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Behindertensport
Die Außenseiter der Minderheit

Nur wenige tausend Menschen mit einer geistigen Behinderung können regelmäßig Breitensport treiben. Der Mehrheit fehlen Betreuer und Strukturen. Für viele sind die Paralympics deshalb fast unerreichbar.

Von Ronny Blaschke | 16.11.2014
    Wenn der Tischtennisspieler Hartmut Freund den Ball mit Wucht über die Platte schmettert, kennt er den Spielstand nicht. Er weiß auch nicht, wer den nächsten Aufschlag hat. Hartmut Freund aus Bietigheim-Bissingen in der Nähe von Stuttgart lebt mit einer frühkindlichen Hirnschädigung. Sein Intelligenzquotient liegt bei 46. Wenn ihm der Ballwechsel gefallen hat, ballt er die Faust und jubelt. Immer mit dabei ist sein Bruder und gesetzlicher Betreuer Norbert Freund. "Er ist im Grunde der ungekrönte Weltmeister der Sportler mit einer Behinderung bei einem IQ von unter fünfzig. Es gibt keinen in der Weltrangliste, der jetzt besser wäre als er oder gleich stark wäre und eine ähnlich schwere Behinderung hätte. Aber er zählt ja selber gar nicht mit. Also insofern ist das jetzt nicht das, was ihn am Tischtennis am meisten reizt, sondern es ist die reine Spielfreude. Und wenn wir bei den internationalen Turnieren sind, das merkt man natürlich ihm total an, wenn er spielt, dass er eine enorme Spielfreude hat. Man merkt ihm natürlich auch die Schwere seiner Behinderung an. Und deswegen schauen bei diesen Turnieren dann immer viele von anderen Nationen zu und feuern ihn an. Er redet auch viel mehr und ist in der Tat selbstbewusster geworden im Umgang mit anderen."
    Vor fast vierzig Jahren haben Hartmut und Norbert Freund im Hobbyraum ihrer Eltern mit Tischtennis begonnen. Hartmut Freund trat 1985 einem Nichtbehindertensportverein bei, 2007 auch einem Behindertensportverein. Er wurde immer besser, obwohl er in Taktik und Strategie klar benachteiligt ist. Für Tischtennisspieler mit einer körperlichen Behinderung gibt es zehn Wettkampfklassen, für Spieler mit einer geistigen Behinderung nur eine. In dieser Klasse sind Spieler aktiv, deren IQ bei höchstens 75 liegt. Darunter zählen lernbehinderte Menschen ebenso wie Menschen mit einer schwereren Beeinträchtigung, das Leistungsgefälle ist enorm. Der Betreuer Norbert Freund hatte es schwer, Startplätze für seinen Bruder zu finden, zum Beispiel 2008 bei den württembergischen Landesmeisterschaften. "Und dann hat uns der zuständige Fachwart in Württemberg einen Tag vor der Veranstaltung Bescheid gegeben, dass mein Bruder leider nicht teilnehmen könne, weil er habe ja eigentlich keine Behinderung in dem Sinne. Er wäre der einzige geistig behinderte Teilnehmer gewesen, wie schon im Jahr 2007. Dieser Fachwart sagte mir, es hätten sich Leute beschwert, weil mein Bruder habe ja keine körperliche Behinderung, wieso er denn überhaupt mitmachen dürfe."
    Bisher allein gelassen
    Im Breitensport sind 40.000 Aktive mit einer geistigen Behinderung organisiert, im Verband Special Olympics. Wie viele sich für Leistungssport interessieren, ist nicht bekannt. Doch darum geht es Norbert Freund auch nicht. In Deutschland wird intensiv über Inklusion diskutiert, der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Freund setzt sich dafür ein, dass auch Menschen mit einer geistigen Behinderung in einem Umfeld leben, das die Entfaltung im Leistungssport zumindest möglich macht. Dafür müsse der für Spitzensport zuständige Deutsche Behindertensportverband, der DBS, intensiver mit den Special Olympics zusammen arbeiten, sagt er.
    "Und dann müssten dann eben bei den Nationalen Spielen von Special Olympics beispielsweise in den einzelnen Sportarten dann Beobachter des DBS da sein, die dann Talente sichten. Und dann auch auf die Sportler und ihre Betreuer zukommen, ob sie nicht auch Lust hätten, das leistungssportmäßig betreiben zu können. Grundsätzlich gilt für die Landesverbände leider genau dasselbe wie für den DBS als Dachverband, dass sowohl auf der Trainerebene als auch auf der Funktionärsebene Leute aus dem Körperbehindertensport dominieren und da kaum Trainer vor Ort sind, die sich tatsächlich auf den geistig behinderten Bereich konzentrieren."
    Im Nachwuchswettbewerb Jugend trainiert für Paralympics sind Tischtennisspieler mit einer geistigen Behinderung noch nicht teilnahmeberechtigt. Das wichtigste Ereignis für behinderte Sportler sind die Paralympics. Dort waren geistig behinderte Athleten in den Jahren 2000 bis 2012 nicht zugelassen. Der Grund: Bei den Weltspielen in Sydney hatten spanische Basketballer ihre Beeinträchtigung vorgetäuscht. So standen die Wettbewerbe des Weltverbandes Inas im Mittelpunkt, der zuständig ist für den Leistungssport von geistig behinderten Menschen. Zu diesen Wettbewerben schickt der DBS im Gegensatz zu anderen Nationen aber kaum Sportler. Die Ausnahme: Fußball. Bei den Weltspielen von Inas, den Global Games, war 2011 ein deutscher Athlet vertreten: Hartmut Freund. Für die Spiele 2009 war niemand nominiert worden.
    "Rahmenbedingungen sind nicht leistungssportfreundlich"
    Im Präsidium des Deutschen Behindertensportverbandes ist Karl Quade als Vize für den Leistungssport zuständig. Warum tut sich der DBS bei der Förderung von geistig behinderten Sportlern so schwer? "Weil die Rahmenbedingungen, unter denen die Menschen leben, häufig in Werkstätten, die sind nicht leistungssportfreundlich. Die Betreuer kommen häufig aus einer pädagogischen Richtung, das passt mit Leistungssport manchmal nicht zusammen. Die finanziellen Möglichkeiten für das Tagestraining sind sehr begrenzt. Die haben häufig ganz geringe Einkommen, werden finanziert, aber dürfen selbst dann auch keine Einkommen haben. Also Sportler von uns, die Sporthilfe bekommen würden, da würden Einrichtungen die Sporthilfe kassieren, so ungefähr, oder das Sozialamt, oder was auch immer, das sind schwierige Verhältnisse."
    Der DBS hat sich halbherzig für eine zweite Wettkampfklasse von geistig behinderten Sportlern ausgesprochen, damit auch Athleten mit einer schwereren Beeinträchtigung mithalten können. Nur in einer solchen Klasse hätte Hartmut Freund mit einem IQ von 46 die Chance, an den Paralympics teilzunehmen. Denn seit 2012 sind Tischtennis, Leichtathletik und Schwimmen wieder zugelassen. Norbert Freund lässt seinen Beruf als Journalist zurzeit ruhen, um seinen Bruder zu fördern. Er hat mehr als 200 Unterstützer gewonnen, darunter Prominente wie zuletzt den deutschen Tischtennisprofi Dimitrij Ovtcharov. Hartmut Freund ist privilegiert, er hat Medaillen gewonnen und an internationalen Wettbewerben teilgenommen. Er hat die Spielfreude genossen. Norbert Freund setzt sich dafür ein, dass auch andere Menschen mit einer geistigen Behinderung in diesen Genuss kommen können.