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Behinderte Kinder im Nachteil

Die Jura-Professorin Theresia Degener beklagt eine Benachteiligung Behinderter in deutschen Schulen. "In Deutschland gehen 87 Prozent aller behinderten Kinder in Sonderschulen und nur 13 Prozent in Regelschulen. International gesehen sind wir da ein Entwicklungsland", sagte Degener anlässlich der Unterzeichung der UN-Konvention zur Gleichstellung von Behinderten in New York.

Moderation: Klaus Remme |
    Klaus Remme: Am Hauptsitz der Vereinten Nationen in New York wird heute die Konvention für die Rechte von Behinderten unterzeichnet. Damit wird ein Verfahren eingeleitet, dass die Rechte behinderter Menschen erstmals in der Geschichte völkerrechtlich verbindlich festschreiben soll. Jahrelang wurde um diese Konvention gestritten. Die international renommierte Juristin Theresia Degener hat daran mitgearbeitet. Sie lehrt Recht und Verwaltung an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum. Ihr Engagement für die Anliegen behinderter Menschen hat unter anderen einen offensichtlichen, aber keinen hörbaren Grund, deshalb erwähne ich ihn. Sie ist als Contergangeschädigte selbst betroffen.

    Theresia Degener ist jetzt am Telefon. Guten Morgen!

    Theresia Degener: Guten Morgen, Herr Remme!

    Remme: Frau Degener, "ich bin armlos, aber nicht harmlos", diesen Satz habe ich von Ihnen gelesen. Ist die Unterzeichnung heute auch eine ganz persönliche Genugtuung?

    Degener: Ja, wenn man über vier Jahre an einem solch langen Prozess, dann ist es schon ein großer Erfolg, wenn so eine Menschenrechtskonvention unterzeichnet wird. Ich erinnere mich oft daran, dass wir vor über 20 Jahren 1981 das so genannte Krüppeltribunal gegen Menschenrechtsverletzungen an Behinderten in Deutschland durchführten in Dortmund. Ich war auch daran beteiligt, und das ist natürlich besonders schön, wenn man seit über 20 Jahren gegen Menschenrechtsverletzungen an Behinderten arbeitet und sich engagiert, wenn dann so ein wichtiges Machwerk verabschiedet wird.

    Remme: Vier Jahre Arbeit, war das ein Kampf?

    Degener: Das war ein harter Kampf, ja. Sie müssen sich vorstellen, dass von den gegenwärtig 194 Mitgliedern der Vereinten Nationen über 100 an diesem Machwerk mitgearbeitet haben. Wir waren zu Anfang etwa 100 Menschen in einem Raum, und am Schluss waren wir über 900. Das war ja so, dass die Ad-hoc-Kommission sich etwa zweimal im Jahr zwei Wochen in New York traf. Und da können Sie sich vorstellen, wie schwierig es ist, mit über 900 Menschen einen Konsens zu finden.

    Remme: Es gibt aber doch längst, Frau Degener, Menschenrechtskonventionen. Wozu braucht es ein eigenes Dokument für Behinderte, wenn es doch gerade nicht um Sonderrechte, sondern um Gleichstellung gehen soll?

    Degener: Das ist eine wichtige Frage, und ich habe zusammen mit meinem irischen Kollegen Quinn eine Hintergrundstudie für die Vereinten Nationen dazu gemacht. Wir haben die bisherigen existierenden sieben Menschenrechtsverträge untersucht und vor allen Dingen untersucht, wie sie weltweit in Bezug auf Behinderte umgesetzt werden, und diese Studie belegt eindrücklich, dass die bisherigen existierenden Menschenrechtsinstrumente oder Verträge auch für behinderte Menschen gelten theoretisch, aber praktisch so gut wie nicht für behinderte Menschen umgesetzt werden. Und deswegen ist es absolut an der Zeit gewesen, dass es nun ein verbindliches Menschenrechtsinstrument für behinderte Menschen gibt.

    Remme: Erklären Sie dieses Manko mal praktisch?

    Degener: Praktisch bedeutet das, dass, wenn Staaten wie Australien, Indien, Deutschland bei den Vertragsorganen der Vereinten Nationen Bericht erstatteten darüber, wie sie zum Beispiel den Menschenrechtspakt über soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte in ihren Ländern umsetzen, dass sie faktisch nichts dazu sagten, wie der für behinderte Menschen umgesetzt wird. Umgekehrt: Situationen, wo behinderte Menschen grausam und unmenschlich behandelt werden, auch solche Fälle wissen wir ja aus der Presse und aus Fällen, die auch vor Gericht erscheinen. Das wird nicht behandelt als Menschenrechtsverletzung dort, wo es nämlich hingehört, vor den Menschenrechtsorganen der Vereinten Nationen oder vor anderen regionalen Organisationen.

    Remme: Frau Degener, was ändert sich für die Behinderten in Deutschland durch diese Konvention?

    Degener: Es ändert sich, dass erstmals ein umfassendes, rechtsverbindliches Instrument nun verabschiedet wird, auf das sie sich selber berufen können. Sie werden auch ein eigenes Organ bekommen, den Vertragsausschuss für die Rechte behinderter Menschen, an den sie sich wenden können, wenn es zu Menschenrechtsverletzungen in ihrem Land an behinderten Menschen kommt. Menschenrechtsverträge, das muss man dazu sagen, sind ja internationale Verträge und haben in den einzelnen Staaten erstmal unmittelbar geringe Wirkung. Sie richten sich an die Saatenvertreter, also an die Regierungen, und die allerdings sind verpflichtet, wenn sie es unterzeichnet und ratifiziert haben, diese Rechte für behinderte Menschen in ihren Ländern umsetzen. Das heißt, wir können erwarten, Deutschland wird ja zu den Unterzeichnern heute gehören, dass, wenn Deutschland diesen Vertrag ratifiziert hat, dass es auch zu erheblichen Änderungen im Behindertenrecht in Deutschland kommen wird.

    Remme: Wo hat denn Deutschland da Nachholbedarf?

    Degener: Oh, in vielen Bereichen. Wir haben in den letzten sechs Jahren allein viermal Schelte von internationalen Menschenrechtsorganen bekommen, zum Beispiel hat sich 2001 der Ausschuss über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, und 2003 die Europäische Antifolterkommission sehr kritisch über die Zustände in deutschen Heimen geäußert. In 2004 war das der Menschenrechtsausschuss, und jetzt in diesem Jahr, haben wir es ja gehört, hat sich der UN-Sonderbotschafter Muñoz über das deutsche Bildungssystem beschwert, das nicht nur ausländische Kinder, sondern insbesondere behinderte Kinder diskriminiert. Und da ist Deutschland weit hinter vielen anderen Ländern in dieser Welt.

    Remme: Das heißt, die Konvention könnte zum Beispiel helfen, wenn Eltern in Zukunft ein bundesweites Schulwahlrecht für ihre behinderten Kinder haben wollen?

    Degener: Ja, das wäre ein spannender Schritt in die richtige Richtung. Deutschland ist mit Abstand das Land, was am meisten behinderte Kinder in Sonderschulen aussondert. In Deutschland gehen 87 Prozent aller behinderten Kinder in Sonderschulen und nur 13 Prozent in Regelschulen. International gesehen sind wir da ein Entwicklungsland. Und es gibt viele andere Bereiche. Wenn man sich überlegt jetzt die Zustände in den Heimen, die ja nun schon von Menschenrechtsausschüssen bemängelt wurden, auch die müssen sich bessern. Die Menschenwürde in diesen Einrichtungen muss realisiert werden, auch für behinderte Menschen.

    Remme: Frau Degener, Deutschland gehört ja zu den reichsten Ländern der Welt. Die überwiegende Mehrheit der behinderten Menschen lebt in Entwicklungsländern. Wie viel UN-Konvention kommt denn im Alltag dieser Menschen an?

    Degener: Auch das ist wichtig, dass es jetzt einen Menschenrechtsvertrag gibt, der weltweit gilt, dass es also kein Land auf dieser Welt mehr geben wird, das sagen kann, es gibt ja keine Menschenrechtsstandards für behinderte Menschen, sondern es gibt ihn, sie müssen ihn unterzeichnen, und dann wird es eben verbindlich auf der ganzen Welt sein. Und in der Tat ist es so, dass zwei Drittel der 600 Millionen Menschen, die behindert sind auf der Welt, in den Entwicklungsländern leben. Und da wird sich einiges tun müssen.

    Aber man darf nicht sagen, dass Deutschland, nur weil es extrem viel seines Bruttoinlandsproduktes für die soziale Sicherung ausgibt im Vergleich zum Beispiel zu den USA oder den OECD-Ländern, dass in Deutschland insgesamt die Menschenrechtslage auch besser ist. Denn in einigen Fragen sind die so genannten Entwicklungsländer uns voraus, insbesondere was Antidiskriminierungsgesetzgebung für behinderte Menschen anbelangt, da ist ja in Deutschland erst in diesem Jahr beziehungsweise in den letzten vier Jahren einiges verändert worden. Das ist in Ländern wie Südafrika, in den Philippinen, in Indien, das gibt es schon seit über zehn Jahren dort, und in Ländern wie zum Beispiel Uganda gibt es ein Gesetz, das vorsieht, dass in allen Gremien, ob das nun das Parlament ist oder der Dorfrat ist, ein bestimmter Prozentsatz der Plätze für behinderte Menschen vorzusehen ist, das heißt, behinderte Abgeordnete müssen in das Parlament gewählt werden. Diese Vorschrift gibt es seit 1995, und in den letzten zehn Jahren wurden über 25.000 behinderte Menschen in die Gremien in Uganda gewählt. Und das ist natürlich eine unglaubliche Entwicklung, das heißt, behinderte Menschen sind im öffentlichen Leben vertreten und können sich auch dort gleichberechtigt für ihre Interessen einsetzen.

    Remme: Theresia Degener war das, sie lehrt Recht und Verwaltung an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe. Frau Degener, vielen Dank.

    Degener: Ich bedanke mich, Wiederhören Herr Remme.