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Belarus - Texte und Stimmen (3/7)
„Ich sah plötzlich ganz andere Menschen“

Im August 2020 war die belarussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch zu den Literaturtagen in Lana eingeladen. Doch wegen der Proteste kam es nicht zu der Reise. Stattdessen aber zu einem intensiven Gespräch per Videokonferenz mit der Literaturnobelpreisträgerin über ihre Arbeit.

Swetlana Alexijewitsch im Gespräch mit Ganna Maria Braungardt nach Fragen von Christine Vescoli | 26.12.2020
Swetlana Alexijewitsch, Schriftstellerin aus Belarus zu Besuch beim Bundespräsidenten Steinmeier im Schloss Bellevue
Für jedes Buch spricht die belarussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewisch mit 600 bis 700 Menschen (picture alliance/dpa | Bernd von Jutrczenka)
"Gestern gab es eine Demonstration. Wir wollen, dass unser Diktator geht, und weil wir das auf friedlichem Weg erreichen wollen, damit keine jungen Menschen sterben - denn sie sterben immer als erste -, deshalb gab es gestern bei uns eine Demonstration, wie in den letzten Tagen. Sie hatten Kinder dabei, die Frauen trugen weiße Kleider, viele Männer weiße Hemden, viele hatten Blumen in der Hand. Davor waren ja schon Frauen in weißen Kleidern und mit Blumen durch die Stadt gezogen. Als ich diese Menschen sah, dachte ich, dass ich früher geglaubt hatte, die Menschen seien Sklaven, unfähig, sich aus ihrer Gefangenschaft, der totalitären Psychologie zu befreien. Doch nun sah ich: Wir brauchten einfach 30 Jahre, um ganz andere Menschen zu entdecken." Swetlana Alexijewitsch im August 2020 über den Wandel im Bewusstsein der Menschen in Belarus.
Swetlana Alexijewitsch, 1948 in der Ukraine geboren und in Weißrussland aufgewachsen, arbeitete als Reporterin. Über die Interviews, die sie dabei führte, fand sie zu einer eigenen literarischen Gattung, dem dokumentarischen "Roman in Stimmen". Alexijewitschs Werke wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt, und sie wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem National Book Critics Circle Award (2006), dem polnischen Ryszard-Kapuciñski-Preis (2011), dem mitteleuropäischen Literaturpreis Angelus (2011). 2015 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur.

Belarus - Texte und Stimmen

Eine Reihe in sieben Teilen

Ljudmila Ulitzkaja an Swetlana Alexijewitsch, 10. September 2020:
"Liebe Swetlana!
Belarus erlebt heute das, was aller Wahrscheinlichkeit nach auch Russland in einiger Zeit wird erleben müssen. Für uns alle sind die Ereignisse der letzten Wochen in Belarus ein Modell unserer nahen Zukunft. Und zwar ein gutes Modell. Es hat sich gezeigt, dass ein ruhiges und, wie uns immer schien, recht träges Volk auf den unheilvollen Appetit des Regimes, verkörpert von einem völlig unfähigen Diktator, sehr wachsam reagiert. Es hat auf eine äußerst würdige Art und Weise seine Meinung kundgetan bei Demonstrationen von zigtausend Menschen auf dem Platz vor der Präsidentenresidenz. Friedlichen Demonstrationen, ohne zerschlagene Scheiben und brennende Autos.
Diesem Protest liegt, wie mir scheint, ein Gefühl der eigenen Würde zugrunde, von Menschen, die sich nicht mehr abfinden wollen mit dem Regime eines vor unbegrenzter Macht Durchgedrehten - eines beschränkten und ungebildeten Mannes.
Die Ereignisse in Belarus haben mein idyllisches Bild vom Leben zerstört. Es ist klargeworden, wie das Regime die Zähne zeigt, wenn es sich in seiner unbegrenzten und unrechtmäßigen Existenz bedroht fühlt.
So erstaunlich es auch sein mag: Die belarussischen Bürger reagieren sensibler auf die Unmoral und die Schamlosigkeit des Regimes. Die eigene Würde überwiegt nun Trägheit, Angst und eben jenes soziale Faulenzen, das das Leben in weiten Teilen des gesamten postsowjetischen Raums prägt.
Wir alle - ich spreche von meinen Freunden und Gleichgesinnten, von denen es nicht wenige gibt - verfolgen höchst gespannt alle Nachrichten, die derzeit aus Belarus kommen. Wir wissen von den Verhaftungen und von den neuen, wunderbaren Führungsfiguren. Und uns ist klar, dass in eurem Land ein Ereignis stattgefunden hat, das morgen auch in Russland stattfinden kann.
Ich sende dir herzliche Grüße, wünsche Gesundheit und Kraft, wünsche dir, dass du in einem Land lebst, das frei ist von einem dummen und ekelerregenden Regime. Und mir, meine Liebe, wünsche ich dasselbe.
Ich umarme dich
Ljusja Ulitzkaja"
Ein eindrücklicher Gruß an die Literaturnobelpreisträgerin und vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin, abgedruckt im gerade veröffentlichten Buch "BELARUS! Das weibliche Gesicht der Revolution".
Eigentlich war die belarussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch im August 2020 eingeladen bei den Literaturtagen in Lana, wo erlesene Literaten seit vielen Jahren der Gedächtniskultur und damit zusammenhängenden Fragen des literarischen Schaffens nachgehen. Doch es kam nicht zu einer Reise von Minsk nach Südtirol. Denn genau in diesen Tagen formierte sich der Protest gegen die manipulierte Wahl in Belarus. Und Swetlana Alexijewitsch blieb in ihrer Heimat.
Stattdessen aber kam es zu einem intensiven Gespräch per Videokonferenz mit den Literaturtage-Veranstalterinnen Ganna Maria Braungardt und Christine Vescoli.
Hören Sie heute in der Sendereihe Swetlana Alexijewitsch über den Wandel im Bewusstsein der Menschen in Belarus und über ihre Arbeit.
Swetlana Alexijewitsch: Sie alle wissen vermutlich von den gegenwärtigen Ereignissen in Belarus; hier findet eine Revolution statt und die Herrschenden und die Polizeikräfte, die in den ersten Tagen Handgranaten auf friedliche Demonstranten warfen und anschließend rund 7.000 Menschen ins Gefängnis sperrten und sie dort schlimmsten Misshandlungen aussetzten, sie schlugen und erniedrigten, versuchen, die Erinnerung zu zerstören. Diesen Menschen wird die Behandlung im Krankenhaus verweigert, man will ihre Verletzungen nicht dokumentieren, ihre Berichte nicht anhören.
Die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch.
Historiker: "Alexijewitsch ist eine Symbolfigur für ein neues Belarus"
Heute muss die belarussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch zum Verhör. Sie ist die berühmteste Stimme der Opposition. In ihrer Vorladung sieht der Osteuropahistoriker Ingo Petz eine Warnung des Lukaschenko-Regimes.
Auf diese Weise soll die Erinnerung getilgt werden, und in den vielen Jahren, seit ich mich mit Erinnerung beschäftige, habe ich noch einmal so deutlich wie nie gesehen, wie schlimm es ist, die Erinnerung zu verlieren, wie wichtig es ist, sie zu bewahren. Wenn wir das nicht tun, ist es, als hätte das alles nicht stattgefunden. In einer Situation wie heute verlangt das Mut und Zivilcourage, von dem Arzt, der einen Verletzten behandelt und die Erinnerung daran bewahrt, von dem Menschen, der das erlebt hat und davon berichtet. Erinnerung ist fast so etwas wie ein lebendiger Organismus, dem man ehrlich dienen muss, um nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, was uns widerfahren ist.
Ganna Maria Braungardt: Vielen Dank Frau Alexijewitsch, damit kommen wir gleich zur ersten Frage: Sie werden als begnadete Zuhörerin, Stimmensammlerin und große Chronistin bezeichnet, die Erfahrungen von Menschen in Extremsituationen aufzeichnet und erzählt. Wie sehen Sie sich selbst?

"Ich bin unter Tätern und Opfern aufgewachsen"

Alexijewitsch: Ich denke, ich versuche Literatur zu schaffen aus dem Leben, aus lebendigen Gesprächen, aus menschlichen Gedanken. Literatur entsteht dabei vor meinen Augen. Ich unterhalte mich mit einem Menschen, wir leisten gemeinsam diese ungeheure Arbeit, ich muss ihn dazu bringen, aus sich das herauszuholen, was Literatur ist.
Ich suche nach dem ganz normalen Menschen, der in die Mühlen der Geschichte geraten ist, in die repressive Maschinerie der Geschichte, denn unsere Geschichte war immer repressiv und ist es leider bis heute. Diesem Menschen höre ich zu, der Täter und Opfer war, und das ist nicht immer voneinander zu trennen. Ich bin unter Tätern und Opfern aufgewachsen, und dieses Gefühl kennt wohl jeder noch heute, jeder, der hier lebt. Denn wenn Sie heute jemanden fragen, der bei uns in Belarus zu einer friedlichen Demonstration gegangen ist und in einen Gefängniswagen gesperrt wurde, erzählt er, wie er behandelt wurde: ein Sack über den Kopf, wie früher beim NKWD, er bekam kaum Luft, die schlimmsten Misshandlungen, von denen wir glaubten, das liege hinter uns. Gogol und Tschechow, das wird nicht überliefert, aber ein Sack über den Kopf, das wird weitergegeben. Ich denke daran, meinem Buch "Secondhandzeit" ein weiteres Kapitel hinzuzufügen, genau darüber, noch einmal darüber: Warum verschwindet das nicht aus unserem Leben?
Braungardt: Vier Ihrer Bücher beschäftigen sich mit Krieg und Zerstörung, in einem Buch geht es um die Unfähigkeit des postsowjetischen Menschen zu Freiheit. Wie wählen Sie Ihre Themen aus?
Alexijewitsch: Meine Themen zu wählen, ist nicht schwierig. Beim ersten Buch war mir das noch nicht bewusst, aber dann führte die Geschichte selbst mich von Buch zu Buch. "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" ist ein Buch über Frauen im Krieg, über Heldinnen, über die nicht gesprochen wurde; den Sieg nahm der Staat für sich in Anspruch, die Männer nahmen ihn in Anspruch. Dann kamen die "Zinkjungen", dann das Tschernobyl-Buch. Ich folgte also immer den neuralgischen Punkten unserer Geschichte. So entstand ein Bild, eine Enzyklopädie der roten Utopie, dessen, was wir Sozialismus nennen. Ein Bild des häuslichen Sozialismus. Mich interessierte, wie der Sozialismus in der Seele des Menschen wirkte.
Erinnerung ist eine ganz eigene Materie. Ein junger Mann, der in Afghanistan gewesen war und dessen Kopf fast nur noch aus Metall bestand, so viel hatten die Ärzte an ihm operieren müssen, dieser junge Mann sagte mir einmal, zwei Dinge seien für ihn unbegreiflich: Blut und die Erinnerung. Als ich ihn bat, sich an bestimmte Dinge zu erinnern, sagte er, ich möchte das gern vergessen und ich habe es vergessen. Dann überrollte es ihn wieder, und nach ein paar Tagen rief er mich an.
In den ʹ90er-Jahren wollten viele Menschen das, was sie mir erzählt hatten, ergänzen, ändern, weil sie aus dem Erlebten nun einen ganz anderen Sinn herauslasen. Die Erinnerung verändert sich also mit dem Menschen, mit seinem Leben. Der Mensch legt alles hinein, was er erlebt, was er gelesen und gesehen hat, ob er glücklich war oder unglücklich, welche Zeitungen er liest und so weiter.
Wenn jemand seine Erinnerungen erzählt, ist er ein Schöpfer. Er erfindet nicht, er hebt alles Erlebte in seine Gegenwart, das ist kein Erfinden.
Braungardt: Und darin liegt die Wahrheit? In der Summe all dessen?
Alexijewitsch: Ich finde die Wahrheit aus Hunderten Stimmen. Für jedes Buch spreche ich mit 600 bis 700 Menschen und die Wahrheit entsteht im Schnittpunkt. Wo sich diese Hunderte von Erzählungen überschneiden, da entsteht ein Bild der Zeit. Ein einzelner Mensch ist nie im Besitz der Wahrheit, im Besitz der Wahrheit sind alle Menschen, die eine bestimmte Zeit erlebt haben.

"Die Menschen erleben ständig Leid"

Braungardt: Wie bringen Sie Menschen, die ungeheures Leid erfahren haben, zum Erzählen?
Alexijewitsch: Leiden ist ja ein Bestandteil unserer Kultur, in unserem Land existiert ein Kult des Leidens, Leiden ist im Leben jedes Einzelnen immer präsent, und die Menschen sind es gewohnt, davon zu erzählen. Wenn sie in ein beliebiges Haus gehen, erzählt man ihnen von der Großmutter, dem Großvater. Auch heute - die jungen Menschen, die heute ins Gefängnis geworfen werden - das ist etwas Lebendiges, es gehört zum Leben. Darüber denken die Menschen immer nach, und davon können sie erzählen, das ist eine regelrechte Kunst bei uns. Wenn ich zu jemandem nach Hause komme, muss ich vor allem Mitgefühl haben und demjenigen, zu dem ich komme, helfen, einen neuen Sinn in dem von ihm Erlebten zu finden. Es geht nicht um pure Fakten - ich war da und da, habe so und so viele Verwundungen oder ähnliches – nein, es geht darum, in all dem einen Sinn zu finden. Was geschieht mit uns? Warum gelingt es uns nicht, unser Leiden in Freiheit umzuwandeln?
Ich bin auf dem Land aufgewachsen; meine Kindheit und Jugend habe ich auf dem Land verbracht, in einem ukrainischen Dorf bei meiner Großmutter, die ich sehr liebte, und später in einem belarussischen Dorf, der Heimat meines Vaters. Und natürlich hörte ich ständig die Frauen weinen. Diese Dörfer nach dem Krieg waren Orte ohne Männer, ohne Liebe. Die Frauen redeten oft darüber, wie sie ihre Männer in den Krieg verabschiedet hatten; das waren Erinnerungen an ihre Jugend, denn es waren ja junge Männer.
Der Tod war ständig präsent, und das waren sehr starke Eindrücke für mich. Ich denke, meine Suche nach meinem Weg in der Literatur hat auch damit zu tun. Ich wollte vermitteln, wie stark die Empfindungen waren, die diese Erzählungen dieser einfachen Frauen vom Lande in mir weckten. Meine Eltern waren beide Lehrer, in unserem Haus gab es viele Bücher, aber die Bücher, selbst die Klassiker, weckten nicht diese starken Empfindungen, diese Erschütterung, wie die mündlichen Erzählungen.
Die Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch kommt am 10. Oktober 2015 in Berlin in die Bundespressekonferenz.
Nobelpreisträgerin Alexijewitsch: Literatur, Journalismus oder Geschichtsschreibung?
Es gibt keine Biografie, keine populäre Monographie und keine Doktorarbeit über sie. Die weißrussische Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch wurde wissenschaftlich kaum rezipiert. Die Zeitschrift Osteuropa widmet der Autorin eine Ausgabe – und vertritt eine eindeutige These zum Werk.
Braungardt: Wie finden Sie die Menschen für Ihre Gespräche, kommen sie von selbst zu Ihnen?
Alexijewitsch: Sie kommen nicht von selbst. Leid ist ja etwas Intimes, und niemand erinnert sich gern daran.
In jedem Haus kann man jemanden finden, der im Krieg war oder der noch die Stalin‑Zeit erlebt hat oder der in Afghanistan war, in einem Krieg in Afrika oder in Tschernobyl. Oder heute, da in den postsowjetischen Staaten autoritäre Regimes entstehen: Die Menschen erleben ständig Leid. Natürlich kann nicht jeder darüber sprechen. Aber manche Menschen besitzen eine emotionale Begabung. Mitunter wird durch zwei, drei Sätze einer Frau etwas lebendig. Wie zum Beispiel eine einfache Frau, Köchin, auf die Frage, was Krieg ist, antwortet: Wenn du einen Kessel Suppe für 200 Mann gekocht hast, und aus dem Gefecht kommen nur zwei, drei Mann zurück. Und sie können einander nicht in die Augen sehen. Wenn sie aus dem Gefecht zurückkommen, liegen sie im Gras und können einander nicht ansehen. Darauf kommt es an: Wenn du das, was der Mensch erlebt hat und was er heute erlebt, als ein Mysterium siehst. Die Existenz des Menschen auf der Erde folgt einem göttlichen Plan, und ich muss den Menschen helfen, dieses Mysterium zu entdecken.

"Wichtig ist eine neue Perspektive auf etwas"

Braungardt: Wie können wir uns Ihr Stimmensammeln konkret vorstellen? Arbeiten Sie mit Tonband, Video, schreiben Sie mit?
Alexijewitsch: Mitschreiben ist unmöglich, Gedanken und Gefühle sind sehr schnell, sehr beweglich, das kann ich nur mit einem Diktafon festhalten. Und wenn ich merke, ich habe genug Material, dann sind das Tausende Seiten, mein Zimmer ist dann übersät mit Manuskripten. Aus diesen Tausenden Seiten muss ich dann etwas schaffen, einen Stimmenroman, ein Buch, das all die Schrecken und Freuden unseres Lebens erfasst.
Braungardt: Wie bringen Sie das gesammelte Material dann in eine literarische Form? Belassen Sie die Töne so wie sie sind oder greifen Sie ein?
Alexijewitsch: Oft treffe ich mich mit einem Gesprächspartner nicht nur einmal, sondern 20‑mal oder mehr, anschließend schreibt er mich noch an oder ruft an. So ergeben sich 300 bis 400 Seiten für jeden - manchmal bleibt am Ende von all dem in dem Buch nur ein einziger Satz: Ich war noch so jung, als ich an die Front ging, dass ich im Krieg sogar noch gewachsen bin.
Alles andere ist nicht die Literatur des Lebens, nach der ich suche. Manchmal werden es drei, vier Seiten, dann treffe ich mich mit demjenigen sieben bis zehnmal, um dieses Stück Literatur mit Leben zu erfüllen. Und dann schälen sich auch magnetische Linien heraus, wie zum Beispiel im Buch "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" die Angst vorm Sterben oder die Angst vorm Töten, wenn man erst 16 Jahre alt ist. Eine Frau erzählt von ihrer Beobachtung, wie die Vögel litten, die Felder, die Erde. Man muss neue Räume entdecken, die es in der Literatur zuvor nicht gab. Einen neuen Blick finden.
Es geht nicht darum, möglichst viel Schreckliches zu erzählen, das ist keine Literatur. Wichtig ist eine neue Perspektive auf etwas, zum Beispiel auf den Krieg; wie eine Frau den Krieg sieht oder ein Kind, wie im Buch "Die letzten Zeugen".
Braungardt: Die Erzählerstimmen sind ja wahrscheinlich sehr unterschiedlich. Wie bringen Sie die einzelnen Stimmen in den Gleichklang eines Chores?
Alexijewitsch: Ich glaube, es war Glinka, der einmal über die Entstehung seiner musikalischen Werke schrieb, er nehme sie aus der ganzen Welt, alles habe seine eigene Musik: die Blätter der Bäume, der Wind, das Meer, eine Hochzeit auf dem Land. Das alles muss in deinem Bewusstsein in eine bestimmte Form gebracht werden, daraus entsteht deine Weltsicht.

"Die Arbeit war insgesamt nicht ungefährlich"

Braungardt: Waren die Recherchen mitunter gefährlich? Wurden Sie bedroht? Auf Ihr Afghanistan-Buch "Zinkjungen" gab es Reaktionen von interviewten Müttern, die sich nachträglich von ihren Aussagen distanzierten.
Alexijewitsch: Ja, weil sie Mütter waren; ihre Söhne waren umgekommen und man hatte ihnen gesagt, ihre Söhne seien Helden. Doch in den ʹ90er-Jahren hieß es plötzlich, ihre Söhne seien Mörder. Das ist sehr schwer zu ertragen.
Diese Mütter zogen vor Gericht; es gab einen Prozess, wahrscheinlich mit der Absicht, mich strafrechtlich zu verfolgen. Ehemalige Afghanistan-Soldaten bedrohten mich, auch der KGB, überhaupt der gesamte Repressionsapparat, der in den Neunzigern noch existierte. Das ganze herrschende System mochte mich nicht, das begann schon mit meinem ersten Buch. "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" wurde drei Jahre lang nicht gedruckt. Ich verlor wegen dieses Buches meine Arbeit, weil ich angeblich mein großes Land verleumdete, die große Idee. Die Arbeit war natürlich insgesamt nicht ungefährlich. Aber die Arbeit eines Schriftstellers, wenn er sie ernst nimmt, ist in unserer unvollkommenen Welt nie ungefährlich, bis heute. Ich habe ja vor, mein Buch "Secondhandzeit" um ein Kapitel zu erweitern. Darüber zu schreiben, wie mit großer Brutalität gegen friedliche Demonstranten vorgegangen wurde, die festgenommen, in Gefängnistransporter verladen und grausam misshandelt wurden. Das ist relativ gefährlich, aber ich will diese Fortsetzung unbedingt schreiben.

"Es ist eine schwierige Aufgabe, Schrecken und Chaos zu Literatur zu machen"

Braungardt: Zurück zur Frage der Erinnerung. Gedächtnis wird missbraucht, verfälscht, instrumentalisiert. Wie steht es um die Gedächtniskultur in Belarus und Russland?
Alexijewitsch: Belarus und Russland sind postsowjetische Staaten. Sie waren totalitär und sind es teilweise noch heute; und was die Erinnerung angeht, es heißt ja: Bei uns lässt sich nicht nur die Zukunft schwer vorhersagen, sondern auch die Vergangenheit. Auch die Vergangenheit ist umkämpft - ebenso wie die Zukunft. Unter den Bedingungen der entstandenen totalitären Systeme und ihrer Vorstellungen von der Rolle des Menschen, von dem, was bei uns geschieht, ist das natürlich ein ständig umkämpftes Feld.
Braungardt: Sie haben einmal gesagt, Sie haben Angst vor Ihren eigenen Büchern, wie meinen Sie das?
Alexijewitsch: Ich bin ja auch nur ein ganz normaler Mensch, und all das Schreckliche, was ich mir angehört und in meine Bücher aufgenommen habe, zum Beispiel Afghanistan - mir wurde eine Ausstellung gezeigt, Waffen, die den Mudschaheddin abgenommen wurden. Damit sollte deutlich werden, dass die Vereinigten Staaten und andere die Mudschaheddin unterstützten. Ich erinnere mich an meinen ersten Eindruck: Ich war erschüttert, wie viel Zeit der Mensch in die Erschaffung von Waffen zu seiner Vernichtung gesteckt hat. Diese Waffen waren schön! Abgesehen vom eigentlichen Zweck dieser Gegenstände, der Tötung von Menschen, waren sie einfach schön. Ich weiß noch, mir rutschte das heraus, wie schön diese Dinge sind, wie viel Zeit und Sorgfalt darin stecken. Zu der Zeit war gerade meine Schwester an Krebs gestorben, und ich fragte mich ständig, warum wird kein Medikament gegen den Krebs entwickelt, wofür investiert der Mensch so viel Zeit, wozu all die Raketen und so weiter, und nun sah ich wofür. Ein Oberstleutnant, der meine Äußerung über die Schönheit der Waffe gehört hatte - es war eine italienische Mine, sie hatte eine schöne Form und war hell angestrichen, sah aus wie ein Weihnachtsschmuck - er sagte kühl und hochmütig: Was versteht eine Frau schon vom Krieg! Wer auf diese Mine tritt, von dem bleibt nur ein halber Eimer Fleisch übrig.
Nach einigen Tagen rief er mich in meinem Hotel an: Willst du sehen, was von den Jungs übrig ist, die mit ihren Panzerwagen auf eine solche Mine gefahren sind? Die werden mit Löffeln von der Panzerung abgekratzt, um den Müttern wenigstens etwas DNS schicken zu können.
Es herrschten fast 50 Grad Hitze, sollte ich hingehen oder nicht? Zum einen wollte ich dem Mann beweisen, dass ich das durchaus kann, zum anderen bin ich ja mit der russischen Kultur aufgewachsen; man muss bis zum bitteren Ende gehen, wenn man über etwas schreibt. Also ging ich hin. Und natürlich - ich bin ja kein Superman - fiel ich bei dem Anblick in Ohnmacht. Von der Hitze, von dem, was ich gesehen hatte. Und wieder zu Hause musste ich das alles verarbeiten, meine Erlebnisse, die Berichte, die ich dort aufgezeichnet hatte, meine Empfindungen, und das alles zu Literatur machen. Es ist eine schwierige Aufgabe, Schrecken und Chaos zu einem Teil unserer vernünftigen Welt zu machen, zu Literatur.
Die erste belarussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch im Portrait
Swetlana Alexijewitsch: "Wir sind Gefangene einer Kriegskultur"
Die Literaturnobelpreisträgerin schreibt seit fast 40 Jahren über die Ex-Sowjetzeit und deren Folgen. Jetzt könne sie das Leid nicht mehr sehen, sagt sie – und arbeitet deshalb an einem Buch über die Liebe.
Braungardt: Zurzeit schreiben Sie ein Buch über die Liebe, haben Sie genug von Leid und Schrecken?
Alexijewitsch: Es gibt nur zwei Dinge, die dem Maß des Menschen entsprechen, über die er nicht hinausgeht: Das sind die Liebe und der Tod. Mir ist klargeworden, dass ich mich mit diesen beiden Dingen noch beschäftigen möchte, diese beiden Bücher möchte ich noch schreiben.
Braungardt: Gehen Sie dabei gleich vor wie bei Ihren früheren Büchern? Mit Hunderten von Gesprächen?
Alexijewitsch: Ja genau, auch hier schaffe ich Literatur aus dem Leben selbst, aus Erzählungen von Menschen. Es werden ebenfalls Stimmenromane sein.

"Ich habe mich in mein Volk verliebt"

Braungardt: Es wird also auch wieder eine sehr langwierige Arbeit, mit vielen Stimmen. - In Ihrem Buch "Secondhandzeit" beschreiben Sie die Unfähigkeit des russischen Menschen zur und seine Verzweiflung an der Freiheit. Wie äußert sich diese Unfähigkeit und wohin führt sie?
Alexijewitsch: Gestern gab es eine Demonstration. Wir wollen, dass unser Diktator geht, und weil wir das auf friedlichen Weg erreichen wollen, damit keine jungen Menschen sterben - denn sie sterben ja immer als erste -, deshalb gab es gestern bei uns eine Demonstration, wie in den letzten Tagen. Diesmal waren sehr viele Menschen auf die Straße gegangen, rund 300.000. Als ich die Gesichter dieser Menschen sah - ich wohne im sechsten Stock - und ich sah aus dem Fenster, dass alle Hügel rund um die Stadt voller Menschen waren. Sie hatten Kinder dabei, die Frauen trugen weiße Kleider, viele Männer weiße Hemden, viele hatten Blumen in der Hand. Als ich diese Menschen sah, dachte ich, dass ich früher geglaubt hatte, die Menschen seien Sklaven, unfähig, sich aus ihrer Gefangenschaft, der totalitären Psychologie zu befreien. Doch nun sah ich: Nein, das sind keine Sklaven, sie kennen die Freiheit, sie wollen Freiheit, sie wollen nur nicht so leicht ihr Leben hergeben, sie wollen sich nicht sinnlos vor eine Kugel werfen. Ich dachte, unsere Überzeugung, der russische Mensch sei unfähig zur Freiheit, stimmt nicht. Wir brauchten einfach 30 Jahre, um ganz andere Menschen zu entdecken.
Braungardt: In diesem Sinne hat sich also ein Wandel vollzogen im Bewusstsein der Menschen?
Alexijewitsch: Ja, es hat ein Wandel stattgefunden im Bewusstsein der Menschen. Tschechows Ausspruch, der Mensch müsse den Sklaven Tropfen für Tropfen aus sich herauspressen, wurde bei uns ja umformuliert, nicht tropfenweise, sondern eimerweise. Das haben die Menschen inzwischen getan, sie reisen, sie sehen die Welt, sie sind nicht mehr auf eine einzige Sprache beschränkt, sie sitzen vor dem Computer und haben auch so die Welt vor sich. Ich sah plötzlich ganz andere Menschen, ich habe mich in mein Volk verliebt.
Braungardt: Das brauchte also einfach seine Zeit, und diese Zeit ist nun gekommen, ja?
Alexijewitsch: In den ʹ90er-Jahren liefen wir auf die Straße und riefen Freiheit! Freiheit!, aber keiner von uns wusste, was das eigentlich ist. Wir dachten, morgen kommt die Freiheit, und dann herrscht ein freies Leben. Aber woher sollte das kommen, es gab keine freien Menschen, doch ein freies Leben können nur freie Menschen gestalten. Und ich glaube, solche Menschen werden nun geboren, schon die zweite Generation wird nun geboren.

"Wir wollen kein Blutvergießen"

Braungardt: Hat damit auch Ihre Haltung zum Leiden zu tun? Unendliche Fähigkeit zum Leiden ist ein Topos der russischen Kultur. Sie halten davon wenig, warum?
Alexijewitsch: Nehmen wir Schalamow, seinen Streit mit Solschenizyn. Solschenizyn meinte, das Leiden im Lager mache den Menschen besser, Schalamow widersprach: Die Lagererfahrung ist den Menschen zu nichts nütze, sie macht ihn nicht besser, daraus lernt er nichts, sie macht ihn nur schlechter. Deshalb habe ich gesagt, ich habe Angst vor meinen eigenen Büchern. Etwas, das man schwer verarbeiten kann, ist das Wissen, wie schrecklich der Mensch sein kann. Er kann wunderbar sein, aber auch sehr schrecklich. Darum glaube ich, dass Leiden den Menschen verdirbt, ihn zermürbt. Er denkt dann nicht mehr an das Glück, er denkt nur daran, wie er sich gegen das endlos Schreckliche wehren kann. Es ist schade, dass der Mensch so viel Zeit dafür opfern muss, mit dem Schrecklichen umzugehen, damit fertig zu werden.
Braungardt: Zum Schluss noch eine politische Frage zur aktuellen Lage: Wie schätzen Sie die derzeitige Situation nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen in Belarus ein? Sie sprachen ja von einer Revolution, was erwarten Sie nun für Ihr Land?
Alexijewitsch: Das ist sehr schwierig. Wir möchten gern den Gandhi-Weg gehen, friedlich, doch der Präsident ist nicht der Mann, der bereit wäre zum Dialog mit der Gesellschaft, mit der Zeit, mit den neuen Menschen, die es jetzt gibt. Gerade heute hat er gesagt: Ich gehe nur, wenn ihr mich umbringt. Er hat sich das Land angeeignet, alles, was wir haben, und es ist eine große Aufgabe für unsere Gesellschaft, die sich von der besten Seite gezeigt hat, diese Situation ohne Blutvergießen zu bewältigen. Wir wollen kein Blutvergießen. Selbst in den ersten zwei Tagen, als die Männer, die wie Cyborgs aussahen mit ihrer schwarzen Kleidung, die Menschen verprügelten, auf Menschen schossen, Blendgranaten warfen, selbst da gingen die Menschen mutig auf die Straße. Aber auf diese Brutalität waren sie nicht vorbereitet.
Braungardt: Sehen Sie eine Perspektive?
Alexijewitsch: Das ist schwer zu beantworten. Ich habe mich selbst an Lukaschenko gewandt, ihn aufgefordert, zu gehen ohne Blutvergießen - obwohl da schon Blut geflossen war, es waren schon Menschen gestorben: Stoß das Land nicht in den Abgrund eines Bürgerkriegs.
Braungardt: Danke für das Gespräch.
Das Gespräch mit Swetlana Alexijewitsch führte Ganna Maria Braungardt nach Fragen von Christine Vescoli für die Literaturtage Lana im August 2020. Auf YouTube finden Sie ein Video dieses Gesprächs, das wir für den Deutschlandfunk gekürzt haben.