin auch für die Aufarbeitung von DDR-Geschichte nutzen zu können.
"Dass diese Zeit, die sie hier erfahren haben, dass die nicht untergeht, sondern dass die eine Würdigung erfährt. Dass die aufgearbeitet wird, und dass diese Geschehnisse im Haftkrankenhaus im gesamtgesellschaftlichen Diskurs über die Aufarbeitung der Geschichte der DDR einen prominenten Platz finden, weil sich hier natürlich im Umgang mit Kranken auch der Charakter einer Staatsordnung zeigt."
Inhaftierte leiden bis heute
Die drei ehemals Inhaftierten, die in diesem Beitrag zu Wort kamen, wurden schließlich vor dem Ende ihrer Haftzeit von der Bundesrepublik freigekauft. Obwohl ihre Gefangenschaft schon lange her ist, bleibt die Auseinandersetzung damit für sie präsent – und nicht leicht. Zum Beispiel für Eike Radewahn. Während des Interviews mit dem Deutschlandfunk in ihrer ehemaligen Zelle im Haftkrankenhaus ertönt plötzlich die Sirene.
"Ich hasse es. Das ist genau das, wovor ich Angst hatte. Aber ich war drauf gefasst. Wo ich vor ein paar Jahren hier das erste Mal war, ging das auch genau an, die Sirene, und da bin ich zusammengebrochen."
Auch für Ralf Wolfensteller ist dieses Kapitel seiner Inhaftierung noch nicht abgeschlossen. Und das, obwohl er als Zeitzeuge aktiv ist und unter anderem die Geschichte seines Fluchtversuchs immer wieder erzählt hat.
"Aber in dieses Krankenhaus - nun nach so vielen Jahren das erste Mal da hinein, das war schon wieder, da kam so ziemlich alles hoch, was ich meinte, verdrängt bzw. verarbeitet zu haben. Und das hat mich natürlich sehr, sehr stark bewegt, neuerdings."
Laut einem sogenannten Bestandsbuch, das im Berliner Landesarchiv liegt, ist der letzte Häftling erst rund zehn Monate nach dem Mauerfall, am 10. August 1990, um 12.15 Uhr entlassen worden.
Erstsendung 6.11.2019.