Freitag, 19. April 2024

Archiv

Schriftsteller und Publizist
Vor zehn Jahren starb Antonio Tabucchi

Sein mit Marcello Mastroianni verfilmter Roman "Erklärt Pereira" machte Antonio Tabucchi zu einem der bekanntesten italienischen Schriftsteller. Als Publizist schrieb er für die Verteidigung der Demokratie im Berlusconi-Italien. Heute vor zehn Jahren starb er in Lissabon.

Von Maike Albath | 25.03.2022
Der italienische Schriftsteller Antonio Tabucchi aufgenommen im Jahr 2000
Antonio Tabucchi - Foto aus dem Jahr 2000 (picture alliance / Effigie/Leemage)
Vecchiano, ein toskanisches Dorf bei Pisa im Spätsommer 2003. Der liebenswürdige Hausherr, Ordinarius für portugiesische Literatur an der Universität Siena, Übersetzer von Fernando Pessoa und einer der bekanntesten italienischen Schriftsteller, erläutert sein Selbstverständnis.
„Das Leben ist ein unkontrollierbares Universum, eine Art Chaos ohne Form und letztendlich nicht zu erklären. Wir rationalisieren es, um es erzählbar zu machen und zu verstehen."
Antonio Tabucchi, unablässig rauchend und Espresso trinkend, wedelt mit den Händen durch die Luft. Seine Erzählungen und Romane besitzen etwas Schwereloses und kreisen immer wieder um die Rätselhaftigkeit der Existenz - und für ihn hatte "jeder, der schreibt, dieses Problem. Wer sind wir, wenn wir schreiben? Sind wir ‚wir‘ oder sind wir ‚die anderen‘?“

Durchbruch mit "Notturno indiano"

Sein melancholischer Reiseroman "Indisches Nachtstück" von 1984, in dem sich ein Mann auf die Suche nach einem verschwundenen Freund begibt, machte Tabucchi in Italien auf einen Schlag bekannt. In seiner elegant komponierten Prosa scheint es keine endgültige Wahrheit zu geben: Jede Antwort wirft neue Fragen auf, jede Lösung birgt einen mysteriösen Kern, jede Reise führt in ein Labyrinth. Etwas Ungefähres, Tastendes unterläuft die präzisen Beobachtungen, was durch den häufigen Gebrauch des Konjunktivs noch verstärkt wird.
In dem Roman "Erklärt Pereira" von 1994 kommt dann ein anderer Tabucchi zum Vorschein: knapper, direkter, politischer. Es geht um einen Lissaboner Kulturredakteur während der Diktatur, der plötzlich seine moralische Pflicht zur Opposition erkennt.
Geboren wurde Antonio Tabucchi am 24. September 1943 und wuchs inmitten einer Großfamilie auf - mit "sehr archaischen Traditionen", wie er sagte, "die mit der toskanischen Kultur verknüpft waren. Ich erinnere mich noch an ein sehr lebendiges Dorfleben. Auch an die Sonntagnachmittage in den Museen von Pisa und Florenz, aber vor allem an Besuche der älteren Dorfbewohner, die zu meinem Großvater kamen und die ‚Göttliche Komödie‘ auswendig rezitierten.“

Von Pinocchio inspiriert

Auch die haarsträubenden Lügen des rotzfrechen Pinocchio gehörten zum familiären Kulturgut, denn das Holzmännchen mit der langen Nase ist ein typischer Toskaner – obrigkeitsskeptisch und aufmüpfig. Genau diese Eigenschaften seiner Landsleute inspirierten Antonio Tabucchi zu seinem Debüt "Piazza d’Italia", einem Schelmenroman voller Anekdoten, den er 1975, längst Familienvater und Universitätsassistent, veröffentlichte.
Denn Schriftsteller zu sein, so Tabucchi, "ist kein Handwerk, auch kein Beruf. Vielleicht habe ich deshalb nie mit dem Unterrichten an der Uni aufgehört. Ich habe immer einen Beruf ausgeübt. In meinen Pass habe ich als Berufsbezeichnung „Universitätsprofessor“ eintragen lassen, Schriftsteller könnte ich niemals sagen, das ginge nicht. Es ist mit den innersten Eigenschaften eines Menschen verbunden, eben eine ontologische Tatsache. Im Alltag bin ich ganz einfach ein Lehrer. Ich unterrichte gern Literatur, man kann davon leben und davon profitieren.“

Tabucchi als politischer Publizist

Während der Regierungszeit von Silvio Berlusconi zwischen 1994 und 2011 übernahm Tabucchi mit Zeitungsartikeln, die häufig auch in internationalen Blättern erschienen, die Rolle eines öffentlichen Mahners. Mit großer Sorge beobachtete er die Aushöhlung der Demokratie, die Beschädigung der Institutionen und den Siegeszug des Populismus. Zwischen Portugal, Frankreich und Italien hin und her pendelnd, trieb ihn dennoch weiter das Erfinden von Geschichten um: "Ich glaube, dass die Lüge eine einzige ist. Aber Wirklichkeiten gibt es unzählige.“
Und die gilt es zu erzählen. Im Frühjahr 2012 erkrankte Antonio Tabucchi an Krebs und starb am 25. März. Die Helden seiner Erzählungen und Romane bahnen sich bis heute traumverloren und unbeirrbar ihren Weg.