Donnerstag, 28. März 2024

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Beispiel Aberdeen
Schottland gegen den Brexit

Einer Untersuchung zufolge würde ein EU-Austritt Aberdeen am härtesten treffen. In Schottlands drittgrößter Stadt sind die Menschen deshalb gegen den Brexit. Auch die Schotten insgesamt würden heute wieder wie 2016 mit großer Mehrheit für den Verbleib in der EU stimmen.

Von Jens-Peter Marquardt | 09.03.2019
Die geschäftige Union Street im Herzen der schottischen Stadt Aberdeen
Die schottische Stadt Aberdeen hat im Juni 2016 mit 61 Prozent für den Verbleib in der Europäischen Union gestimmt (Imago)
Straßenmusik vor dem Einkaufszentrum in Aberdeen. Die Stadt hat im Juni 2016 mit 61 Prozent für den Verbleib in der Europäischen Union gestimmt. Darunter auch der 48 Jahre alte Ingenieursausbilder Brian, der gerade auf dem Weg in seine Mittagspause ist: "Der Brexit ist ehrlich gesagt eine schreckliche Idee. Und die Tatsache, dass die Politiker immer noch keinen Plan haben, macht die Sache noch schlimmer. Ich spüre bereits, dass die Unternehmen wegen der unsicheren Zukunftsaussichten immer weniger bereit sind, vier Jahre lang Ingenieure auszubilden."
Die gesunkenen Rohstoffpreise hätten die Ölförderung vor der Küste Aberdeens bereits hart getroffen – und jetzt auch noch der Brexit: "Aberdeen lebt von der Ölindustrie – die läuft aber schon jetzt nicht mehr so wie früher. In diesem internationalen Geschäft jetzt noch zusätzliche Hürden aufzubauen, ist einfach lächerlich. Beim Referendum 2016 wusste doch niemand, was passiert. Deshalb brauchen wir jetzt eine zweite Volksabstimmung, jetzt, wo wir die Konsequenzen kennen."

Im Hafen brummen die Generatoren der Schiffe, die die Ölplattformen versorgen. Lastwagen fahren zu den Kais, bringen Ersatzteile und neue Maschinen. Ein paar hundert Meter entfernt, im Rathaus, macht sich Stadtrat Ian Yuill Sorgen:

"Niemand weiß, was nach dem Brexit wirklich passiert – das allein ist ja schon chaotisch. Aber das Zentrum für Städte hat 2017 die voraussichtlichen Brexit-Effekte untersucht. Danach wird der Austritt aus der EU Aberdeen von allen britischen Städten am stärksten treffen. Schon durch einen sogenannten weichen Brexit würden wir 2,1 Prozent unserer Wirtschaftskraft verlieren. Durch einen harten Brexit sogar 2,7 Prozent. Der Brexit wird keiner Stadt gut tun, aber Aberdeen trifft er am härtesten."
Ian Yuill ist der Fraktionsvorsitzende der EU-freundlichen Liberaldemokraten im Stadtrat von Aberdeen. Er hat dafür gesorgt, dass sich seine Kollegen mit großer Mehrheit für ein neues Referendum ausgesprochen haben, nur die Konservativen stimmten dagegen.
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Mehr Beiträge zum Brexit finden Sie in unserem Portal "Countdown zum Brexit" (AFP / Tolga Akmen)
Farmer fürchten um ihr Geschäft
Die drittgrößte Stadt Schottlands hängt nicht nur vom Öl ab, sondern auch von den zwei Universitäten. Das King's College im Univiertel Old Aberdeen wurde 1495 gegründet. Unter anderem hat hier Harry Potter-Autorin Joannne K. Rowling studiert. Fünf Mal gingen Nobelpreise nach Aberdeen. 14.000 Studenten sind hier eingeschrieben, jeder zehnte Bewohner der Stadt an der Nordseeküste, viele von ihnen kommen vom europäischen Kontinent. Stadtrat Yuill macht sich auch um die Universität Sorgen:
"Die Regierung in London hat jetzt beschlossen, nach dem Brexit EU-Studenten Visa für lediglich drei Jahre zu geben. Dabei dauern die Bachelor-Studiengänge an schottischen Universitäten normalerweise vier Jahre, anders als in England. Nicht einmal darüber hat die britische Regierung nachgedacht!"
20 Kilometer nördlich von Aberdeen liegt das Dorf Newmachar. Hier, auf der Sittyton-Farm, züchtet John Fyall Shorthorn-Rinder und Schafe. Seine 1.500 Lämmer kommen aus den schottischen Highlands – jetzt fressen sie sich auf den saftigen Wiesen in den Lowlands von Aberdeenshire dick und rund, bis Ostern, dann sollen sie zum Festtagsbraten werden, vor allem bei den zahlreichen Kunden in Frankreich und Deutschland. Wenn aber Großbritannien am 29. März ohne Abkommen und ohne Übergangsregelung aus der EU austritt, dann wird aus diesem Geschäft nichts. Dann wird John Fyall seine schottischen Lämmer zu Ostern nicht auf den Kontinent bringen können.

"Wenn es morgen einen No-Deal-Brexit gibt, dann haben wir plötzlich 1.000 Lämmer übrig. Vor drei Tagen hat mich meine Bankerin gefragt, was ich dann tun würde. Ich musste ihr sagen, dass ich die Lämmer nur noch mit einem riesigen Verlust los werden könnte, wegen der dann geltenden Zölle würde ich von den Kunden auf dem Kontinent nur noch 30 bis 40 Pfund pro Lamm bekommen, statt jetzt bis zu 120 Pfund. Allein die Aufzucht hat mich aber pro Lamm schon 60 bis 70 Pfund gekostet. No Deal oder Deal – das bedeutet für mich etwa 30.000 Pfund Verlust oder 30.000 Pfund Gewinn."
John Fyall ist kein reicher Mann, kein Großgrundbesitzer. Das Land für seine Farm und seine Tiere hat er gepachtet. Der Brexit wird für ihn zu einer Existenzfrage. John Fyall will, dass die britische Regierung die Kündigung zurück zieht. Er wirft ihr vor, völlig unvorbereitet in den Brexit zu rauschen: "Es ist so, als würde die Regierung noch schnell im Schulbus die Hausaufgaben hinkritzeln, in der Hoffnung, dass der Lehrer das akzeptiert. So darf man nicht mit den Menschen umgehen, deren Existenz hier auf dem Spiel steht."
Farmer Fyall hat übrigens 2016, beim Referendum, nicht abgestimmt. Ein blöder Zufall, sagt er heute: "Ich habe in der Nacht davor einen Anruf bekommen. Ob ich einspringen könnte, als Kommentator bei der Highland-Show – einer der Kommentatoren war krank geworden. Also, bin ich mit meinem Auto dahin gerast und konnte nicht mehr abstimmen. Eigentlich gehe ich immer wählen – aber diesmal hatte ich gedacht, ist doch egal, die Mehrheit für den Verbleib ist doch ohnehin klar. Das war mein Fehler."
Schiffe liegen im Hafen der schottischen Stadt Aberdeen
Die schottische Stadt Aberdeen lebt von der Ölindustrie, die läuft aber schon jetzt nicht mehr so wie früher (AFP/ Andy Buchanan)
Fischer sind für den Brexit
50 Kilometer nördlich von Aberdeen, an der Nordseeküste entlang, liegt Peterhead: "Peterhead ist einer der größten Fischereihäfen in Europa. Wir haben hier gerade eine neue Fischauktionshalle gebaut. Wir verkaufen unseren Fisch in Großbritannien, aber auch in ganz Europa, nach Frankreich und nach Spanien", sagt Peter Bruce, der Skipper der Buddingrose, eines 24 Meter langen Kutters. Peter ist seit 1977 in der Nordsee unterwegs – die Fischerei sei sein Leben, sagt er:
Doch dieses Leben ist schwieriger geworden. Viele Fischer in Peterhead haben aufgegeben: "Wir hatten hier in Peterhead mal 120 Fischerboote, jetzt sind es 30. Immer noch viel, aber nur ein Viertel der früheren Flotte." Peter Bruce ist deshalb für den Brexit – er will raus aus der europäischen Fischereipolitik, die es den Fischern aus anderen EU-Ländern erlaubt, hier oben in der nördlichen Nordsee vor der schottischen Küste zu fischen.
"Wir haben die Franzosen, die spanischen Boote – die meisten EU-Nationen fischen hier bei uns. Wir haben die Kontrolle über unsere Fanggründe verloren. Der EU-Beitritt war für die britischen Fischer ein schlechter Deal."
Auch wenn die schottischen Fischer raus aus der EU wollen – die Schotten insgesamt würden heute wieder wie 2016 mit großer Mehrheit für den Verbleib in der EU stimmen. Sollte es zum Brexit kommen, dann will zumindest die Partei der schottischen Nationalisten, die SNP, noch einmal über die schottische Unabhängigkeit von Großbritannien abstimmen lassen.
Stewart Stevenson, der Peterhead, Banffshire und die Buchan Küste im Parlament in Edinburgh vertritt, sagt, seine Partei werde ein neues Unabhängigkeitsreferendum auf die Tagesordnung setzen, wenn sie sicher sei, es auch zu gewinnen: 2014 hatten sich die Schotten für den Verbleib in Großbritannien ausgesprochen. Damals drohte allerdings noch kein Brexit.